Werner
Stenger
Das für alle vergossene Blut
Wir erinnern an die Zeit der Einführung des „für alle“
mit dem Text des inzwischen verstorbenen Theologen Werner Stenger.
Immer wieder beschäftigen sich Leserbriefe mit der Frage, ob die neue
Übersetzung der Kelchworte im Einsetzungsbericht richtig ist. Ein Beispiel:
„In den neuen Hochgebeten heißt es bei den Konsekrationsworten,
mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird. Die
Worte ,für alle’ sind falsch:
- Aus sprachlichen Gründen: In Mt 26,28 lauten die fraglichen
Worte ,perì pollôn’ und in Mk 14,24 ,hypèr pollôn.
Das heißt deutsch ,für viele’, nicht ,für die Vielen’
und erst recht nicht ,für alle’. Man sagt, der Hebraismus
,die Vielen’ bedeute dasselbe wie ,alle’. Woher weiß man
so sicher, dass im Einsetzungsbericht dieser Hebraismus vorliegt? Auch im
Matthäusevangelium, in dem die meisten Hebraismen vorkommen dürften,
darf man nicht jedes ,polloí’ und nicht einmal jedes ,hoi polloí’
mit ,alle’ übersetzen, weil sonst große Ungereimtheiten
herauskämen, z. B. bei Mt 8,11 oder gar bei Mt 24,11 ff.
- aus exegetischen Gründen: Aus dem Kontext der Stelle geht
ziemlich klar hervor, dass Jesus nicht von einer Intention sprach, die auf
alle Menschen gerichtet war, sondern von dem tatsächlichen Effekt seines
Opfers, d. h. von der Rettung vieler, nicht aller Menschen. Jesus schließt
nämlich mit den Worten: ,zur Vergebung der Sünden’.
- aus seelsorglichen Gründen: Wir dürfen den Leuten nicht
suggerieren, es kämen - wie ein populärer Schlager behauptet –
,alle in den Himmel’. Es ist eine Glaubenswahrheit, dass es
eine Hölle gibt und dass Menschen von Gott verdammt werden (nach Mt 7,13
verhältnismäßig viele). Vielleicht hat Jesus deshalb gesagt,
sein Blut werde für ,viele’ vergossen, weil er auch an
die anderen dachte, die trotz seines Opfers keine Vergebung der Sünden
erlangen würden.“
gd bat einen Exegeten um Stellungnahme. Hier die Antwort von Werner Stenger,
Assistent an der Universität Regensburg:
Verschiedene Übersetzungen
- Liest man in einem älteren Schott die Übersetzung des Einsetzungsberichtes,
findet man im Deutewort über den Kelch den Wein als „… mein
Blut, das für euch und für viele vergossen wird“
bezeichnet.
Schon die erste neue Übersetzung des Römischen Kanons veränderte
in: „für die vielen“. Jetzt lautet die Stelle sogar:
„für alle“.
Was ist der Hintergrund dieser Veränderungen?
„Für euch und für alle“ –
eine Kombination
- Vergleicht man die neutestamentlichen Berichte über die
Einsetzung des Herrenmahles (Mk 14,22-25; Mt 26,26-29; Lk 22,15-20; 1 Kor
11,23-26) mit den Einsetzungsberichten der liturgischen Hochgebete, erkennt
man, dass hier keiner der neutestamentlichen Einsetzungsberichte wortwörtlich
wiedergegeben wird. Das zeigt sich gerade am Deutewort über den Kelch.
Wenn es darin heißt: „für euch und für alle“,
so ist das der Versuch, die sich unterscheidenden Einsetzungsberichte des
NT miteinander zu kombinieren. Das „für euch“ nimmt
nämlich die Formulierung des lukanisch-paulinischen Typs des Einsetzungsberichtes
auf (hypèr hymôn Lk 22,20; 1 Kor 11,24). Das „für
alle“ bezieht sich auf den markinisch-matthäischen Typ (perì
pollôn Mt 26,28; hypèr pollôn Mk 14, 24).
