Theo Mechtenberg
Polonia semper fidelis?

Am 9. November 2011 erhielt der Marianerpater Adam Boniecki, langjähriger Chefredakteur der für ihren offenen Katholizismus bekannten Krakauer Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“, ein Schreiben seines Provinzials mit der Auflage, sich außerhalb des „Tygodnik Powszechny“ nicht mehr medial zu äußern. Bonicki, selbst einst über Jahre Ordensgeneral, kam aufgrund seines Gehorsamsgelübdes dem ihm auferlegten Verbot widerspruchslos nach. Doch damit war die Angelegenheit keineswegs bereinigt. Der Provinzial hatte einen Stein ins Wasser geworfen und damit in der inner- wie außerkirchlichen Öffentlichkeit Wellen des Unverständnisses, ja der Empörung hervorgerufen. Ganz ohne Zutun des Betroffenen solidarisierten sich mit ihm in den verschiedensten Foren des Internet tausende Gläubige und der Kirche fern stehende Bürger. Hacker blockierten zeitweise das Internet des Provinzials. Der Gemaßregelte erhielt eine Unzahl an Briefen und Mails. In ihrem Zentrum – so Boniecki - „stehe nicht er selbst, sondern der Glaube der Verfasser sowie Fragen voller Besorgnis nach dem Glauben sowie nach der Kirche: Wie diese sich darstelle und nach welcher sie sich sehnen[1].“

Dass diese Protestwelle höchste kirchliche Kreise erfasst hat, zeigt die Aussage des emeritierten polnischen Primas und langjährigen Verantwortlichen für den Dialog mit dem Judentum, Erzbischof Henryk Muszynski. In einem im Internet veröffentlichten Interview bedauert er diesen Vorgang. Strittige Fragen müssten „durch Gespräch und Dialog, nicht aber durch radikale Maßnahmen entschieden werden.“ Er spricht Adam Boniecki seine Hochachtung aus und erinnert daran, „dass er dort ist, wo andere nicht sein wollen, eine Brücke zwischen den einen und den anderen.“ Innerhalb der polnischen Kirche erfülle er eine ungemein wichtige Rolle. Und mit einem insgeheimen Hinweis auf Pater Tadeusz Rydzyk, den Direktor von „Radio Maryja“ und seinem Medienimperium, fügt er hinzu: „Wenn man schon gewisse Schritte unternimmt, dann muss man die gleichen Kriterien denen gegenüber anwenden, die – sagen wir – eine mehr offene Kirche repräsentieren, wie gegenüber jenen, die einer mehr geschlossenen Kirche den Vorzug geben[2].“

Verschärfter Antiklerikalismus nach den jüngsten Parlamentswahlen

Die gegen Pater Boniecki verhängte Sanktion fällt kaum zufällig in die Zeit kurz nach den Parlamentswahlen vom 9. Oktober 2011. Damals gewann die erklärtermaßen antiklerikale „Bewegung Palikot“ aus dem Stand mit 10,01 % der Stimmen und 41 Abgeordneten einen von niemandem für möglich gehaltenen Wahlerfolg. Ihr Gründer, Janusz Marian Palikot, ist eine reichlich schillernde Persönlichkeit: Absolvent eines Philosophiestudiums an der Katholischen Universität Lublin (KUL), zeitweise Gast in der Mönchsrepublik auf dem Berg Athos, Multimillionär als Produzent von Alkoholika, ab 2005 Sejmabgeordneter der „Bürgerplattform“ (PO), bekannt durch seine gegen die Kaczynski-Zwillinge gerichteten skandalösen Äußerungen und happenings, die ihn schließlich für seine Partei untragbar machten.

Den Anstoß zu einer eigenen „Bewegung“ boten ihm nach eigener Angabe die Ereignisse nach dem 4. April 2010, dem Tag des Absturzes der Präsidentenmaschine. Die feierliche Beisetzung des Präsidentenpaares in der den Königen und Nationalhelden vorbehaltenen Krypta des Wawel unter der Assistenz höchster Kirchenvertreter fand in der Bevölkerung keine ungeteilte Zustimmung. Es regte sich Widerstand gegen eine als übermäßig empfundene Präsenz der Kirche bei nationalen Staatsakten. Zu einem öffentlichen Konflikt kam es dann, als nach Ablauf der offiziellen Trauerphase eine „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) nahe stehende Gruppe selbst ernannter „Verteidiger des Kreuzes“ und „wahrer Patrioten“ der Übertragung eines als Ausdruck unmittelbarer Trauer vor dem Präsidentenpalast errichteten Holzkreuzes in eine nahe gelegene Kirche widersetzten. Erschwerend kam hinzu, dass diese Gruppe aus Enttäuschung über die verlorene Präsidentschaftswahl von Jaroslaw Kaczynski das Kreuz politisch gegen den gewählten Präsidenten Bronislaw Komorowski missbrauchten. Als Gegenreaktion zu dieser national-katholischen Demonstration kam es zu antiklerikalen Protesten zumeist jugendlicher Bürger. Diese Kräfte sammelte Palikot in der auf ihn zugeschnittenen „Bewegung“ und verlieh ihr mit dem Einzug ins Parlament politisches Gewicht.

Das für Polens Kirche beunruhigende Faktum ist nicht der Antiklerikalismus als solcher. Der hat in Polen eine bis in die Zwischenkriegszeit zurückreichende Tradition. Doch durch den Kirchenkampf des kommunistischen Systems wurde er kompromittiert, so dass der von Teilen des postkommunistischen „Linksbündnisses“ (SLD) vertretene Antiklerikalismus der Nachwendezeit in der Gesellschaft nur einen relativ geringen Widerhall fand. Dass mit der „Bewegung Palikot“ nunmehr in Polen ein neuer, mit den Postkommunisten in keinem Zusammenhang stehender Antiklerikalismus präsent ist, der sich auf die Generation der 18- bis 25jährigen stützt, die immerhin durch die Kirche eine religiöse Formung erhalten hat, gibt reichlich Anlass zu einer kirchlichen Selbstkritik. So stellt sich die Frage, ob die bisherige Form schulischer Katechese einer Prüfung standhält. Jedenfalls ist es kontraproduktiv, wenn – um ein Beispiel zu nennen – Pater Rydzyk den Wahlerfolg der „Bewegung Palikot“ mit den Worten kommentiert: „Sodomisten zogen in den Sejm ein.“

Ein Kreuz im Sejm?

Die erste Initiative von Palikot nach der Wahl bestand darin, in einem Schreiben an den Sejmmarschall die Entfernung des Kreuzes aus dem Plenarsaal zu fordern. Im Falle einer Ablehnung seiner Forderung kündigte er an, die Angelegenheit vor das Verfassungsgericht zu bringen. Werde seine Eingabe auch dort abgelehnt, sei er entschlossen, Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu erheben. Damit war, wie so oft in Polen, ein neuerlicher Streit um das Kreuz entbrannt. In dieser Auseinandersetzung nahm Adam Boniecki nicht die offenbar von ihm erwartete und von der Hierarchie wie von den kirchlichen Medien vertretene kämpferische Haltung ein. Auf die ihm am Ende eines Fernsehinterviews gestellte Frage, ob das Kreuz im Sejm hängen solle oder nicht, hatte er mit einem Ja und Nein geantwortet. Beide Möglichkeiten seien berechtigt. Er hatte sich damit, wie ihm unterstellt wurde, keineswegs für die Entfernung des nun einmal im Sejm hängenden Kreuzes ausgesprochen. Das Bleiben des Kreuzes wünscht, wie Umfragen ergaben, im Übrigen eine deutliche Mehrheit der Polen.

