Ansgar Ahlbrecht
Das Zweite Vatikanische Konzil (II)
Erinnerungen eines Zeitzeugen

Die zweite, dritte und vierte Periode von 1963 bis 1965 habe ich dann selbst unmittelbar in Rom miterlebt. Ich hatte dort zusammen mit Abt Laurentius Klein von St. Matthias in Trier in Absprache mit Kardinal Bea (!) ein „Centro di contatto“ für nichtkatholische Konzilsbesucher eröffnet. Dort, fünf Minuten Gehweg vom Petersplatz entfernt, konnten wir ungezählte am Konzil interessierte evangelische und orthodoxe Theologen und Medienvertreter empfangen und ihnen Kontakte mit Konzilsvätern vermitteln. Als „peritus privatus“, also als persönlicher Mitarbeiter eines Konzilsvaters, hatte ich Zugang zu den vorerst noch geheimen Arbeitspapieren und schließlich auch zu den nichtöffentlichen Arbeitssitzungen im Petersdom. Mittlerweile hatte ich auch die Stelle des verantwortlichen Redakteurs unserer Zeitschrift UNA SANCTA übernommen, und der Zustrom so vieler Theologen zum Konzil eröffnete mir nun zusätzliche Möglichkeiten direkter Kontakte zu alten und neuen Autoren.

Damit war ich nun mitten drin in diesem Geschehen, das eine ganz neue Weise von Kirche-Sein eröffnete. Allein die Tatsache, dass Bischöfe nun nicht wie sonst als einsame Spitzenfunktionäre in ihrem Palais saßen, sondern sich mit mehr als zweitausend anderen Bischöfen als eine Gemeinschaft Gleichgestellter erlebten, die nicht alles allein durchsetzen konnten, sondern sich um Mehrheiten bemühen mussten und auch Abstimmungsniederlagen erlitten, wirkte bewusstseinsverändernd. Und sie waren nun nicht mehr bloß vertikal auf eine leitende Zentralinstanz fixiert, sondern erlebten die bunte Vielfalt einer Weltkirche durch horizontale Querverbindungen zu Mitbrüdern aus anderen Ländern und Kontinenten, die alle ihre besonderen, auch ganz persönlichen Erfahrungen mit in diese Versammlung brachten und dazu beitrugen, die Kirche und ihren Auftrag in der modernen Welt „heutig zu machen“. So wurden die Bischöfe aus den USA, die in ihrer Heimat als Leiter einer Minderheit katholischer Christen auf die Toleranz der vor allem protestantischen Mehrheit angewiesen waren und daher für Religionsfreiheit eintreten mussten, zur Speerspitze der Bemühungen, auch nichtkatholischen Minderheiten in anderen Ländern, wie z.B. Spanien oder Italien, Religionsfreiheit einzuräumen. Bischöfe aus Lateinamerika wiesen schon seit 1963 hin auf die katastrophale Armut in vielen Ländern. 1965 verpflichteten sich 40 Bischöfe im so genannten „Katakombenpakt“ zu einem Leben in größter Einfachheit und in größtmöglicher Nähe zu den Armen. Damit lösten sie eine Bewegung aus, die schon bald zu einer von der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz getragenen „vorrangigen Option für die Armen“ und zur Entwicklung einer „Theologie der Befreiung“ führte. Die Bischöfe ehemaliger Kolonialgebiete traten für eine Inkulturation des kirchlichen Lebens in ihren Ländern ein. Wenn die Konzilsväter nun Tag für Tag in den Reden ihrer Mitbrüder mit den unterschiedlichen Situationen der Kirche in der heutigen Welt und den entsprechenden neuen Akzenten in der Auslegung des gemeinsamen Glaubens konfrontiert wurden, so waren sie damit in einen ganz neuen Lernprozess versetzt.

Und auch außerhalb der Konzilsaula bot sich ihnen nun Gelegenheit, selbst noch einmal „in die Schule zu gehen“. Ich vergesse nicht dieses Bild, das sich Woche für Woche von neuem bot: Säle voller Bischöfe, die buchstäblich zu Füßen eines alten oder auch jungen Theologen saßen, um neue Erkenntnisse einer Theologie zu bedenken, die seit Abschluss ihres eigenen Studiums vor einigen Jahrzehnten neue Wege entdeckt hatte. Und diese Theologen, bei denen sie in die Schule gingen, waren zum Teil Männer, die noch vor wenigen Jahren von Rom gemaßregelt worden waren, wie z.B. die französischen Dominikaner Marie-Dominique Chenu und Yves Congar oder mein Doktorvater Karl Rahner.

Auch unser Kontaktzentrum wurde bald zum Ort theologischer Information und theologischer Gespräche. Es kamen unablässig einzelne Besucher, aber auch ganze Gruppen wie z.B. die Pfarramtskandidaten und -kandidatinnen des Predigerseminars der Braunschweigischen Lutherischen Landeskirche. Und eine andere Gruppe hatten wir 1964 als Dauergäste: Seit der Sitzungsperiode 1963 traf sich - übrigens in der römischen Wohnung des Schriftstellers Stefan Andres („Der Knabe im Brunnen“) - ein von Walter Kampe, dem „Medienbischof“ der Deutschen Bischofskonferenz, eingerichteter Kreis deutschsprachiger evangelischer Konzilsberichterstatter: Hier bot sich die Gelegenheit, auf dem Weg über diese Mediatoren über deren eigenen kleinen Kreis hinaus in die Öffentlichkeit hineinzuwirken: die Konzilsdebatten zu erläutern, Fragen zu beantworten und Missverständnisse aufzuklären. Schon 1963 hatte ich in diesem Kreis mitgearbeitet. 1964, als Stefan Andres entdeckt hatte, dass das Konzil auch für ihn interessant sein könnte, und als er während der Konzilsmonate von seinem Haus in Positano in seine römische Wohnung zog und der Gesprächskreis dadurch „obdachlos“ wurde, konnte ich Bischof Kampe unser Kontaktzentrum als dauernden Treffpunkt anbieten.

In diesem Kreis fanden natürlich vor allem die Themen von unmittelbar ökumenischer Relevanz das größte Interesse: Zum Beispiel wo im Ökumenismusdekret über „die getrennten Kirchen und Gemeinschaften“ gesagt wird, dass „der Geist Christi sich gewürdigt hat, sie als Mittel des Heiles zu gebrauchen“, so dass erstmals nicht nur der Glaube und die Heilsmöglichkeit einzelner „getrennter Brüder“ angesprochen wurde, sondern auch ihre Kirchen als heilsbedeutsam in den Blick kamen; positiv vermerkt wurde auch die Aussage, „dass es durch die Trennung auch für die (katholische) Kirche selber schwierig wird, die Fülle der Katholizität unter jedem Aspekt in der Wirklichkeit des Lebens auszuprägen“; oder dass gesagt wurde, die katholische Kirche sei „von Christus zu einer dauernden Reformation [nicht bloß ‚Reform’!] gerufen“, eine direkte Übernahme des lutherischen Axioms „ecclesia semper reformanda“; dankbar vermerkt wurde auch, dass die Konzilsväter sagen: „Wir bitten die getrennten Brüder um Verzeihung für unsere Sünden wider die Einheit.“

In der Konstitution über die Kirche wurden ähnliche Töne angeschlagen, z.B. dort, wo es heißt: „Die Kirche umfasst Sünder in ihrem eigenen Schoße. Sie ist zugleich heilig und stets der Reinigung bedürftig / sancta simul et semper purificanda“, ein Anklang an Luthers Worte, der Mensch sei simul justus et peccator“! Und weiter: Die Kirche „geht immerfort den Weg der Buße und Erneuerung“, auch dies ein Anklang an Luthers 1. These von 1517: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße…, hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.“

Da ich Einblick in die vorerst noch geheim gehaltenen Arbeitspapiere hatte und auch bei den unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindenden Debatten in der Konzilsaula anwesend war, erreichten mich solche und andere Worte nicht als fertige Texte, sondern ich erlebte das oft dramatische Ringen um den endgültigen Wortlaut mit. Und so habe ich beim Lesen der ersten Entwürfe manche Nacht um einen guten Ausgang gebangt, aber dann auch wieder, wenn die Würfel gefallen waren, vor lauter Freude kaum schlafen können.

Manchmal konnten wir Gäste unseres Kontaktzentrums an der Freude dieses unmittelbaren Erlebens teilnehmen lassen. So erinnere ich mich an einen Tag, an dem ich zwei bekannten evangelischen Theologen, dem Oldenburger Altlandesbischof Wilhelm Stählin und Propst Karl Bernhard Ritter aus Marburg Eintritt in eine Arbeitssitzung in der Peterskirche vermittelt hatte. Beide waren Mitbegründer der Evangelischen Michaelsbruderschaft, die gegenüber einem fast unkirchlichen Neuprotestantismus für ein neues evangelisches Kirchenbewusstsein eingetreten war, nämlich für eine neue Wertschätzung der kirchlichen Liturgie und verbindlicher Lebensformen. Und da saß ich nun zwischen diesen beiden alten Männern auf der Besuchertribüne der Konzilsaula und konnte ihnen gerade an diesem Tag aus dem Lateinischen übersetzen, was Bischöfe aus den Niederlanden und aus Indonesien (auch sie zumeist Holländer) einer nach dem anderen in einer konzertierten Aktion zugunsten einer Anerkennung des Kircheseins der reformatorischen Gemeinschaften vortrugen. Für diese beiden alten Männer war das wohl so etwas wie eine kleine Sternstunde, wie eine Ernte ihres Lebens: Zu hören, dass ihre Kirche nun endlich auch in Rom ernst- und vollgenommen wurde.

