Katholische Reformbewegungen weltweit |
Wie mit jüdischen Shoah-Deutungen christlich umgehen? |
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Was in Österreich und Deutschland begann, setzte sich in vielen europäischen Ländern, aber auch in anderen Kontinenten fort. Am Anfang stand ein „Kirchenvolks-Begehren“, das 1995 in Österreich durchgeführt wurde, eine Unterschriftenaktion, die die Erneuerung der römisch-katholischen Kirche in konkret benannten Bereichen forderte. Wichtigste Forderungen waren und sind es im Wesentlichen bis heute: Aufbau einer geschwisterlichen Kirche, volle Gleichberechtigung der Frauen, freie Wahl der Priester zwischen zölibatärer und nicht-zölibatärer Lebensform, positive Bewertung der Sexualität und Versöhnungsbereitschaft gegenüber wiederverheirateten Geschiedenen und Priestern ohne Amt.
Die Reaktionen des „Kirchenvolkes“ zeigen im Einzelnen, so die Herausgeberin, dass es den „Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils“ aufgenommen hat und diesen mit kreativen Initiativen innerhalb der Kirche „im Sinne der Moderne“ durchsetzen will. Sie informiert zudem die Leserinnen und Leser in einer einleitenden „Entstehungsgeschichte“ über die unterschiedlichen, nicht immer einfachen Wege ihrer Recherche, die immerhin zu 130 Kontakten führte: Unterschriftenaktionen, Reformbewegungen, Volksbegehren, Bücher, Artikel, Mailkontakte etc. Die Autorin ist überzeugt, dass auf diese Weise ein „informatives Nachschlagewerk“ entstanden ist, das ausweisen kann, wie intensiv weltweit die Bemühungen um eine Erneuerung der katholischen Kirche sind.
Im Einzelnen gliedert sich das Nachschlagewerk nach Reformbewegungen unterschiedlicher Art im deutschsprachigen Raum (Österreich, Südtirol, Deutschland, Schweiz), im übrigen Europa und in außereuropäischen Ländern, jeweils befragt nach Entstehung, Selbstverständnis, Zielen und Aktivitäten der einzelnen Bewegungen und Gruppen. Die Informationen beginnen mit dem Kirchenvolks-Begehren von 1995 in Österreich und enden mit der Priesterinnen-Bewegung von „Women`s Ordination worldwide“ von 1996, die vor allem in den USA, in den Erneuerungsgruppen von „Roman Catholic Women`s Priests” agiert. Was also in Österreich begann, setzte sich in vielen europäischen Ländern und auf anderen Kontinenten fort, wobei sich zeigt, dass die grundlegenden Reformziele im Wesentlichen, wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen, übereinstimmen. Zu den einzelnen Reformbewegungen finden sich Beschreibungen ihrer Entstehung, Forderungen und Aktivitäten mit entsprechenden Kontaktadressen.
Der Verlag stellt uns das Buch vor als „Das erste Nachschlagewerk zur katholischen Erneuerungsbewegung“. Die Herausgeberin hofft, „dass damit ein informatives Nachschlagewerk entstanden ist, das zeigt, wie intensiv weltweit die Bemühungen um eine Erneuerung der katholischen Kirche sind“ (Zur Entstehungsgeschichte). Allen Erneuerern zur Ermutigung wird der Innsbrucker Jesuit Julius Morel, (1927-2001) zitiert, der „sich Zeit seines Lebens für Reformen in der katholischen Kirche“ eingesetzt hat: „Nach dem Winter kommt mit naturwissenschaftlicher Sicherheit der Frühling. Im Sinne des christlichen Glaubens ist gesichert, dass auf die winterliche Kälte eine frühlingshafte Kirche folgen wird. Sobald die Christen bereit sind, radikale Erneuerungen zu finden und zu verwirklichen“ (Zur Ermutigung). Das Buch will diesem „Frühling der Kirche“ durch Vernetzung und Solidarisierung der unterschiedlichen Erneuerungsbewegungen einen wichtigen und weltweiten Dienst leisten.
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Paul Petzel
Wie mit jüdischen Shoah-Deutungen christlich
umgehen?
Die Wolloch-Haggada. Passa Haggada zum Gedenken an den Holocaust. Künstlerische
Gestaltung und Einleitung von David Wander. Kalligrafie und Mikrografie von
Yonah Weinrib, hg. v. Peter van der Osten-Sacken und Chaim Z. Rozwaski unter
Verwendung der deutschen Übersetzung der Haggada von David Cassel. Mit
Erläuterungen und Begleitheft, Institut Kirche und Judentum Berlin 2010,
119 Seiten (Beleitheft 41 S.)
„Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Mit diesem geradezu beschwörenden
Ruf endet die Sederfeier, die häusliche Feier am ersten
Abend des jüdischen Pessachfestes. Seinen ersten „Sitz im Leben“
hat diese sehnsuchtsvolle Gewissheit im babylonischen Exil, das nicht weniger
als eine Katastrophe für die Juden war. Im Rahmen der Erinnerung an den
Auszug aus Ägypten wird auch die Not des Exils artikuliert und in eine
Hoffnungsperspektive gerückt. Die Pessachfeier ist also „absorptionsfähig“:
sie hat nachweislich die Leiden und Hoffnungen der Juden durch die Jahrhunderte
hindurch aufgenommen. Mit Nostalgie hat ihre Weise der Erinnerung also nichts
zu tun, mit kühlem Dokumentieren ebenso wenig. An zentraler Stelle rückt
vielmehr die alte Geschichte vom Auszug aus der Sklaverei ganz explizit und
appellativ in die Gegenwart der Feiernden, wenn es innerhalb des Seder-Rituals
heißt: „In jedem Zeitalter ist der Mensch verpflichtet, sich so
anzusehen, als sei er selbst aus Ägypten ausgezogen; denn es heißt:
Und du sollst verkünden deinem Sohne an jedem Tage: (All dies da) um dessentwillen,
was der Ewige mir getan hat, als ich aus Ägypten zog.“ Das hodie
in den Wandlungsworten am Gründonnerstag ist aus eben diesem Holz engagierten
vergegenwärtigenden Gedenkens geschnitzt...
Die Feier des ersten Abends des Pessachfestes folgt einer quasi liturgischen Ordnung (hebr. Seder); deshalb heißt er Sederabend. Es ist ein Gefüge von Erzählungen des Auszugs, rabbinischen Kommentaren, rituellem Essen, von zahlreichen Segenssprüchen, aber auch didaktischen Momenten, wenn jeweils der Jüngste am Tisch nach dem Spezifischen dieser abendlich-nächtlichen Feier gefragt wird. Die Pessach-Haggada, das Buch, das die Erzählungen enthält, aber auch den Ablauf der häuslichen Feier klarmacht, dürfte das populärste Buch des religiösen Judentums darstellen. Die Pessach-Haggada liegt in zwei großen Texttypen vor: einem kürzeren, wie ihn das sephardische, also südwesteuropäische, orientalische und nordafrikanische Judentum entwickelt hat, und dem umfangreicheren der aschkenasischen Juden in West-, Mittel- und Osteuropa. Beide Typen kennen wiederum je unterschiedliche Versionen. Seiner Bedeutung entsprechend verwundert es nicht, dass die Haggada vielmals illustriert und illuminiert wurde. Weit über 200 solche bibliophile Ausgaben sind bekannt; z.T. stammen sie von bedeutenden Künstlern wie dem Wiener phantastischen Realisten unserer Tage, Arik Bauer.
Die Wollach-Haggada fügt sich in diese Reihe ein. Ihre englisch-hebräische Erstausgabe erschien schon 1985; die deutsch-hebräische Ausgabe 2010. Sie bietet den aschkenasischen Text in einer weitverbreiteten, quasi „klassischen“ Übersetzung. Ihr spezifisches Profil erhält sie durch ihre Entstehung, mit der wiederum ihre Illustration engstens zusammen hängt. Zygfryd Wolloch, ein Lemberger Jude, heiratete nach der Shoah die Krakauer Jüdin Helene Wand. Beide sind Überlebende der Shoah, die die meisten ihrer Familienangehörigen in den KZs verloren haben. Sie beauftragen in den 1970er Jahren den Grafiker David Wander mit der Illustration der Haggada, um auf diese Weise des Holocaust gedenken: „Wie die Sklaverei und die Schrecken des Lebens in Ägypten schließlich zur Schaffung einer Heimat für die Kinder Israels führte – es schien dies eine Parallele zu den neueren Schrecken in Europa zu sein, die die Schaffung eines jüdischen Staates zur Folge hatten.“ (5) Wander verwebt und überblendet auf dreizehn ganzseitigen Pastellkreidezeichnungen und in vignettenähnlichen Bildelementen zum jeweiligen Textabschnitt auf fast jeder Textseite Motive der Exodustradition mit Bildern der Shoah. Diese Illustrationen versteht er als bildhafte Midraschim, also Auslegungen des Textes. Yonah Weinrib kalligrafierte den hebräischen Text und steuert als Rabbiner, der er zugleich ist, Kommentare zu Wanders Bildern bei, die die Verschränkungen von Exodus und Shoah-Momenten klar machen.
So erscheint etwa das rote Meer, da sich teilt, wie ein blutrotes Bollwerk. Die Wellen, durch einen Zeichenstil der Neuen Sachlichkeit gleichsam in einen steinernen Aggregatzustand überführt, laufen in scharfen Spitzen aus. Feindselig recken sie sich zur freigegeben Passage, also zum Weg der Flüchtenden. In der Perspektive dieses Wegs erscheint in der lichten Ferne der Berg Sinai, über ihm, auf knapp zwei Dritteln des Bildes, macht sich ein Konglomerat rotbräunlicher Wolken breit. Links und rechts der Passage, direkt an die Wellenformationen anschließend, erheben sich die Schlote der Vernichtungslager neben den Pyramiden. Als sei dieses Bildarrangement noch nicht eindeutig genug, erläutert Weinrib: „Der Himmel ist bezogen mit blutgetränkten Wolken von Opfern des Holocausts. Sie sind vermischt mit dem (Blut) jener Juden, die in jeder Generation getötet wurden. Die Pharaos, die Hitler einer jeden Generation stehen auf, um uns zu vernichten, doch Gottes Verheißung für das Volk Israel reicht hinauf über das Dunkel. (..) Die Wasser des Roten Meeres, Wasser, die gefüllt sind mit dem Blut Deines Volkes, werden sich eines Tages teilen und Gottes Majestät vom Sinai offenbaren. Alles Leid wird aufhören und Gott wird uns erlauben, hinter die Vorhänge der Dunkelheit zu spähen und Seine Ewige Absicht zu verstehen.“ (28) Ähnlich wird ein Berg von Koffern, wie er pars pro toto für die Vernichtung steht und sich als solcher dem kollektiven Bildgedächtnis eingeprägt haben dürfte, als Pyramide aufgeschichtet gezeigt. Dieses Bild der Kofferpyramide illustriert den Satz: „Wir bauten große Städte für Pharao.“ (31)
Diese Überblendungen, ja Identifizierungen von Exodus und Holocaust können weitergeführt werden, so dass Motive der Haggada in ihrem Sinn uminterpretiert werden: Das Blut des Pessachlammes, dessen Blut auf den Türpfosten die Hebräer in der Nacht des Auszugs doch vor dem umgehenden Todesengel schützte, wird hier zum Blut der Holocaustopfer, dessen Deutung an Tempelopfer anschließt. So Weinrib: „Wir waren das heilige Opfer, das zum Schlachten geführt wurde, das einsame Lamm, dessen Blut zur Heiligung Deines Namens versprengt wurde.“ ( 50) Wander illustriert analog sehr frei: Das Lamm, dessen Tötung im biblischen wie im haggadischen Text keinerlei grausame Konnotationen kennt, zeigt hier ein bei lebendigem Leibe enthäutetes Bein und spielt damit ein jiddisches Gebot ein, das Grausamkeit gegenüber Tieren verbietet....Statt Bitterkräutern, die im Text genannt werden, zeigt Wander den gelben Judenstern, statt Mazzen einen Flecken der gestreiften Häftlingskleidung.
Der Band ergänzt den traditionellen Haggada-Text um ein Glaubensbekenntnis, näherhin den zwölften der dreizehn Glaubenssätze des Maimonides. Der zitierte Satz beharrt auf dem Kommen des Messias, selbst für den Fall, wie knapp ergänzt wird, wenn er vorbeigezogen sein sollte... Dem folgen zwei berühmte jiddische Lieder: „S´ brennt“ von Mordechai Gebirtig und die „Hymne“ der jüdischen Partisanen in Wilna: Sog nit keyn mol as du geyst den letzten weg“ - Lieder, die Zeugnischarakter besitzen.
Der evangelische Theologe, Peter von der Osten-Sacken, einer der bedeutenden „Agenten“, ja, Pioniere der christlich-jüdischen Verständigung, hat den Band zusammen mit dem Berliner Rabbiner Chaim Rozwaski herausgegeben. Doch nicht nur das. Er hat ihm auch ein Begleitheft beigegeben, das vorzüglich gemacht ist: knapp und präzis werden Informationen zum Verständnis des Sederabends gegeben; subtil werden die Motivkombinationen und -aufnahmen der Wanderschen Zeichnungen bewusst gemacht und der Farbgebrauch bis hinein in die Kalligrafie, was sich wiederum auf die Bilder bezieht. So wird deutlich, wie dicht Haggada-Erzählung und Shoah miteinander verwoben werden.
Der „Sound“ der Wanderschen Bilder ist schwer und düster. Dunkle Töne, oft Braun, Rot und Grau, dominieren. Die Zeichenart nimmt Symbolistisches und die Manier des Art déco auf. Oft sind die Bilder streng vertikalsymmetrisch aufgebaut. Das zusammengenommen verleiht ihnen Pathos und Monumentalität.
Ich muss gestehen, dass mich diese Haggada-Ausgabe, als christlich-jüdisches Projekt in Deutschland ediert, ziemlich ratlos macht. Kann, darf die Shoah so direkt, ungebrochen mit dem Exodusgeschehen identifiziert werden? Droht das Anliegen, dem für uns nicht erahnbare Trauma der Überlebenden, aber auch der Nachgeborenen Gestalt zu geben, nicht selbst die Haggada zu dominieren? Und wird die Shoah nicht geradezu ungebrochen sakralisiert? Innerjüdisch ist diese Art von Holocaustdeutung gewiss stark umstritten. Für nicht wenige orthodoxe Juden nimmt sich eine solche Deutung ebenso schwierig aus wie etwa für einen Emil Fackenheim, der jede Sinngebung des Holocaust verweigert[1]. Ob die Haggada - wie eingangs angeführt, von ihrer Struktur her durchaus auf Aktualisierung angelegt - eine so weitgehende erlaubt, ist umstritten. So meint jedenfalls Hans Isaac Grünewald mit Blick auf frühere Haggadot aus israelischen Kibbuzim: „Sie vergleichen nicht nur die Errettung der Verfolgten, die der Ermordung entgangen sind, mit dem damaligen Auszug aus Ägypten, was statthaft wäre, sondern messen ihr auch die gleiche Bedeutung zu. Letzteres scheint dem religiösen Juden deshalb nicht annehmbar, (...)[2]“
Doch sei umgehend vermerkt, dass auch solche Einwände wohl schon zu weit gehen. Wie Juden und Jüdinnen mit dem unauslotbaren Trauma der Shoah umgehen, kann und darf christlicherseits nicht bewertet werden. Wir haben das Unsere zu tun: Uns religiös und theologisch, kollektiv wie individuell-biografisch aus Täterzusammenhängen zu begreifen. Doch wo ist das geschehen? Wie gebrochen singt sich eigentlich das allsonntägliche Gloria? Sind Gemeinden jemals seit 1945 dabei ins Stocken geraten, weil sie etwa das Gefühl beschlichen hätte, der zu rühmende Gott lege vielleicht auf ihr Lob – im Schatten von Leichenbergen - keinen besonderen Wert? Wie ungebrochen und von der Shoah unberührt nimmt sich der Glaube so vieler – der von Amtsträgern, aber auch von Gläubigen an der Basis - aus? Wie wenig, wenn denn überhaupt, wird das Erinnern an die Opfer der Shoah als religiöse Aufgabe erkannt und anerkannt?! Warum läuten zur Erinnerung der Reichskristallnacht am 9. November nicht etwa die Glocken? (Sie läuten in Dresden durchaus zur Erinnerung an die Nacht der Bombardierung!) Allein diese Fragen mögen befremdlich klingen und bestätigten dann doch nur, wie unbetroffen unser Glaubensbewusstsein weithin geblieben ist. Im vielleicht größten Diskurs, der überaus breit geführten gesellschaftlichen Diskussion ums Erinnern der NS-Zeit seit der Mitte der 1980er Jahre waren jedenfalls christliche, kirchenamtliche wie theologische Stimmen, kaum zu hören[3].