Zum Verständnis der Problematik ist es wichtig zu wissen, dass das Kreuz 1997, im Jahr der Verabschiedung der neuen Verfassung und der von der „Wahlaktion Solidarnosc“ (AWS) gewonnenen Parlamentswahlen, von zwei Abgeordneten in einer Nacht- und Nebel-Aktion, also ohne einen förmlichen Parlamentsbeschluss, angebracht wurde. Hinter dem Streit um das Kreuz im Sejm steht somit die Frage nach dem Verhältnis der Kirche zur Demokratie: Ist sie in ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit an demokratische Spielregeln gebunden oder nicht? Wäre ein lediglich mit dem Staatswappen ausgestatteter Plenarsaal bereits ein Affront gegen die Kirche? Und sollte nicht umgekehrt die Minderheit nicht katholischer Abgeordneter das Kreuz als Symbol der religiös-nationalen Tradition Polens tolerieren? Statt gleich im Kampf um das Kreuz die Waffen zu schmieden sollte man sich diesen Fragen im gesellschaftlichen Dialog stellen. Dies war jedenfalls die der Kurzantwort von Pater Boniecki zugrunde liegende Intention. Man muss es daher schon bösartig nennen, wenn ihm von national-katholischer Seite unterstellt wurde, er habe mehr Empathie für die Gegner der Kirche als für die Kirche selbst und sage genau das, was die ihn fragenden Journalisten hören möchten.

Inzwischen ist durch eine von der Regierung in Auftrag gegebene Expertise geklärt, dass das Kreuz seinen Ort im Sejm haben darf. Die Autoren des Gutachtens verweisen auf den Sejmbeschluss vom 3. Dezember 2009, in dem – als Reaktion auf ein Urteil des Straßburger Gerichtshofes für Menschenrechte – festgestellt wurde, dass das „Kreuz nicht nur ein religiöses Symbol ist und Zeichen der Liebe Gottes zu den Menschen, sondern in der öffentlichen Sphäre an die Bereitschaft zur Hingabe für den Nächsten erinnert und die auf der Achtung vor der Würde eines jeden Menschen und seiner Rechte basierenden Werte zum Ausdruck bringt.“ Weiter heißt es in dem von 78% der Abgeordneten gefassten Beschluss, dass „sowohl der einzelne als auch die Gemeinschaft das Recht haben, ihre eigene religiöse und kulturelle Identität auszudrücken, die nicht auf die Privatsphäre beschränkt ist.“ Der Beschluss besage zwar nicht, dass ein Kreuz im Sejm hängen muss, verbiete aber, das bereits hängende Kreuz zu beseitigen[3].

Der Konflikt um „Nergal“

Adam Bonieckis Zurückhaltung im Streit um das Kreuz im Sejm war nicht der einzige Grund für seine Disziplinierung. So kam es im Herbst 2011 zu einer Auseinandersetzung um den Sänger und Gitarristen Adam Michal Darski alias „Nergal“ und seiner Black-Death-Metal-Band „Behemoth“, bei der Boniecki gleichfalls keine kämpferische Position einnahm. Bereits die Namen „Nergal“ und „Behemoth“ sind Programm: „Nergal“ als eine der Unterwelt zugeordnete babylonische Gottheit, „Behemoth“ als das dem Leviathan entgegengesetzte Landungeheuer aus der jüdischen Mythologie. Die geistesgeschichtliche Rezeption von „Behemoth“ reicht über Thomas Hobbes bis in die Moderne als eine Herrschaft der Rechtlosigkeit[4].

„Nergal“ hatte bereits 2007 Aufsehen erregt und Empörung ausgelöst, als er während eines Konzerts die Bibel zerriss und die Fetzen mit unflätigen Bemerkungen ins Publikum warf. Auch sonst sind seine Texte mit antikirchlichen und antichristlichen Ausfällen gespickt. Der Konflikt um ihn brach dann im vergangenen Herbst in voller Härte aus, als der als Musikexperte geschätzte Darski in die Jury der beliebten Musiksendung „The Voice of Poland“ berufen wurde. Die Empörung kirchlicher Kreise nahm noch an Heftigkeit zu, als der Prozess gegen Darski wegen Verletzung religiöser Gefühle unter Hinweis auf die künstlerische Freiheit mit einem Freispruch endete. So legte Bischof Wieslaw Mehring, im Episkopat zuständig für Fragen der Kultur und der Verteidigung des kulturellen Erbes, beim Chef des polnischen Fernsehens Protest gegen die öffentliche Unterstützung von „Antiwerten“ durch die Berufung von „Nergal“ ein. Ähnlich reagierte Erzbischof Slawoj Leszek Glódz: Ein „praktizierender Satanist“, der „Christentum und Religion verabscheut“, habe im öffentlichen Fernsehen nichts zu suchen. In dieser Auseinandersetzung sprach sich Boniecki gleichfalls für eine kirchliche Stellungnahme aus, hielt aber die Empörung für übertrieben. Dies wurde ihm in einem offenen Brief von Bischof Mehring als Unterstützung für „Nergal“ sowie als Verstoß gegen das Prinzip des sentire cum ecclesia ausgelegt.

Auf den offenen Brief von Bischof Mehring gab Boniecki seinerseits zu bedenken: „Jene, die nicht mit uns sind, sind nicht unbedingt menschlicher Eigenschaften beraubt, ihre Motive nicht unbedingt vom Teufel inspiriert, ihre Vorbehalte gegen die Leute der Kirche nicht unbedingt böswillig ausgedacht, ihre Fragen nicht unbedingt uns gestellte Fallen, sondern sie können aus einer echten Sorge um das Wohl des Menschen und der Gesellschaft resultieren[5].“

Damit bleibt Boniecki seiner Linie eines offenen, selbstkritischen, dialogbereiten Katholizismus selbst in einer Situation treu, die eine deutliche Ablehnung kirchenfeindlicher Aktionen nahe legt. Doch im Konflikt um „Nergal“ geht es letztlich weder um Polemik, noch um ein bloßes Festhalten an einem offenen Katholizismus. „Nergal“ und seine Gruppe sind schließlich nur ein Symptom für die tiefe Kluft zwischen Kirche und Kunst. Das war vor nicht langer Zeit noch anders. Es sei nur an die 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts erinnert, als die Kirche ihre Räume für die auf staatlichen Druck aus der Öffentlichkeit verdrängten Künstler öffnete, wenngleich damals hinter der martyrologischen und oppositionellen Aussage der Werke ihr künstlerischer Wert zurück trat. Und auch noch in den 1990er Jahren war die religiöse Dimension in den Werken polnischer Künstler durchaus präsent. Allerdings war diese Zeit, was den Dialog mit der Kunst betrifft, eine Zeit „vertaner Chancen“. Zwar bestimmte die Erfahrung des sacrum auch damals die Kunst, dies allerdings in Form einer Auseinandersetzung mit der Religion, was zur Folge hatte, dass diese Werke auf den Betrachter eine provozierende Wirkung ausübten und – zumal von national-katholischen Kräften - als blasphemisch eingestuft und zum Teil aggressiv bekämpft wurden[6]. Die Konsequenz war eine zunehmende Entfremdung zwischen Kirche und Kunst, so dass heute religiöse Bezüge in der Kunst kaum mehr vorkommen oder – wie im Falle „Nergal“ - einen ausgesprochen antichristlichen Charakter besitzen. Es dürfte der „polnischen“ Kirche angesichts dieses Befundes schwer fallen, mit der Kunst wieder in einen produktiven Dialog zu kommen, falls dies überhaupt noch gewollt ist. Wenn nicht, dann stellt sich aber die Frage, welche lang- oder gar mittelfristigen Folgen der Verlust des sacrum in der Kunst für das katholische Polen haben wird.

Der Vorsitzende der Polnischen Bischofskonferenz zur Lage der Kirche

In dieser kritischen Gemengelage liegt mit dem auf einem Interview mit zwei katholischen Journalisten beruhenden „Rapport über den Stand des Glaubens in Polen“[7] von Erzbischof Józef Michalik, dem Vorsitzenden der Polnischen Bischofskonferenz, erstmals eine die aktuelle Situation der polnischen Kirche betreffende Diagnose eines prominenten Hierarchen vor. Der Titel ist allerdings irreführend, denn über das Glaubensverständnis polnischer Katholiken, über ihr Glaubenswissen, ihre selektive Glaubensaneignung (mit Ausnahme moralischer Fragen), über ihren Glaubensverlust erfährt der Leser nichts Substantielles. Nicht dem Glauben als solchem, sondern der Situation der Kirche gilt das Interesse der Interviewer wie des Erzbischofs.

Die Weichen dazu sind im einleitenden Kapitel gestellt: Polens Kirche habe die Jahrzehnte des Kommunismus aufgrund dreier Elemente relativ unbeschadet überlebt – mit Hilfe der religiös-nationalen Tradition, der engen Verbundenheit zwischen Klerus und Volk sowie durch die Stärke der Familien. Während die Tradition auch in die Zeit der gewonnenen Freiheit fort wirke und die Verbindung zwischen Klerus und Volk nach wie vor eng sei, habe die Familie ihren Ort der Glaubensvermittlung, der Lebensformung und der Wahrung der Werte eingebüßt. Ihre Krise bildet daher für den Erzbischof das Grundproblem. (8) Immer wieder nimmt er auf den Verfall der Familie Bezug, um Negativerscheinungen innerhalb der Kirche zu erklären. (20)

Indem Erzbischof Michalik die Ursache allen Übels in der Auflösung traditioneller Familienstrukturen sieht, erspart er sich die Frage nach einer Glaubenskrise. So sagt er im Zusammenhang mit einem deutlichen Rückgang der Priesterberufe: „Die Hauptursache des Rückgangs der Berufungen ist meiner Meinung nach nicht eine Krise des Glaubens, der Religiosität, nicht einmal der Demographie, sondern die Situation in den Familien.“ (29)

Das Bild, das der Erzbischof von seiner Kirche entwirft, ist – vergleicht man es mit den westlichen Schwesterkirchen – durchaus positiv. So erklären sich 96% der Polen als Katholiken. Am sonntäglichen Gottesdienst nehmen, bei deutlichen Unterschieden zwischen Stadt und Land, immerhin 41% der Gläubigen teil, was allerdings gegenüber 1980 einen Rückgang von 10% bedeutet. Besonders unter der Jugend wie auch unter den jungen Frauen wächst die Distanz zur Kirche. Auch an Priestern besteht vorerst kein Mangel; nach der Zählung von 2009 waren es 24 455 Diözesan- und 5 687 Ordensgeistliche. Dieser Befund macht es verständlich, dass die Laien auf die kirchlichen Strukturen und Entscheidungen kaum Einfluss nehmen können. So setzt sich denn auch Erzbischof Michalik gegenüber dem westlichen Europa ab, wo er mit einer „Klerikalisierung der Laien“ und einer „Laisierung des Klerus“ eine „Vermischung der Charismen“ ausmacht. (99).

Trotz einer im ganzen positiven Bilanz versagt sich der Erzbischof jeden Triumphalismus. So kommen gewisse Negativphänomene zur Sprache wie der Amtsverzicht von Priestern, Alkoholismus unter Geistlichen, Missbrauchfälle, denen gegenüber es keine Toleranz geben dürfe, sowie Homosexualität unter Klerikern, ohne dass diese Erscheinungen allerdings in ihrer Häufigkeit belegt würden. Besondere Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang die Meinung des Erzbischofs, Priester, die Kinder in die Welt setzen, sollten ihr Amt aufgeben, um den Kindern Vater sein zu können.

Diese binnenkirchliche Sicht des Interviewbandes wird ergänzt durch die Ansicht des Vorsitzenden der Bischofskonferenz zu den Bereichen Medien und Politik. Was die weltlichen Medien betrifft, so wird bereits in der Kapitelüberschrift suggeriert, dass ihre Berichte über die Kirche einem „Zerrspiegel“ gleichen. (121) Es gebe zwar auch über die Kirche wohlwollend berichtende Journalisten, „doch könne man nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, dass es weiterhin gegen die Kirche feindlich eingestellte Medien gibt, voller Aggressivität und Geringschätzung des Christentums.“ (125) Dieser Feststellung kann man zwar in Kenntnis der polnischen Medienlandschaft durchaus zustimmen, freilich unter dem Vorbehalt, dass darunter nicht eine verbreitete kritische Berichterstattung fällt, die der Erzbischof nicht eigens unterscheidet, sondern offenbar den kirchenfeindlichen Medien zurechnet.

Gleichsam als Gegenpol zu den „Zerrspiegel“-Medien erscheint das Medienimperium von Pater Rydzyk, als dessen Fürsprecher Erzbischof Michalik immer schon galt. Angesichts der Aggressivität, mit der der Direktor von „Radio Maryja“ gegen vermeintliche und wirkliche Kirchenfeinde sowie gegen innerkirchliche Gegner vorgeht, ganz zu schweigen von den antisemitischen Ausfällen des Senders, die immer wieder zu Protesten im In- und Ausland geführt haben, verwundert es den Leser doch, wie leichthin der Erzbischof über diese „gelegentlichen Entgleisungen“ hinweg geht, die der „entschieden positiven Bilanz“ keinen Abbruch täten. (127) Dagegen macht der Vorsitzende der Bischofskonferenz aus seiner Ablehnung des „Tygodnik Powszechny“ kein Hehl. Die kirchenkritische Funktion, welche die angesehene Krakauer katholische Wochenzeitung bei kirchlichen Auseinandersetzungen in der Tat erfüllt, wird vom Erzbischof als mangelnde kirchliche Loyalität wahrgenommen und der Redaktion unterstellt, „für die Wahrheit blind zu sein, wenn sie gegen ihre ideologischen Vorurteile verstößt.“ (132)

Diese Sicht der Dinge ist von einem Gegensatz zu einem „offenen Katholizismus“ bestimmt, wie er vom „Tygodnik Powszechny“ vertreten wird. Der habe in der Vergangenheit durchaus seine Verdienste gehabt, habe sich aber heute überlebt und sei zudem diskreditiert, weil er sich – worauf Erzbischof Michalik ausdrücklich verweist – in der Auseinandersetzung um einen Antisemitismus in Polen dazu habe verleiten lassen, sich an der durch die Bücher von Jan Tomasz Gross[8] provozierten „Kampagne zur Demütigung der Polen“ zu beteiligen. (131) Deutlicher kann kaum einem selbstkritischen, sich auf Dialog und Argumentation einlassenden „offenen Katholizismus“ eine Absage erteilt werden.

Eine solche Denkweise ist stark konfrontativ und lässt wenig Raum für Kompromisse. So ist denn auch das Kapitel über das Verhältnis der Kirche zum Staat vom Konflikt zwischen Natur- und Staatsrecht bestimmt. In diesem Kontext unterstellt Erzbischof Michalik dem Staat „totalitäre Tendenzen“. Er „versuche, sich nicht nur der Bereiche des Naturrechts zu bemächtigen, sondern zugleich auf die Freiheit unseres Gewissens Einfluss zu nehmen.“ (138) Dass es in einer pluralistischen Gesellschaft, und eine solche ist auch Polen, unmöglich ist, etwa in der Abtreibungsfrage sowie neuestens bezüglich der Zulässigkeit künstlicher Befruchtung auf demokratischem Weg das Naturrecht eins zu eins in staatliches Recht umzusetzen, und es daher – auch im Interesse der Kirche – im Sinne des geringeren Übels - um Kompromisse gehen muss, wird vom Vorsitzenden der Bischofskonferenz nicht erwogen. Als politisches Vorbild dient ihm ausgerechnet der für die Missachtung demokratischer Prinzipien von der Europäischen Union gerügte ungarische Premier „Viktor Orbán, der seine Politik auf starke moralische Fundamente stützt“, wobei der Erzbischof zusätzlich betont, dass „wir ein solches Zeugnis von Grundsatztreue brauchen.“ (150)

Wenngleich es sich bei dem Glaubensrapport von Erzbischof Michalik nicht um eine offizielle Stellungnahme, sondern um seine persönliche Meinung handelt, so dürfte
aber doch seine Sicht der Dinge vom Großteil des Klerus geteilt werden.

Abendrot einer offenen Kirche?

Der innerkirchliche Konflikt um Adam Boniecki, den ehemaligen Chefredakteur des „Tygodnik Powszechny“, ist ein deutliches Zeichen einer Abkehr von einer offenen Kirche, die über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen vermag und zu einem Dialog mit Nichtglaubenden bereit ist. Bestätigt wird diese Tendenz durch Erzbischof Józef Michalik, der in seinem Glaubensrapport, wie bereits gesagt, einen offenen Katholizismus als überlebt betrachtet. Dabei gibt es innerhalb des Polnischen Episkopats eine eigene Kommission für den Dialog mit Nichtglaubenden, deren gegenwärtiger Vorsitzender ausgerechnet Bischof Wieslaw Mehring ist, der sich im Konflikt um Adam Boniecki besonders hervor getan hat. Noch 1988 hatte diese Kommission ein Symposion „Nichtglaubende und Kirche“ veranstaltet, an dem so prominente Persönlichkeiten wie Adam Michnik, Marek Edelman und Bronislaw Geremek sowie neben Kurienkardinal Paul Poupard, dem damaligen Präsidenten des römischen Sekretarias für den Dialog mit Nichtglaubenden, drei polnische Bischöfe teilnahmen. Als 2001 ein ähnliches Symposion statt fand, war das Interesse seitens der Nichtglaubenden wie der Kirche nur mäßig.

Auch als in Krakau in Anlehnung an das interreligiöse Assisi-Treffen vom Oktober 2011 einen Monat später eine Veranstaltung „Assisi-Echo“ statt fand, an dem Vertreter christlicher wie nichtchristlicher Religionen teilnahmen, war der Zuspruch gering. Und nicht nur das. In einem offenen Brief an den Krakauer Kardinal Stanislaw Dziwisz protestierten traditionalistische Katholiken gegen diese Zusammenkunft. Sie sahen in ihr eine „Quelle des Indifferentismus und religiösen Relativismus, die in letzter Konsequenz zum Verlust des Glaubens führen.“[9]

Eine derartige radikale Ablehnung außerkirchlicher religiöser Kontakte entspricht gewiss nicht der offiziellen Linie der „polnischen“ Kirche. Aber sie spiegelt doch in extremer Form die Grundposition einer Kirche, die sich darauf beschränkt, die Herde der Gläubigen zusammen zu halten, und die wenig Anstalten zeigt, den verlorenen Schafen nach zu gehen. Man kann ihr nicht vorwerfen, sich um die eigenen Schafe zu wenig zu kümmern. Ganz im Gegenteil. Bischöfe und Priester mühen sich redlich ab, ihren pastoralen Pflichten gerecht zu werden und die Herde mit den nötigen Heilsmitteln zu versorgen. Und wenn von außen Gefahr droht, dann gehen Polens Hirten entschlossen und kämpferisch dagegen an. Die Statistiken belegen, dass diese den Evangelien entnommene Bildwirklichkeit von Hirt und Herde auf 60% polnischer Katholiken zutrifft. Das ist zwar die Mehrheit, doch die übrigen 40% haben sich von der Herde emanzipiert; sie verstehen sich als mündige Christen oder stehen mit der Kirche in einer nur losen Verbindung bzw. haben sich gänzlich von ihr abgewandt. Sie sind längst vom Prozess einer Säkularisierung eingeholt worden, den Erzbischof Michalik für Polens Kirche leugnet: Die nach dem Ende des Kommunismus vorhergesagten Prognosen „eines schnellen Triumphes der Idee des Laizismus und der Säkularisierung“ hätten sich „Gott sei Dank nicht bewahrheitet.“ Es fehle zwar nicht „an Krankheiten und Wunden, doch sie sind nicht dort vorhanden, wo man sie ausgemacht hat[10].“ Seine Sicht der Dinge dürfte damit zu tun haben, dass für ihn als Erzbischof von Przemysl im östlichen Polen die Einflüsse säkularer Lebensformen noch nicht so spürbar sind.

Anders verhält es sich in den Großstädten. So spricht etwa der Warschauer Metropolit, Kardinal Kazimierz Nycz, von einer „schleichenden Laisierung“, die im sozialen Umfeld eine „galoppierende Form“ angenommen habe. Als erster und bislang einziger Bischof sieht er im katholischen Polen geradezu ein Missionsland: „In Polen haben wir uns leider zu spät bewusst gemacht, dass wir eine missionarische Kirche sein müssen, weil neben uns Menschen leben, die aus unterschiedlichen Gründen Christus nicht kennen, die Kirche nicht kennen oder nur von außen wahrnehmen – sie gehen somit nicht zur Kirche, sie brauchen Missionare[11].“ Und zum letztjährigen Advent schrieb er in einem Brief an seinen Diözesanklerus: „Der Prozess eines Exodus aus der Kirche vollzieht sich im ganzen Land, insbesondere in den Großstädten. Es scheint, dass wir zu lange bei der Vorstellung geblieben sind, dass das Haus der Kirche 95% der Polen umfasst. Daher versuchen wir, so weit wie möglich, alle mit unterschiedslosen pastoralen Programmen zu erreichen. Dagegen bedarf ein bedeutender Teil unserer Gesellschaft einer ersten Evangelisierung[12].“ Doch dazu sei der Klerus nicht ausreichend vorbereitet.

