Raymond Dequin
Die Scharia geht nicht auf Mohammed zurück
Zu: Benjamin Jokisch, Islamic Imperial Law, Harun-Al-Rashid’s Codification Project, Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients Band 19, Berlin, Walter de Gruyter, 2007, 757 Seiten, ISBN 978-3-11-019048-6, 189

Dieses Buch befasst sich mit der Blütezeit des Arabischen Reiches zur Zeit der Herrschaft von Harun al-Rashid (laut Traditionsliteratur (TL)[1] 786–809), als der Barmakide Yahya ibn Khalid als Wesir in Bagdad die Regierungsgeschäfte führte (TL 786–803). Der Autor beweist zunächst in beträchtlichem Detail die Herkunft des islamischen Rechts aus dem römischen Recht. Sodann beschreibt er den dazugehörenden kulturellen Hintergrund: Die umfassende Übersetzungstätigkeit, das Wirken von namentlich fassbaren Griechen in den Hauptstädten beider Reiche und den allgemeinen Aufschwung der Kultur im Bagdad der Barmakiden. Dies führt ihn schließlich zu Schlussfolgerungen von noch viel größerer Tragweite, ergibt sich doch, dass das Byzantinische und das Arabische Reich damals noch wie Teile eines einzigen Kulturraums miteinander in Verbindung standen, dessen Ausläufer sich im fernen Westen bis zum Fränkischen Reich erstreckten.

Der Gedanke, dass das islamische Recht und damit die Scharia auf die eine oder andere Weise eine Weiterentwicklung des römischen Rechts waren, ist nicht neu. Aber solange der Rezeptionsweg nicht bekannt war, konnte jeder diese Herkunft auf seine Weise mit der traditionellen Überlieferung aussöhnen, dass das islamische Recht eine Verschriftlichung einst mündlich weitergegebener Praxis gewesen oder gar durch den Mund des arabischen Propheten gegangen sei. Jokisch hat nun endeckt, dass es zwischen einer ganz bestimmten Kodifikation des Justinianischen Rechts, der zwischen 630 und 650 auf griechisch erstellten „Digestsumma“ des älteren Anonymus sowie der um 620 erstellten „Glosse“ des jüngeren Anonymus (Enantiophanes) einerseits und den Werken des laut Traditionsliteratur aus Wasit im Süden des Zweistromlandes stammenden Juristen Muhammad Al-Shaybani andererseits Übereinstimmungen gibt, die nur durch eine unmittelbare Übernahme durch Übersetzung zu erklären sind.

Dieser Nachweis ist nicht einfach, liegen doch die Texte beider Sprachräume, des griechischen wie des arabischen, nur in Handschriften späterer Zeiten vor, die gewisse Zusatzannahmen nötig machen. Der Autor, der sowohl orientalische Sprachen als auch Islamwissenschaft, Politologie und Rechtswissenschaft studiert und mit Byzantinisten interdisziplinär zusammengearbeitet hat, war hierfür bestens vorbereitet. Er geht seinen Gegenstand auf 250 Seiten mit beträchtlicher Breite und Umsicht an. Die Zahl der Einzelhinweise ist beeindruckend und lässt kaum noch einen anderen Schluss zu. Um dies nachvollziehen zu können, muss sich der Leser in das Mängelrecht im Sklavenhandel hineindenken. Der Ursprung dieses Rechtsgebiets ist auf römischen Sklavenmärkten zu suchen, auf denen Sklaven bei Versteigerungen vorgestellt und verkauft wurden. Dabei waren die Verkäufer gehalten, Mängel bekannt zu geben, andernfalls das Geschäft rückabgewickelt werden konnte. Jokisch vergleicht eingehend 14 Rechtssätze aus dem römischen und dem arabischen Mängelrecht von denen hier zwei herausgegriffen seien: In der griechischen Vorlage geht es z.B. um Sklaven, die nicht zu ihrem Herren zurückkehren. Es wird zwischen solchen unterschieden, die nur kurze Zeit ausbleiben, weil sie bummeln, und solchen, die eines Tages möglicherweise ganz ausbleiben, weil sie schon einmal versucht hatten wegzulaufen. Im islamischen Recht wurde daraus eine Unterscheidung zwischen Unzuverlässigkeit bei jungen und bei erwachsenen Sklaven. Wo der griechische Text zwischen der Dauer des Ausbleibens unterscheidet, stellt der arabische aufgrund eines Übersetzungsfehlers auf das Lebensalter ab. Ein weiteres Beispiel ist die Linkshändigkeit. Im römischen Recht war dies kein Mangel. Allerdings war die Überschrift dieses Rechtssatzes in der Digestsumma etwas zu knapp geraten. Sie ist dort nur verständlich, wenn man den vorhergehenden Rechtssatz mit berücksichtigt: „Ein Sklave, der kehlig spricht oder hervortretende Augen hat ist gesund [...] Ebenso der Linkshänder“. In der arabischen Fassung wurde der Zusammenhang aufgelöst und aus der zu knappen Inhaltsangabe darauf geschlossen, dass auch Linkshändigkeit ein Mangel sei.