„Für euch“ – eine liturgische
Stilisierung
- Welche der beiden Formulierungen ist aber ursprünglicher,
„für euch“ oder „für alle“?
Zwar scheint der lukanisch-paulinische Typ des Einsetzungsberichtes aufs Ganze
gesehen älter zu sein. Lukas wie Paulus berichten nämlich von dem
Mahl, das zwischen der Darreichung des Brotes und der Darreichung des Kelches
stattfand (metà tò deipnêsai Lk 22,20; 1 Kor 11,25). Davon
ist bei Markus und Matthäus aber, wohl durch die Einwirkung späterer
Abendmahlspraxis, nicht mehr die Rede. Jedoch scheint die Formulierung des
Markus bzw. des Matthäus hypèr pollôn bzw. perì pollôn
ursprünglicher zu sein als das hypèr hymôn des Lukas und
Paulus; denn wir dürfen in der Formulierung hypèr hymôn
liturgische Stilisierung erkennen. Das Geschehen wird dadurch den zum Herrenmahl
Versammelten zu-gesagt. Das „für euch“ redet die
Versammelten an und bezieht sie ein.
„Für die vielen“ – ein Hebraismus
- Was aber gibt uns das Recht, die ursprünglichere Formulierung
des Markus und Matthäus hypèr (perì) pollôn im Deutschen
mit „für alle“ wiederzugeben?
Muss es nicht wörtlich übersetzt „für viele“
heißen? Dafür scheint zu sprechen, dass im Griechischen polloí
den Sinn von „viele“ im Gegensatz zu „wenige“ hat.
Das Hebräische dagegen gebraucht „(ha)rabim“ - „(die)
vielen“ auch, um die nicht mehr zu zählenden Vielen, die Masse,
alle, zu bezeichnen. Besonders deutlich wird das auch im Qumran-Schrifttum.
„ha-rabim“ = „die vielen“ bezeichnet
dort die Gesamtheit der vollberechtigten Gemeindemitglieder. „Die
Vielen“ verfügen über das Gericht (1 QS[ektenregel] 6,
1) sie bestimmen über Aufnahme und Ausschluss (6, 15f. 18.21; 7,23f).
Auch die Pharisäer nennen bisweilen die Gesamtheit der pharisäischen
Genossenschaft ha-rabim. Daher kann in judengriechischem Schrifttum
auch (hoi) polloí diesen Sinn annehmen. So wird polloí mit Artikel
im NT fast ausschließlich im Sinne von „alle“ verwendet
(vgl. Röm 5,15b ho polloí wird in 5,12 durch pántes erläutert).
Auch artikelloses polloí kann im NT diesen Sinn haben. Hat es ihn aber
an unserer Stelle? Soll hier gesagt sein, dass Jesu Bundesblut „für
viele“ vergossen wird oder „für alle“?
„Für alle“ – die einzig richtige
Wiedergabe
- Das „hypèr = für“ zeigt, dass im Hintergrund
des Deutewortes der Gedanke an das stellvertretende Sühneleiden des Messias
steht. Dem durch Jesu Todeshingabe geschehenden stellvertretenden Sühneleiden
begegnen wir auch in Mk 10,45, und auch hier finden wir ein artikelloses pollôn:
„Der Menschensohn ist nicht gekommen, um bedient zu werden, sondern
um zu dienen und sein Leben als Lösegeld zu geben antì pollôn“.
Eine klare neutestamentliche Parallele zeigt, wie das antì pollôn
von Mk 10,45 zu verstehen ist: 1 Tim 2,6 gräzisiert nämlich die
semitisierende Markusfassung und gibt den Hebraismus antì pollôn
mit hypèr pánton in korrektem Griechisch wieder. Das aber zeigt,
dass das antì pollôn von Mk 10,45 im Sinne von „für
alle“ zu verstehen ist.
