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Kirchenkrise als Chance
Gegen das Vergessen


Paul M. Müller
Elmar Kos (Hg.): Kirchenkrise als Chance
Lit Verlag, Berlin 2012, 164 Seiten

Die öffentlich gewordenen Fälle sexuellen Missbrauchs an Kindern durch Seelsorger haben die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche tief erschüttert. Dieser Missbrauch lenkt den kritischen Blick zu Recht zuerst auf das Leid der Opfer. Darüber hinaus aber steht die Kirche vor der Frage, wie sie auf die Krise des sexuellen Missbrauchs langfristig reagieren soll. Sie darf sich nicht auf eine Strategie der aktuellen Krisenbewältigung beschränken. Es geht vielmehr um die tiefer liegende Frage nach neuen strukturellen Bedingungen einer zukünftigen Grundverfassung der Kirche. Unter dieser Voraussetzung beziehen im vorliegenden Band Lehrende am Institut für Katholische Theologie der Universität Vechta mit unterschiedlichen Aspekten detailliert Stellung zu dieser Frage.

Karl Josef Rech referiert im ersten Beitrag des Bandes über die Missbrauchsskandale in Deutschland, in den USA, in Irland und in Österreich. Er zeichnet das ganze Elend des sexuellen Missbrauchs unter dem Titel der Süddeutsche Zeitung vom 15. März 2010: „Größte Kirchenkrise seit 1945“. Eine Pressemeldung am 28. Januar desselben Jahres durch Pater Klaus Mertes SJ hatte die Lawine ins Rollen gebracht. Er veröffentlichte, dass zwei Jesuitenpatres des Berliner Canisius-Kollegs mehrere Schüler sexuell missbraucht hatten. Darüber hinaus zeigt die „Karte des Leidens“ mit den von der Presse veröffentlichten Missbrauchsfällen, dass kein deutsches Bistum „ungeschoren“ davon kommt.

Karl Josef Rech will vor allem den „Opfern eine Stimme geben“. „Der Ausdruck ’Missbrauchsfälle’ kann in keiner Weise das unermessliche Leid zum Ausdruck bringen, das die Opfer sexueller Gewalt erlitten haben. Hinter jedem Fall verbirgt sich das leidvolle Schicksal eines Menschen“. (19) Vor dem individuellen Hintergrund des Leides der Betroffnen fragt der Autor im Sinn des Buchtitels, „Kirchenkrise als Chance“ - im Rückgriff auf das Zweite Vatikanische Konzil und Karl Rahner - in einzelnen Kapiteln nach der Gemeindeleitung durch Frauen, ihrem Zugang zum Priesteramt, nicht weniger nach einer Aufhebung des Zölibates, weil es der Auftrag Jesu und die Not der Seelsorge einfordern.

Silvia Pellegrini sucht in ihrem Beitrag „Krisenzeit als Zeit der Metanoia“ nach Impulsen aus dem Neuen Testament. „Unter Krise versteht man heute“, so die Autorin, (allgemein und auch spezifisch in Bezug auf die Kirche) primär die negative Konnotation von schlechten Zeiten, Vertrauenskrise“. In dem Wort „Krise aber steckt auch die positive Konnotation“, im Sinne des Unterscheidens, der Entscheidung, der Aktion, der Wende, wie sie auch biblisch in den Worten und dem Verhalten Jesu zur Sprache kommt.

Schließlich sucht sie Antworten auf die Frage nach dem, was die Kirche im Hinblick auf die Opfer des sexuellen Missbrauchs tut und tun muss. Die Antwort: Besinnung, Gebet, Gerechtigkeit, Opfer um Vergebung bitten, Entschädigung, Kritik, kirchliche Reformen, Vertrauen.

Raimund Lachners schreibt über „Die Heiligkeit der Kirche“. Er zitiert aus den „Hymnen an die Kirche“ von Gertrud von Le Fort aus dem Jahr 1924; muss aber vor dem Hintergrund des sexuellen Missbrauchs mit einem Wort von Josef Ratzinger von 1972 feststellen: „Die Zeit, die ‚Hymnen an die Kirche’ sang, scheint uns fast endlos weit zurück zu liegen“. (57).

Elmar Klos, Herausgeber des Bandes, beschäftigt sich in seinem Artikel „Die Kontroverse um die katholische Sexualmoral“ vor allem mit dem Thema der „Empfängnisverhütung“, die allerdings in der ehelichen Praxis ihre Geltung weithin eingebüßt hat, aber immer noch durch die kirchenamtlich gestützte Naturrechtslehre gestützt wird. Bezogen auf den sexuellen Missbrauch von Kindern in der Kirche schreibt er: „So lang eine…Kultur der Kommunikation im Bereich der Sexualmoral fehlt, geht die katholische Kirche nicht entschlossen genug gegen Risikofaktoren für den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen vor“. (73)

Ralph Sauer stellt sich in seinen Darlegungen „Die Kirchenkrise - die Stunde der Laien“ ganz auf die Seite der Laien. Zu dieser Stunde der Laien ermuntert er den Leser mit Versen von Hermann Hesse: „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginn…Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden!“ (97). Die „Stunde der Laien“ in der Kirche der Kleriker betrachtet er mit unterschiedlichen Ansätzen wie Reformstau und Reklerikalisierung, Würde der Laien und ihre Mitbestimmung in Glaubensfragen, bei der Wahl von Bischöfen und in der Leitung von Pfarrgemeinden. Er engagiert sich für die Rolle der Frau in allen Bereichen der von „zölibatären Männern geleiteten Kirche“.

In seinem abschließenden Beitrag des Bandes „Sexualisierte Gewalt in der römisch-katholischen Kirche - erste Annäherungen an ein Symptom“ fragt Egon Spiegel nach dem Zusammenhang von sexuellem Missbrauch in der Kirche und der sexuellen Revolution in der heutigen Gesellschaft. Er sucht nach Maßnahmen, die die bisherigen Reaktionen der Kirche auf den sexuellen Missbrauch überschreiten. Der Blick der Kirche muss sich nach vorne richten und „langfristig und konsequent den Erfolg von Präventionsmaßnahmen untersuchen…Die seitens der Hierarchie teilweise erschrockenen, durch Abwehr geprägten Reaktionen nähren die Vermutung, dass sich im Grunde wenig bis nichts ändern wird“. (163)

In dem, was die Professoren der katholischen Theologie an der Universität Vechta hier unter dem Titel „Kirchenkrise als Chance“ darlegen, bieten sie dem Leser einen pluralen und vielschichtigen Einblick in den Missbrauchsskandal der Kirche, der nun mehr in die Jahre geht. Mit ihren kritischen Positionen halten sie der „klerikalisierten Kirche“ den Spiegel vor. Räumen aber der zukünftigen Kirche, unter der Bedingung ihrer Erneuerung an Haupt und Gliedern, eine Chance ein: „So verstehen sich die hier publizierten Texte als Diskussionsbeiträge in der gegenwärtigen Suche nach angemessenen Reaktionen auf die Glaubwürdigkeits- und Vertrauenskrise“. (10)
In dichter Form ein Buch, das die neuere Kirchenkrise vor dem Hintergrund des sexuellen Missbrauchs unter unterschiedlichen Aspekten detailliert referiert, kritisch hinterfragt und nach neuen Wegen der Kirche sucht.

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Erhard Bertel
Gegen das Vergessen
„Aktionskreis Halle – Ende der Ausgrenzung nach 40 Jahren“

Der Sprecherkreis des Aktionskreises Halle (AKH) hat jetzt nach dem Ende der DDR-Zeit in einer Broschüre die Arbeit dieses Aktionskreises dokumentiert.
Im Zusammenhang mit Protesten um die Bischofsnachfolge in Magdeburg „kamen grundsätzliche Fragen nach Mitwirkungs- und Beteiligungsrechten in der nachkonziliaren Kirche zum Vorschein.

In der Konsequenz dieser Ereignisse gründete eine Initiativgruppe am 4. April 1970 den „Aktionskreis Halle“ als Solidaritätsgruppe von Priestern und Laien im Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg. Der Kreis fand schnell Unterstützer und Sympathisanten in der ganzen DDR.“ Als Ziele der Arbeit wurden benannt: „Demokratisierung, Humanisierung und Ínterpretation des Glaubens“.