Soll dieses Defizit behoben werden, dann darf es Polens Kirche nicht dabei belassen, sich so gut es geht gegen säkulare Tendenzen abzuschirmen, die Reihen geschlossen zu halten und ihren wirklichen wie vermeintlichen Feinden den Kampf anzusagen. Um jene zu erreichen, die – aus welchen Gründen auch immer – in Distanz zur Kirche leben, braucht es Menschen, die auf sie zugehen, die hören, was diese zu sagen haben, die ihre Argumente ernst nehmen und die auf dieser Basis fähig sind, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, selbst mit Nichtglaubenden. Eben über diese Fähigkeit verfügt der ehemalige Chefredakteur des „Tygodnik Powszechny“. Adam Boniecki hat stets in seinen Artikeln und Fernsehbeiträgen eine vermittelnde Position zwischen sacrum und profanum eingenommen und war damit auch für Menschen außerhalb der Kirche ein begehrter Dialogpartner. Dass ausgerechnet er, der wie kaum ein anderer eine offene Kirche verkörpert, um diese Wirksamkeit gebracht wurde, ist für die Zukunft der „polnischen“ Kirche alles andere als ein Hoffnungszeichen.

(Zur Person des Autors: Katholischer Theologe und promovierter Germanist. Seit Mitte der 1960er Jahre im deutsch-polnischen Dialog engagiert. 1972 – 1979 Aufenthalt in Polen und Mitarbeiter des Tygodnik Powszechny. 1979 – 1993 Dozent eines Ost-West-Instituts mit Schwerpunkt DDR und Polen. Vorsitzender des Gesamteuropäischen Studienwerks e. V. Vlotho. Mehrere Jahre Vorstandsmitglied der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung. 2001 in Anerkennung seiner Verdienste für die deutsch-polnische Verständigung mit dem Kavalierskreuz des Verdienstordens der Republik Polen ausgezeichnet. Publizist und Übersetzer aus dem Polnischen.)


© imprimatur Mai 2012
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[1]Adam Boniecki, Nie poprzestac na tym, co zwykle, Tygodnik Powszechny vom 20. November '11, S. 2.
[2]http://www.klubtygodnika.pl/2011/dialog_który_prowadzi_do_prawdy/7/
[3]Andrzej Zoll, Powinien zostac, Tygodnik Powszechny vom 8. Januar 2012.
[4]Franz Neumann, Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933-1944, Frankfurt 2004, Tb Fischer.
[5]Artur sponiak, Rozmowa pozorowana, Tygodnik Powszechny vom 13. November 2011, S. 16.
[6]Agnieszka Sabor, Religion in der polnischen Kunst: Die vertane Chance, Deutsches Polen Institut (Hg.), Jahrbuch Polen 2009. Religion, Wiesbaden 2009., S. 72.
[7]Józef Michalik, Raport o stanie wiary w Polsce, Radom 2011, S.219.
[8]J. Tomasz Gross, Sasiedzi. Historia zaglady zydowskiego miasteczka, Sejny 2000; drs. Strach. Antizemityzm w Polsce tuz po wojnie, Kraków 2006.
[9]http://rebelyga.pl/forum/watekk/39629.
[10]J.Michalik, Raport o stanie wiary w Polsce, a. a. O., S. 7f.
[11]Interview mit Erzbischof Kazimierz Nycz, Misjonarz w metropoli, Tygodnik Powszechny vom .2. Juli 2009.
[12]Adam Boniecki, 2012: miedzy sacrum a profanum, Tygodnik Powszechny vom 1. Januar 2012, S. 2.