Solche Übertragungsfehler weisen dem Philologen den Weg. Denn die zahlreichen inhaltlichen und formalen Übereinstimmungen zwischen dem römischen und dem islamischen Recht lassen für sich noch keine genaue Aussage zu, wann und wie die Übernahme erfolgt war. Erst Fehler versehen den Fluss der Überlieferung mit einer unverwechselbaren Signatur. Sie erlauben Jokisch, ein groß angelegtes Übersetzungsprojekt zu rekonstruieren, das er zwischen 786 und 803 datiert, und das von zwei Juristen im Auftrag der Herrschaft betrieben wurde, Muhammad al-Shaybani (TL etwa 750–805) und Abu Yusuf Yakub al-Kufi (TL 731–798). Was für einzelne Rechtssätze gilt, gilt auch für die Begrifflichkeit und Struktur des Gesamtwerks. Lang ist die Liste arabischer Fachbegriffe, deren Herkunft Jokisch aus dem Griechischen oder Lateinischen herleitet. Selbst Name und Aufbau des Gesamtwerks finden sich in dem Werk Al-Shaybanis wieder.

Zwar stellte die unter Aufsicht von Al-Shaybani und Abu Yusuf gefertigte Übersetzung eine de-facto-Kodifizierung dar, da man davon ausgehen muss, dass die römischen Rechtssätze mehrere Jahrzehnte von Richtern des arabischen Reiches auch angewandt wurden. Interessanterweise aber wurde ihre Herkunft von Anfang an verschleiert, indem sie als Lehre des zur Zeit der Übersetzung noch nicht lange verstorbenen Kufischen Gelehrten Abu Hanifa (TL etwa 699–767) ausgegeben wurden. Als sich später, im 9. Jahrhundert, orthodoxe Tendenzen durchsetzten, wurden Al-Shaybani und Abu Yusuf aus den Überliefererketten entfernt und die Herkunft in die Zeit noch vor Abu Hanifa zurückverlegt. Erst von dieser Zeit an wurden die aus dem römischen Recht entlehnten Rechtssätze auf den arabischen Propheten zurückgeführt. Unter den Händen der Orthodoxen wurde das islamische Recht der Schriftgelehrten („Jurists Law“) geformt, wie es teilweise noch heute als „Scharia“ angewandt wird. Dabei nahm offenbar niemand am römischen Inhalt dieses Rechts Anstoß. Wichtig war vor allem, dass ein „Hadith“ eine arabische Überliefererkette hatte. Ein Menschenalter nach der Übertragung ins Arabische war den meisten Gelehrten der kaiserlich römische Ursprung ihrer Rechtssätze schon nicht mehr bewusst.

Das neu geschaffene arabische Recht hatte Rückwirkungen auf Byzanz. Dort war die Justinianische Kodifizierung 741 unter Leon III. zugunsten der einfacher aufgebauten Ekloge in den Hintergrund getreten und so gut wie vergessen worden. Die Bagdader Übersetzung führte jedoch dazu, dass man in Byzanz wieder auf die Digestsumma aufmerksam wurde. Jokisch zeigt, dass die Redakteure der „Basilika“, der unter Leon VI. (886–912) erstellten Bearbeitung der Digestsumma, auf die Arbeit der Bagdader Übersetzer zurückgegriffen haben.

Nach dieser folgerichtigen und kleinteiligen Analyse von Rechtstexten kommt sozusagen ein zweites Buch, in dem sich Jokisch mit breitem Pinsel dem großen Bild zuwendet: Die rege Übersetzungstätigkeit in Bagdad beschränkte sich nicht auf das Recht, sondern wollte das hellenistische Erbe insgesamt für das Arabische Reich erschließen. Ergebnis war der unter den Barmakiden aufblühende arabische Humanismus. Auf fast allen Gebieten (außer dem Theaterwesen) wurden Schriften ins Arabische übersetzt. Auf diesem Wege wurden nicht nur einzelne Fachbegriffe der Technik, Grammatik, Lexikographie, Prosodie, Rhetorik, Theologie, Geschichtsschreibung und Philosophie übernommen, sondern auch die mit ihnen verbundenen Konzepte. Musste z.B. in Byzanz das Attische die Beispiele für den guten Sprachgebrauch zur Verfügung stellen, so übernahm diese Rolle in Bagdad die so genannte altarabische Dichtung.

Hat man einmal akzeptiert, dass es diesen lebhaften Verkehr zwischen Byzanz und Bagdad gab, werden die Augen für viele Übereinstimmungen und Parallelentwicklungen geöffnet. Jokisch zieht eine große Linie zwischen zwei gegensätzlichen religiös-politischen Richtungen, die sich parallel sowohl in Byzanz als auch im Arabischen Reich ausprägten. Ausgangspunkt war der unter Herakleios (610–641) entwickelte Monotheletismus (zwei Naturen, aber nur ein göttlicher Wille in Jesus Christus). Dies führte zu einer konservativen „Dyotheletischen“ Reaktion (zwei Naturen und zweierlei Wille – der Mensch hat einen freien Willen und wird im jüngsten Gericht entsprechend seinen Taten belohnt und bestraft), deren Führer der 653 in Konstantinopel verurteilte Maximus Confessor wurde. Zwar wurde der Monotheletismus 680 auf einem Konzil in Konstantinopel als Häresie verurteilt, das mit ihm verbundene politische Konzept einer Wiederherstellung des Cäsaropapismus lebte jedoch 713 mit dem Ikonoklasmus (Bilderfeindlichkeit) Leons III. (717–741) wieder auf und blieb bis zum endgültigen Sieg der Orthodoxie im 9. Jahrhundert die vorherrschende Ideologie auf Seiten der Herrschaft in beiden Reichen. Jokisch zeigt, dass alle Wendungen dieser Entwicklung auch im Arabischen Reich festgestellt werden können. Schon im so genannten ersten Bürgerkrieg (bis 661) traten Kharidjiten auf, die erkennbar „Dyotheleten“ waren. Ihre Lehre, die Qadariyya, stand im Gegensatz zum Monotheletismus, der Murji’ah. Die byzantinischen Zirkusfraktionen der gemäßigten „Grünen“ und der radikal-orthodoxen „Blauen“ waren auch im Arabischen Reich tätig, wo die „blauen“ Azrakiten den radikalsten Flügel der Kharidjiten im so genannten zweiten Bürgerkrieg (bis 692) bildeten. In beiden Reichen versuchten die Herrscher ihre Macht absolutistisch auszugestalten und auch auf die religiöse Sphäre auszudehnen. Die in Byzanz von der ikonoklastischen Herrschaft vertretene Lehre von der Erschaffenheit der Ikonen hatte ihre Entsprechung in der Lehre von der Erschaffenheit des Korans im Arabischen Reich der frühen Abbasiden. In Opposition zur Herrschaft stehende orthodoxe Kräfte propagierten dagegen die Verehrungswürdigkeit der ikonischen Christusdarstellung bzw. des „unerschaffenen“ Korans. Nachdem sich 843 die Orthodoxen erst in Byzanz, dann unter Mutawakkil (TL 847–861) auch im Arabischen Reich durchgesetzt hatten, stellten die Schiiten mit ihrer „Tawhid“-Doktrin, die der ikonoklastischen Doktrin Konstantins V. entspricht, den letzten Überrest der absolutistischen abbasidischen Staatsideologie dar.

Es mag sein, dass die Liste der sehr suggestiven Belege, die Jokisch für die Kopplung der gesellschaftlichen Entwicklungen über die Reichsgrenzen hinweg anführt, bei näherer Überprüfung etwas gekürzt werden muss. Das ändert nichts daran, dass sein Entwurf eine Vielzahl bis jetzt unverstandener Einzelnachrichten in einen Zusammenhang bringt. Die Thesen, die Jokisch hier aufstellt, versprechen Kultur- wie Geschichtswissenschaftler noch lange zu beschäftigen.

Raymond Dequin ist Autor des Beitrags “Frühe Ali-Verehrung und die Schöpfung des abbasidischen Weltbilds“ in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Die Entstehung einer Weltreligion II. Von der koranischen Bewegung zum Frühislam, Hans Schiler Verlag: Berlin 2012, 164-310.


© imprimatur März 2012
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[1]Angaben der arabischen Traditionsliteratur (TL) können nicht ohne weiteres als geschichtliche Tatsachen und Jahreszahlen gelten.