Damals war natürlich noch nicht abzusehen, dass dieses Plädoyer für die Anerkennung der aus der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften als Kirchen letztlich erfolglos bleiben sollte, ja dass Roms Haltung sich auf Dauer noch verhärten sollte. Ein Beispiel für die Verhärtung ist das von der Glaubenskongregation unter Kardinal Ratzinger verfasste und im Jahr 2000 veröffentlichte Dokument „Dominus Jesus“, das bis heute von unseren evangelischen Mitchristen als Zeichen einer unerträglichen Anmaßung der Kirche Roms gewertet wird.

Ich erinnere mich an ein anderes Erlebnis während einer Vollversammlung des Konzils: Die Debatte ging um die Probleme der Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zur Kommunion. Da traf ich in der Konzilsaula den mir gut bekannten orientalisch-unierten Erzbischof Elias Zoghby, den Vikar von Patriarch Maximos für Ägypten. Zoghby griff in einen der weiten Ärmel seines Gewandes, zog ein maschinengeschriebenes Dokument hervor und drückte es mir in die Hand mit der Bemerkung: „Ne montrez pas!“, „Nicht zeigen!“ Denn es war verboten, in der Konzilsaula Drucksachen zu verteilen. Es handelte sich um den Text der Rede, die er unmittelbar danach gehalten hat, ein Plädoyer für die mildere Praxis der Ostkirchen im Umgang mit wiederverheirateten Geschiedenen. Diese Rede ließ plötzlich dem versammelten Weltepiskopat die unbarmherzige römische Tradition in dieser Sache als partikulär und nicht unbedingt für die gesamte Catholica repräsentativ erscheinen.

Ich persönlich hatte das Bewusstsein der Not ungezählter in konfessionsverbindenden Ehen lebenden Menschen mit nach Rom gebracht, wobei es ja ebenfalls darum ging, dass sie nach römischer Ordnung nicht gemeinsam am Tisch des Herrn feiern durften. So war diese Rede von Erzbischof Zoghby für mich eine kleine hoffnungweckende Sternstunde. Aber auch hier hat uns - genau wie bei der immer noch nicht überwundenen Abwertung der reformatorischen Kirchen und bei der Nichtanerkennung der sakramentalen „Gültigkeit“ ihrer Leitungsämter - die Folgezeit enttäuscht, bis hin zu Papst Ratzingers Weigerung, auf die Bitten der evangelischen Kirche und des Bundespräsidenten einzugehen, Partnern in konfessionsverbindenden Ehen und wiederveirateten Geschiedenen bei der Zulassung zur Kommunion entgegenzukommen.

Noch eine Marginalie zum Thema „enttäuschte Hoffnungen“: In den letzten Wochen der 4. Sitzungsperiode, im November 1965, war die Diskussion über die letzten Konzilstexte abgeschlossen, und auf der Agenda standen Tag für Tag nur noch ermüdende Schlussabstimmungen. Um den Konzilsvätern doch noch ein wenig mehr zu bieten, hatte man Wortmeldungen zu einigen weniger wichtigen Themen vorgesehen, unter anderem über die Praxis des Ablasswesens. Anfang des 16. Jahrhunderts war es da zu Ärgernis erregenden Missbräuchen gekommen, wobei es vor allem um das Eintreiben von Geldspenden zugunsten des „Heiligen Stuhls“ in Rom ging. Das hatte Martin Luther getrieben, mit kritischen Thesen zu dieser Lehre und Praxis zu einer Disputation einzuladen: Ein Ereignis, das bekanntlich zum Anstoß für den Beginn der reformatorische Bewegung wurde, die schließlich zur Kirchenspaltung führte. Und da saß ich nun viereinhalb Jahrhunderte später in der Peterskirche, deren Ausbau zum Teil mit den Ablassgeldern aus Deutschland finanziert worden war, und wurde Zeuge einer neuen kritischen Stellungnahme zu diesem Thema: Die Kardinäle König, Döpfner und Alfrink hatten sich abgesprochen, mit ihrem Recht auf je zehn Minuten Redezeit ihre Wortmeldungen zu einem zwanzigminütigen gemeinsamen Plädoyer zu nützen, in dem sie vortrugen, was mein Lehrer Karl Rahner wenige Jahre zuvor über die Entstehung des Ablasswesens erforscht hatte: In der Zeit der Christenverfolgungen hatten Christen, die dem Druck der Verfolger nachgegeben hatten und gegen die, als sie Reue zeigten, eine Bußzeit verhängt wurde, andere Christen, die standhaft geblieben und überlebt hatten, gebeten, sich als Bürgen für eine Abkürzung ihrer Bußzeit einzusetzen. Die daraufhin gewährten unterschiedlich umfangreichen Verkürzungen der kirchlichen Bußzeit wurden nach Ende der Verfolgungen umgedeutet zu Nachlässen der göttlichen Strafen, die auch den „armen Seelen im Fegefeuer“ zugewandt werden könnten, wobei die Kirche dabei als angebliche Verwalterin des „Schatzes der Verdienste Christi“ ins Spiel kam. Das Plädoyer der drei Kardinäle lief nun darauf hinaus, dass im Licht dieser Erkenntnisse über die historischen Ursprünge des Ablasswesens die bisherige Praxis geändert oder ganz eingestellt werden sollte. Das Plädoyer wurde gehört, aber nicht diskutiert. Und nach dem Konzil ging alles weiter wie bisher, und auch heute schreibt Rom zu allen möglichen Anlässen immer noch Ablässe aus. Ein weiteres Beispiel für das Ignorieren konziliarer Impulse durch die römische Zentrale.

Nochmals zurück in das Jahr 1964: Schon in der 3. Sitzungsperiode hatten sich Vorfälle gehäuft, die erkennen ließen, dass kuriale Kreise wieder zu Kräften gekommen waren und vor allem stärkeren Einfluss auf den neuen Papst, Paul VI., ausübten, dem daran gelegen war, durch Eingriffe in die zur Abstimmung anstehenden Texte auch den konservativen Konzilsvätern einschließlich der Kurienbischöfe die Möglichkeit der Zustimmung zu geben. Diese Eingriffe führten Ende November, in der berüchtigten „Schwarzen Woche“, zu einer schweren Krise, die nur mühsam überwunden wurde.

Bei all dem ging es nicht nur um die aktuellen Konzilstexte, sondern es breitete sich die Sorge aus, dass nach der mittlerweile für 1965 geplanten letzten Sitzungsperiode, wenn die Konzilsväter abgereist sein würden, die Kurie entweder durch Ignorieren der Beschlüsse oder durch deren minimalisierende Interpretation die Kirche ins alte Fahrwasser zurückbugsieren könnte. Ich habe noch einmal mein Konzilstagebuch von 1964 hervorgeholt. Und dort habe ich in einem Eintrag vom 2. Oktober eine Befürchtung gelesen, die sich dann bald bewahrheiten würde: „Schon reckt die Kurie wieder ihr Haupt, um die Pflanzen des Konzils in der nachkonziliaren Phase in ihre Treibhäuser zu nehmen, damit sie nicht gegen alle Vorschrift und Gewohnheit zu Bäumen werden, in denen die Vögel des Himmels ihre Nester bauen können, in denen also etwas Lebendiges vor sich geht, das sich der Kontrolle der Zentrale entzieht.“

Einige brisante Themen hatte Paul VI. ohnehin schon der Entscheidung durch das Konzil entzogen und sich selbst für die Zeit nach dem Konzil vorbehalten, nämlich die Reform der Kurie und die Probleme um die Geburtenkontrolle und den Zölibat, also Fragen, bei denen es entweder um die Macht in der Kirche oder um Sexualität und Ehe ging. Bezeichnenderweise wurde über alle diese Probleme später auf eine Weise entschieden, die nicht den Tendenzen entsprach, die bei der Konzilsmehrheit sichtbar geworden waren.

Viel wichtiger als diese oder jene Interpretation von Konzilstexten aber ist die Tatsache, dass das Konzil später vor allem von Papst Johannes Paul II. nur noch als Ereignis der Vergangenheit gedeutet wurde, das zur Produktion von Texten gedient habe, nicht aber als Eröffnung eines weitergehenden Prozesses. Aus dieser Sicht durfte man sich auch nicht auf den Geist des Konzils berufen, in dessen Licht die Texte gelesen, beurteilt und unter Umständen fortgeschrieben werden müssten, sondern man habe sich allein an den Buchstaben der Texte zu halten.

Ich selbst habe das Konzil jedenfalls nicht als bloßes Ereignis der Vergangenheit verstanden, sondern als Beginn eines weitergehenden Prozesses: Allgemein anerkannt ist ja ohnehin, dass zumindest die Rezeption der Beschlüsse noch zum Konzilsgeschehen gehört. Ich wehre mich nur dagegen, hier bloß an Texte zu denken, die studiert und verstanden und, soweit sie direkte Handlungsmaximen enthalten, nur dem Buchstaben nach „durchgeführt“ werden müssten. Ich bin vielmehr überzeugt, dass wir im Geist des konziliaren Aufbruchs weitergehen müssen. Ich persönlich habe versucht, dies auch in den Jahren nach dem Konzil, soweit es mir möglich war, zu tun:

1968 beim Katholikentag in Essen habe ich in einer großen Messehalle das dreitägige „Forum Mischehe“ moderiert, auf dem wir aufgerufen haben, in Zukunft nicht mehr von „konfessionsverschiedenen“, sondern von „konfessionsverbindenden Ehen“ zu sprechen. Wir hatten damals auch einen Kreis von betroffenen Ehepaaren zur Mitarbeit gewonnen, die seit Jahren in ihren Rundbriefen durch den Abdruck von Briefen kirchlicher Behörden an konfessionsverbindende Braut- und Ehepaare dokumentiert hatten, mit welcher Arroganz und Kaltherzigkeit z.B. die Anträge auf Dispensen hier behandelt wurden. Von dem offeneren Geist des Konzils war damals aber noch so viel übrig geblieben, dass eineinhalb Jahre nach unserer dreitägigen Kampagne eine römische Instruktion veröffentlicht wurde, die eine gewisse Milderung der römischen Praxis brachte.

1971 habe ich bei der action 365, einer Gemeinschaft ökumenischer Basisgruppen, an der Vorbereitung des Ökumenischen Pfingsttreffens in Augsburg mitgewirkt. Die action 365 hat dann sowohl zu einem katholischen als auch einem evangelischen Gottesdienst eingeladen, bei dem jeweils konfessionsverbindenden Ehepartnern eucharistische Gastfreundschaft angeboten wurde. Damals habe auch ich erstmals in einem evangelischen Gottesdienst das Abendmahl empfangen. Bei den Treffen der action 365 wurde die gegenseitig angebotene eucharistische Gastfreundschaft dann zur selbstverständlichen Praxis aller Teilnehmer. Und diese Praxis konnten wir auch theologisch gut begründen.

Ab Herbst 1971 habe ich dann die von der action 365 eingerichtete „Kontaktstelle für ökumenische Gemeindearbeit“ geleitet und im Rahmen dieser Arbeit zwei Jahrzehnte lang allmonatlich „ökumene am ort - Blätter für ökumenische Basisarbeit“ herausgegeben, mit denen wir den Christen an der kirchlichen Basis geholfen haben, die Einsichten und Erfahrungen des Konzils in ihrem Leben und in ihren Gemeinden zu „erden“.

Seit 1970 bis heute arbeite ich als Übersetzer mit an einer im letzten Konzilsjahr gestarteten Initiative: der in zunächst sieben und heute in sechs Sprachen erscheinenden internationalen Zeitschrift CONCILIUM. Deren deutsche Ausgabe habe ich 16 Jahre lang auch als verantwortlicher Redakteur betreut. Hinzu kommt noch die Übersetzung tausender Seiten von Kapiteln der 5-bändigen von Giuseppe Alberigo herausgegebenen „Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils“ und zweier weiterer Bücher von Alberigo zum Konzil bzw. zur Biographie Johannes’ XXIII. .

Also ein ganzes Arbeitsleben im Bann dieses Konzils, das - trotz Verrat so vieler an seinem Geist - hoffentlich nicht vergeblich gewesen ist. Ich will diese Hoffnung nicht aufgeben, und dabei stärkt mich immer wieder die Vorstellung eines mit Wintersaat bestellten Ackers: Diese Wintersaat mag noch so sehr von Eis und Schnee bedeckt sein. In einem kommenden Frühling wird sie trotz allem aufgehen, wachsen und Frucht tragen.


© imprimatur Mai 2012
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel!
Bitte füllen Sie die folgenden Felder aus, drücken Sie auf den Knopf "Abschicken" und schon hat uns Ihre Post erreicht.

Zuerst Ihre Adresse (wir nehmen keine anonyme Post an!!):
Name:

Straße:

PLZ/Ort:

E-Mail-Adresse:

So und jetzt können Sie endlich Ihre Meinung loswerden: