Benno Rech
Honorka
oder Wie schwierig es ist, einen Menschen zu beurteilen

Honorka ist mit 16 Jahren aus der Ukraine, im Jahr 1942, als Ostarbeiterin von den NS nach Deutschland verschleppt worden. Sie wurde meiner Patentante, die fünf Kinder hatte, bald sechs, als Haushaltshilfe zugeteilt. Mein Onkel war Parteimitglied. So war damit zu rechnen, dass sie nach den Bestimmungen der Nationalsozialisten behandelt werde.

Honorka wollte nach dem Krieg nicht in die Ukraine, damals Russland, zurück, weil sie von Nachstellungen gegen Rückkehrer gehört hatte. Sie heiratete einen amerikanischen Soldaten und ging mit ihm in die USA. Von dort kam sie regelmäßig zu Besuch nach Deutschland (ein Bruder wohnte in der Nähe von Heidelberg) und immer nach Thalexweiler. Solange meine Tante und mein Onkel lebten, wohnte sie für einige Tage bei ihnen. Danach, bis zu ihrer schweren Krankheit war sie unser Gast.
Nach Jahren habe ich sie dann gefragt: Honorka, was zieht Dich nach so vielen Jahren immer noch nach Thalexweiler? Ihre verblüffende Antwort: „Thalexweiler ist meine zweite Heimat. Meine erste Heimat war die Ukraine. In den USA bin ich eine Fremde geblieben.“

Drauf erzählte sie mir: Sobald sie damals ihre Arbeit im Haus erledigt hatte, stand ihr der Rest des Tages zur freien Verfügung. Sie sei eines der wenigen „Russenmädchen“ gewesen, das wider alle Vorschriften eigenständig seine Zeit verplanen durfte. „So konnte ich die anderen Mädchen bis nach Dörsdorf hinauf besuchen, ihnen bei ihrem Heimweh beistehen. Oder, wenn dein Onkel z. B. eine Tafel Schokolade organisiert hatte, bekam ich ein gleich großes Stück wie alle anderen, wurde das Fahrrad eingeteilt, erhielt ich es genau solange wie die größeren Kinder. Ich durfte mit zum Gottesdienst oder selbständig ins Kino, was beides ausdrücklich verboten war. So und durch vieles andere ist mir Thalexweiler zur Heimat geworden.“

Parteimitgliedschaft hat aus meinem Onkel keinen engstirnigen Büttel gemacht. Honorka erlebte ihn und seine Frau als fürsorgliche Beförderer, die ausdrücklich die Vorschriften zur Behandlung von Russenmädchen übergingen und ihr das Gefühl vermittelten, gleichsam von zweiten Eltern aufgenommen zu sein. Auf dem Familienfoto ist sie selbstverständlich dabei, sitzt sogar in der Mitte und hält die Jüngste im Arm.


© imprimatur Juli 2012
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel!
Bitte füllen Sie die folgenden Felder aus, drücken Sie auf den Knopf "Abschicken" und schon hat uns Ihre Post erreicht.

Zuerst Ihre Adresse (wir nehmen keine anonyme Post an!!):
Name:

Straße:

PLZ/Ort:

E-Mail-Adresse:

So und jetzt können Sie endlich Ihre Meinung loswerden: