Die Christologien sind in der Kirche von allem Anfang an sehr plural und unterschiedlich gewesen – eine einheitliche kirchliche Christologie gab es nicht. Weil der religiöse Wechsel zum Christentum und das Verbleiben in ihm aus allen möglichen Gruppen, Bewegungen und Gemeinschaften heraus stattfand, konnte es auch gar nicht anders sein. Wer erkennen und aussagen wollte, wer Jesus für ihn war, konnte dies nur von seiner Vorstellungswelt aus tun. Anderes, also fremdkulturelle Begriffe, wäre sowohl für die (neuen, aber auch spätere) Christen wie auch für ihre Verkündigung an andere in ihrem Umfeld unverständlich geblieben.
Erst mit der Zeit schälte sich heraus, dass all die bunten Christusbekenntnisse zwei unterschiedlichen „Typen“ zugerechnet werden konnten. Entsprechend den großräumigen kulturellen Prägungen der Antike ergab sich im „Westen“, im Römischen Reich, eine hellenistische Christologie, im „Osten“, im Perserreich, eine (dem frühen Judenchristentum benachbarte) syrische Christologie – natürlich, in beiden Fällen, mit zahlreichen regionalen und kulturspezifischen Varianten. Vereinfacht gesagt, ist Jesus Christus in der hellenistischen Christologie als Logos/Sohn präexistent und von göttlicher Seinsweise, dann Mensch geworden; im syrischen Großraum wurde – vor seiner allmählichen Hellenisierung seit dem 5. Jahrhundert – Jesus als exemplarischer und von Gott gesandter Mensch gesehen und gepredigt (vgl. hierzu den ersten Teil des Beitrags in: imprimatur 44, 2011, 356-360).
Ratzinger/Benedikt XVI. aber kennt nur eine einzige legitime und, wie er meint, gesamtkirchlich verbindliche Christologie: die hellenistische Variante, die sich seit dem Konzil von Nizäa im Jahre 325 immer mehr im „westlichen“ Christentum durchsetzen konnte – mit der Kollateralwirkung der Entstehung einer Binitäts-, später Trinitätslehre, und die auch von den späteren, mittelalterlichen und neuzeitlichen Christen in Europa übernommen wurde.
Die Sicht Ratzingers aber beruht auf einer Blickverengung, die immerhin beinhaltet, dass das Christentum seine volle Gestalt erst durch die Aufnahme der hellenistischen Denkweisen gefunden habe: „das kritisch gereinigte griechische Erbe (gehört) wesentlich zum Christentum“, weswegen er sich gegen jede Form der Enthellenisierung wendet (so Ratzinger /Benedikt XVI. in seiner Regensburger Rede vom 12.04.2006, vgl. hierzu unseren Beitrag in imprimatur 39, 2006, 246-248). Wie aber schätzt man dann Jesus selbst, die sogn. zwölf Apostel, die Jerusalemer Urgemeinde, die synoptischen Evangelien, das frühe syrische Christentum ein? Repräsentieren sie erst eine Vorstufe zur wesentlichen Gestalt des Christentums? Sind sie christlich defizitär? Zwar wurden die östlichen Christentümer seit dem 5. Jahrhundert durch eine sich verstärkende Hellenisierung modifiziert, seit dem 9. Jahrhundert zunehmend durch die Dominanz des Islam entscheidend geschwächt und dann dezimiert und haben im Verlauf ihrer weiteren Geschichte noch viele Wandlungen durchlaufen. Aber darf man ein gültiges Christentum erst zu einem späteren Zeitpunkt entstanden annehmen und die vorherigen – ansonsten als konstitutiv behaupteten – Anfänge und Entwicklungen beiseite lassen?
Nun findet der Papst – wie könnte es in der Katholischen Kirche anders sein? – hin und wieder für seine These auch theologische Unterstützung. Da wird dann, im Extremfall, sogar behauptet, es habe überhaupt keine Hellenisierung des Christentums stattgefunden, lediglich Begriffe und einige philosophische Argumentationen seien übernommen worden. Vielmehr habe das Christentum alle hellenistischen Raster so modifiziert, dass seine Botschaft nicht verändert worden sei. Daran ist richtig, dass auch, wenn man so will, eine „Taufe“ des Hellenismus stattgefunden hat, Christentum und Hellenismus haben sich wechselseitig beeinflusst, die Hellenisierung war also nicht bloß eine einfache Übernahme und Transformation. Tatsächlich sind einige zentrale und dem Christentum von Anfang an mitgegebene Überzeugungen in die neue Gestalt „gerettet“ und dort bewahrt worden, wenn auch oft in recht überformter Gestalt.
Dennoch wäre es verwegen zu sagen, die Vergöttlichung Jesu – so differenziert sie auch (nicht im verbreiteten Glauben, aber) etwa im Glaubensbekenntnis des Konzils von Chalkedon im Jahre 451 gesehen wurde – sei keine Folge der Hellenisierung, die Binitäts- und spätere Trinitätslehre hätte es auch ohne Hellenismus gegeben. Diese Argumentation ist Schönrederei. Es bleibt die große Schwierigkeit zu erklären, wieso diese Vorstellungen wesentlich zum Christentum gehören sollen, obwohl Jesus und seine Jünger davon noch nichts wussten, wieso das „eigentliche“ Christentum erst seit Origenes (erste Hälfte des 3. Jahrhunderts), der erstmals den Logos in die ewige Gottheit hinein verlegte, oder dem Konzil von Nizäa im Jahre 325 oder – für die Trinitätslehre – erst in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts seine volle Gestalt gefunden hat, der gegenüber dann alles andere defizitär oder gar kein Christentum ist. Wer das Christentum für die Religion hält, die als Folge des Lebens und Wirkens Jesu entstanden ist, wer das Bekenntnis zu Jesus – und zu nichts sonst –, wie es in allen Glaubensbekenntnissen behauptet wird, ernst nimmt, wer Kirche als Kirche Jesu Christi sieht, hat dann Probleme. Darf man darüber hinwegreden?
Natürlich sind die auf Jesus angewandten Hoheitstitel (Messias, Menschensohn, Herr, Sohn Gottes, Logos usf.) nicht nur unterschiedliche Begriffe mit jeweils kulturspezifischen Vorstellungen, die hinter ihnen stehen. Sie haben auch einen unlösbaren Zusammenhang mit den (Heils-) Funktionen, die Jesus gemäß dem Glauben der jeweiligen Christen für sie hat. Das soll an wenigen Beispielen aufgezeigt werden.
So spricht man seit Längerem in der Theologiegeschichte von der syrischen
Bewährungschristologie: (der Mensch) Jesus ist von Gott angenommen und
dann erhöht worden, weil er sich – aus der Gnade Gottes heraus –
mehr als andere „bewährt“ und den Willen Gottes erfüllt
hat, bis zum (nicht: durch den) Tod am Kreuz. Daraus ergibt sich, dass die Christen
ihm nachfolgen und sich ebenfalls „bewähren“ sollen, damit
Jesus beim Gericht für sie eintreten kann. Jesus verhilft also dazu, gut
und gerecht zu leben und beim Gericht Barmherzigkeit zu erfahren.
Im hellenistischen Christentum aber richtete sich die Erlösungssehns
cht der Menschen nur am Rande auf ein ethisch gutes Leben. Hier ging es vielmehr um die Hoffung, von allen Fesseln der Endlichkeit, Sterblichkeit, Materieverhaftung und Unwissenheit befreit zu werden zur Unendlichkeit, Unsterblichkeit, zu Geist und Wissen (o.ä.), kurz: man sehnte sich – so schon im klassischen Griechenland, erst recht im Hellenismus – nach Vergöttlichung. Jesus war deswegen bedeutsam, weil er zwischen der Welt des Unendlichen, Gottes, und dem Endlichen, unserer irdischen Wirklichkeit, vermitteln konnte, weil er der präexistente Gott war und dann Mensch wurde; die Entstehung einer Zwei-Naturen-Christologie war zwangsläufig. „Gott wurde Mensch, damit wir zu Gott werden“ heißt das Motto bei fast allen hellenistischen Kirchenvätern – das sogn. Prinzip des Tausches. Das wichtigste Datum für unser Christsein war deswegen die Inkarnation („Inkarnationschristologie“), bei der alles Wesentliche geschehen ist. Das Kreuz und der Tod Jesu waren zwar ebenfalls wichtig, aber „nur“, weil daran deutlich wurde, wie tief sich Gott auf uns Menschen eingelassen hat.
Wieder anders sah das im lateinischen Raum aus, der zwar auch tief greifend hellenisiert war und deswegen die hellenistische Christologie übernommen hatte: Jesus ist inkarnierter Gott(essohn). Aber das genügte in diesem Raum nicht: Lateinische Menschen litten daran, dass sie den uns vom ewigen Willen Gottes auferlegten Ordo, das göttliche Gesetz (ius divinum), mit seinen ethischen und kultischen Anforderungen nicht erfüllen konnten und immer wieder sündigten. Jesus wurde von lateinischen Christen deswegen als ihr Christus angenommen, weil er (allein) den durch unsere Schuld zerstörten Ordo wiederherstellen konnte. Weil aber gemäß diesem Denken alles rechtlich korrekt zugehen musste, konnte uns Gott nicht einfach durch seine Barmherzigkeit verzeihen (anders als in der Predigt Jesu von der Sünderliebe Gottes ohne jede Vorleistung). Es musste eine rechtlich korrekte Wiedergutmachung, eine Genugtuung (Satisfaktion), erfolgen. Diese leistete Jesus mit seinem Tod am Kreuz, an dem er, der Mensch, alle unsere Schuld auf sich nahm. Weil er als Mensch, also Mitglied unserer Gattung, starb, konnten die Verdienste seines Todes uns angerechnet werden, und diese Verdienste hatten einen unendlichen Wert, weil er zugleich Gott war. So kreist(e) die lateinische Theologie um das zentrale Datum, das Kreuz Jesu (staurozentrische Christologie).
Diese Beispiele mögen zeigen: Wer Jesus (für uns) ist und welche Bedeutung er für uns hat, wurde in der christlichen Geschichte sehr unterschiedlich beantwortet; die hierbei wirksamen Vorstellungen lassen sich nicht einfach harmonisieren. Auch unter diesem Gesichtspunkt versucht Ratzinger/Benedikt XVI., diese Spielbreite der christlichen Möglichkeiten einzuengen. Wie er in seinen beiden Jesusbüchern und auch schon in seinen vorherigen Schriften betont, will er nur die lateinisch-hellenistische Version als christlich anerkennen.
Darüber hinaus scheint der Papst – obwohl Leiter einer weltweiten Kirche – die gegenwärtige Lage seiner Christen in den unterschiedlichen Teilen der Welt nicht zu kennen. Mittlerweile leben drei Viertel aller Katholiken in der sogn. Dritten Welt, also weithin außerhalb der europäischen oder westlichen Traditionen. Schon in der Vergangenheit wurde in imprimatur in einer Reihe von Beiträgen dargelegt, dass sich in Afrika, im indischen, chinesischen oder lateinamerikanischen Raum ganz andere, neue Christologien gebildet haben (Jesus ist unser Protoahn, der Befreier, die Avatara Gottes, der Boddhisatva usf.). Diese erwachsen aus den eigenen kulturellen und religiösen Traditionen, die oft Jahrtausende alt sind, und kennen ganz neue Schwerpunkte. Die hellenistisch-lateinischen Raster werden hier wohl auf die Dauer nicht mehr Ausdruck des Christusbekenntnisses sein können, und es lässt sich auch in der Westlichen Welt beobachten, dass sich hier die Mentalitäten so verändert haben, dass die traditionellen Formeln nicht mehr greifen.
Mit anderen Worten: Die von Anfang an kulturbedingt pluralen Rezeptionen Jesu sind nicht mit den dogmatischen Festlegungen der Spätantike beendet, sondern es entwickelt sich immer wieder Neues, Anderes, das nicht einfach mit den Formeln früherer Zeiten ausgedrückt werden kann. Dabei wird es wichtig sein, dass die heute global kommunizierenden Christen auf einander hören und miteinander reden, damit keine sektenhaften Entwicklungen auftreten, sondern Essentials eingehalten werden, die sich durchaus formal an den klassischen Formeln orientieren können. Hierbei könnte auch ein Papst eine wichtige Funktion erfüllen, um die Kommunikation aufrecht zu erhalten und zu immer neuen Gesprächen anzuregen. Wenn diese Aufgabe aber in Versuche mündet, eine Einheitlichkeit zu erzwingen, die auf neue Kulturen und epochale Wenden, in denen das Christentum heimisch ist, keine Rücksicht nimmt, werden diese Unternehmungen scheitern.
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