Doch gerade auf einem solchen Hintergrund könnte eine Shoah-Deutung, wie sie in der Wollach-Haggada vorliegt, für eine christliche Rezeption allzu verführerisch sein. Zum einen wird, wenn auch dunkel-abgründig, das menschheitsgeschichtlich größte Verbrechen, an dem Verstand und Sprache so vieler zerschellt sind, in einen Sinnzusammenhang gebracht. Das entlastet uns vorab. Zum anderen werden Deutekategorien des Opfers bereitgestellt, die gerade einer katholischen Tradition allzu vertraut sind. Eine christologische, näherhin sühnopferchristologische Adaption wäre ein Leichtes, ja, mag sich manchen Theologen und Theologinnen zumal in der heutigen Zeit mit restaurativen Tendenzen geradezu aufdrängen. Schließlich spricht christliche Tradition schon lange vom Gewaltopfer Jesus als dem Paschalamm. Dann aber wäre das wieder akut, wovor der Herausgeber v.d. Osten-Sacken schon früh und engagiert gewarnt hat: „… die unbeantwortbaren Fragen des Holocaust einer raschen christologischen Lösung zuzuführen[4]“. Gerade das aber könnte umso nachhaltiger vom gründlichen „Umpflügen des gesamten Ackers“ von Glaube und Theologie absolvieren.
Die Wollach-Haggada bleibt somit ein, wie zu hoffen bleibt, anstößiger Widerstand, dem mit Respekt zu begegnen, dessen etwa religionspädagogischer oder gemeindepastoraler Gebrauch m.E. aber nicht zu empfehlen ist.
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Lutz Lemhöfer
Matthias Drobinski / Claudia Keller, Glaubensrepublik
Deutschland. Reisen durch ein religiöses Land
Herder, Freiburg 2011, 200 Seiten, 16,95 €
Zu der Frage „Wie religiös ist Deutschland?“ gibt es reichlich statistische und soziologische Untersuchungen mit klugen Bemerkungen zur Säkularisierung und Pluralisierung der Religion. Matthias Drobinski und Claudia Keller, Journalisten mit Schwerpunkt Kirchen und Religionen bei der „Süddeutschen Zeitung“ bzw. beim Berliner „Tagesspiegel“, drehen die Frage leicht um: Wie ist Deutschland religiös? Ihr Buch liefert kluge und einfühlsame Porträts von Menschen, die auf ihre sehr persönliche Weise glauben. „Maria Anna ging in die radikale Einsamkeit, um Gott zu suchen. Johanna braucht dazu die Menge der Gleichgesinnten und Jürgen die Natur, nachts und bei Schneegraupel. Maximilian fand bei der Piusbruderschaft die Strenge im Glauben und die Form in der Liturgie; Agnes suchte das Gegenteil: die passende Religion zum Lebensgefühl.“ (S.7)
Auf diese Weise betreten Leserinnen und Leser sehr verschiedene Glaubenswelten: vom verblassenden Volks-Katholizismus in Bayern bis zur zögerlichen Patchwork-Religiosität der säkular aufgewachsenen Ostdeutschen; von der evangelischen Minderheits-Gemeinde im Magdeburger Neubauviertel bis zur evangelikal-charismatischen Mega-Church in Stuttgart; von Muslimen, die in der zweiten Generation oder als Konvertiten die gemeinschafts- und identitätsstiftende Kraft des Islam für sich entdecken, bis zu höchst geschäftigen und geschäftstüchtigen Vermarktern einer hinduistisch verankerten Yoga-Philosophie. Von den drei Generationen einer jüdischen Familie bis zum dezidiert agnostisch-atheistischen Ehepaar. Das Besondere dieser Porträts: Nicht amtliche Vertreter stellen ihre Religion vor, sondern höchst unterschiedlich und subjektiv glaubende Menschen. Ergänzt werden diese Porträts durch kurze Reflexionskapitel der Autoren, die in behutsamen Analysen ein paar systematische Perspektiven zur jeweils besprochenen Glaubenswelt anbieten.
Die Bandbreite dessen, was Religion bedeuten kann, ist in diesen Beiträgen enorm. Sie kann auf der einen Seite bestimmt sein vom unverkrampften Eintauchen in Gemeinschaft und Tradition, wie bei der jüdischen Familie Marcus. „Vor ein paar Jahren hat eine jüdische Freundin von ihrer spirituellen Suche erzählt. ‚Spiritualität‘? Miriam Marcus kommt das Wort schwer über die Lippen. ‚Was sollte das sein?‘ Sie hat lange darüber nachgedacht, ob bei ihr etwas nicht stimmt, weil sie noch nie nach Spiritualität gesucht hat. Dann ist ihr klar geworden: ich suche nicht danach, weil ich sie habe.“ (S.143) Nämlich im selbstverständlichen Befolgen der Traditionen und Rituale des Judentums, vom Schabbat bis zur Hochzeit ‚unter der Chuppa‘. „Sie brauche kein persönliches Verhältnis zu Gott, auch kein irgendwie geartetes Verschmelzen mit etwas Höherem, dem Universum oder so. Gott müsse sich ihr nicht offenbaren. ‚Das hat er schon getan, er hat sich meinen Vorfahren offenbart, das ist abgeschlossen.‘ (…) Jüdischsein bedeutet, das Echo aus dieser Vergangenheit zu hören und sich als Teil der Gemeinschaft zu fühlen.“ (S. 143 f) – Am anderen Ende des Spektrums würde sich etwa das Vidya-Yoga-Zentrum in Bad Meinberg finden, das die Autoren als eine fernöstlich inspirierte Wellness-Oase erleben: „Religion und Spiritualität sind Dienerinnen des Wohlbefindens. Religion ist gut, wenn sie dir gut tut; tut sie das nicht, lass sie weg. Wir vertreten eine Lebensphilosophie, heißt es in Bad Meinberg, da sind die Riten und Bilder des Glaubens hilfreich, aber nicht notwendig. Viele, die hierher kommen, suchen genau das, eine Religion, die sich nicht aufdrängt.“ (S.283) Ähnlich große Diskrepanzen wie zwischen den hier beschriebenen Formen von Religiosität finden sich im übrigen innerhalb der Glaubensgemeinschaften selbst, nicht zuletzt innerhalb des real existierenden Katholizismus.
So lautet das Fazit dieses Buches im Nachwort: „Die Landschaften der Glaubensrepublik Deutschland sind zerklüfteter geworden, felsiger, das Liebliche ist seltener geworden. Die Gräben zwischen religiösen und säkularen Lebensformen haben sich vertieft. Konservative Katholiken und solche, die auf den Papst wütend sind, finden manchmal gar keine gemeinsame Sprache mehr, ebenso wenig strenggläubige und weltlich orientierte Muslime. Zugenommen hat auch die Hitze der Debatten zwischen den Aggressiven unter den Atheisten und den Gläubigen, zwischen Muslimen und Islam-Hassern, Juden und Israel-Kritikern, die manchmal die Grenze zum Antisemitismus verschwimmen lassen. Religionsfragen sind Identitätsfragen geworden, umso mehr, als viele andere Identitätsfragen verschwunden sind. (…) Religion ist also wichtiger geworden in Deutschland, obwohl die Zahl der Gläubigen abgenommen hat.“ (S.199)
Schon um der sensiblen Analysen willen lohnt es sich, dieses Buch zu lesen.
Die würde es freilich, meist in abstrakterer Form, auch woanders geben.
Das Besondere an den Reportagen ist der subjektive Zugang, nämlich über
die Subjekte der Religion, die Gläubigen. Den erfahrenen Journalisten ist
es gelungen, intime Einblicke in persönliche Glaubenswelten zu vermitteln,
ohne dabei respekt- oder distanzlos zu werden. Bewertungen vermeiden sie, was
die Beobachtungen umso eindrücklicher macht. Das Bändchen verbindet
Gescheitheit mit Lesevergnügen; wer immer an Religion(en) in Deutschland
interessiert ist, wird es mit Gewinn lesen.
© imprimatur Mai 2012
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