Man beachte im übrigen die Betonung des universalen Heilswillens Gottes
im Kontext von 1 Tim 2,6: „Gott will, dass alle Menschen gerettet
werden“ (1 Tim 2,4). Diese Stelle war schon immer der „locus classicus“
für die Lehre der Dogmatik vom universalen Heilswillen Gottes. Das legt
den Schluss nahe, das hypèr pollôn des Deutewortes in Mk 14,24
ebenso zu verstehen. Es kommt hinzu, dass die johanneische Form des Brotwortes
an der Stelle, wo das markinische Deutewort über den Kelch hypèr
pollôn gebraucht, davon spricht, dass das Brot, das Christus geben wird,
sein Fleisch ist hypèr tês toû kósmou zoês
(Joh 6,51c). Damit aber ist die Gesamtheit des Kosmos bezeichnet, d. h. alle
Menschen, so dass auch von hier her das hypèr pollôn von Mk 14,24
als „für alle“ zu verstehen ist.
So übersetzt die deutsche Übersetzung das lateinische „pro
multis“ des Messkanons richtig, wenn sie es mit „für
alle“ wiedergibt. Im übrigen entspricht das wohl auch der
Intention des römischen Kanons, wenn man daran denkt, dass der Einsetzungsbericht
des alten Canon Romanus am Gründonnerstag deutlicher formuliert: „Qui
pridie quam pro nostra omniumque salute pateretur, hoc est hodie, accepit
panem“ So formuliert auch die ambrosianische Liturgie noch heute täglich,
und Jungmann vermutet, dass das „pro nostra omniumque salute“
auch in der römischen Liturgie „möglicherweise einmal …
zum alltäglichen Textbestand“ gehörte. (J. A. Jungmann, MS,
S. 247).
Biblische Theologie der stellvertretenden Sühne
- Mk 10,45 und Mk 14,24 nehmen beide den Gedanken vom stellvertretenden
Sühneleiden des Messias auf. Der Tod Jesu geschieht antì pollôn,
sein Blut wird hypèr pollôn vergossen. (Vgl. auch Röm 5,16
und Hebr 9,28. An beiden Stellen wird ebenfalls das artikellose polloí
im Zusammenhang mit dem Heilswerk Christi gebraucht). Damit aber wird das
bei Deuterojesaja vom Gottesknecht ausgesagte stellvertretende Sühneleiden
als in Leiden und Todeshingabe Jesu geschehend erkannt. Er ist der Gottesknecht,
der hypèr (antì) pollôn leidet und stirbt. Ein Schlüsselwort
aber von Jes 52,13 – 53,12 ist: (ha)rabim = (hoi) polloí.
Fünfmal kehrt es dort wieder, so dass es geradezu ein terminus technicus
der Lehre von der stellvertretenden Sühne wird. Dabei zeigt Jes 52,15,
dass es im ganzen Kapitel nicht im Sinn von „viele“ im Gegensatz
zu „wenige“, sondern im Sinn von „viele“ = „eine
große Schar“, „alle“ gebraucht wird.
Gottes Heil lässt sich nicht beschränken, sondern gilt allen.
Sein Haus ist ein Bethaus aller Völker (Jes 56,7). Sein Frieden gilt
den Fernen und Nahen (Jes 57,19), d. h. allen. Das Heil Gottes aber erreicht
alle durch das stellvertretende Sühneleiden seines Knechtes Jesu treffen
unser aller Verschuldung“ (Jes 53,6). Sein Blut wird für alle vergossen
(Mk 14,24).
„In dieser Schrankenlosigkeit der Gültigkeit des Lösegeldes
offenbart sich die Schrankenlosigkeit der Liebe Gottes“ (Joachim Jeremias).
Das ist die Mitte christlicher Liturgie und der Ausgangspunkt christlicher
Seelsorge und Mission.
Aus: Gottesdienst, Nr. 4 (1979), S. 45-47
© imprimatur Juli 2012
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