Die Broschüre dokumentiert auf 55 Seiten die eigenartige Situation dieses „katholischen Zusammenschlusses“: dem DDR-Staat und der katholischen Oberkirche war dieser Zusammenschluss suspekt. Katholische Kirchenführer in der DDR und die Führungsgremien der DDR waren wohl bemüht, ein weitgehend „unpolitisches“ Verhältnis zueinander zu praktizieren. Die Stasi – Unterlagen, die heute einzusehen sind, weisen darauf hin, dass sich die Katholische Kirchenführung vom AKH absetzte und diesen schutzlos der Verfolgung durch die Stasi-Leute aussetzte.

„Das MfS hatte „ermittelt“, vom AHK gehe „eine aktive politische ideologische Diversion gegen die gesellschaftliche Entwicklung in der DDR aus. Die Feindtätigkeit dieser Gruppe ist eingebettet in eine Opposition, die sich gegen die Leitung der kath. Kirche in der DDR richtet“, so die Broschüre.

In der Broschüre ist ein Gutachten der Kirchenrechtlerin Dr. Sabine Demel, Uni Regensburg, abgedruckt. Sie kommt zum Schluss:

„Der AKH hat mit seiner Existenz und mit seinen Aktivitäten zu keiner Zeit kirchenrechtliche Vorschriften verletzt. Er ist als eine kirchliche Solidaritätsgruppe und in seinem Engagement zu jeder Zeit kirchlich legitim gewesen. Spätestens seit Inkrafttreten des CIC/1983 war dies von Seiten der kirchlichen Autorität zum Schutz des AKH gegen staatliche Stellen in der DDR geltend zu machen“.

Informativ ist auch ein Grußwort von Bischof Dr. Gerhard Feige zum 40-jährigen Bestehen des AKH.
Unseren Leserinnen und Lesern ist die Broschüre sehr zu empfehlen:
Aktionskreis Halle, c/o Monika Doberschütz, Jägerstraße 23, 04157 Leipzig


Die Redaktion von imprimatur war durch ihren Mitherausgeber Hermann Münzel mit Dr. Claus Herold vom AKH in Kontakt. Wir dokumentieren einen Bericht aus:
4. Jahrgang, Nr. 3, vom 10. 05. 1971 „Kirchliche Solidarisierung in der DDR“:

Kirchliche Solidarisierung in der DDR

„Die Christen in den totalitären Systemen des Ostens und Westens stehen noch treu zur Kirche. Hier gibt es andere Sorgen als Kritik an Kirchenbehörden, Proteste gegen bischöfliche und päpstliche Verordnungen. Die Priester haben keine Zeit, sich gegen den Zölibat aufzulehnen oder Protestgruppen zu bilden." Solche Vorstellungen sind in unseren Landen weit verbreitet. Richtig ist, daß die schlechte finanzielle Lage vor allem der Geistlichen, fehlende Pressefreiheit und der ständige innere und äußere Druck offene Diskussionen und innerkirchliche Meinungsbildung erschweren. Daß aber im wesentlichen die Probleme hier und dort die gleichen sind, zeigt unser Bericht aus der DDR.

Im Herbst 1969 traf sich eine Gruppe von Priestern und Laien aus dem Erzbischöflichen Kommissariat Magdeburg. Als Ergebnis einer ausführlichen Aussprache über die Situation der Kirche in der DDR hielt man fest:

  1. „Die vergangenen Jahre und besonders die Ereignisse des letzten Sommers (gemeint ist das Tauziehen um den Bischof Koadjutor Dr. Paul Nordhues, d.Red.) haben deutlich gezeigt, daß die Aktionen Einzelner zur Überwindung kritischer Situationen nicht beachtet und als „Spaltertätigkeit" abgetan werden. Dem Engagement der Einzelnen fehlt ohne Gruppenbildung die nötige Repräsentation.
  2. Information und Meinungsbildung fallen weitgehend aus, da die dafür erforderlichen Strukturen nicht vorhanden sind.
  3. Die bestehenden Institutionen verfestigen sich ständig in ihrer Immobilität.
    Korrekturen von unten fallen aus oder kommen, wo sie angemeldet werden, nicht zum Zuge.
  4. Es existiert zu wenig Raum für die Einübung notwendiger kollegialer Formen.
  5. Die schon bestehenden sachbezogenen Arbeitsgruppen haben zu wenig Möglichkeit, ihre Meinung zur Diskussion zu stellen und ihre Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen."

Auf Grund dieser Situationsanalyse beschlossen die Versammelten, sich zu solidarisieren, um ihren Beitrag zu einem glaubwürdigen Zeugnis der Kirche für die Welt nachdrücklicher und effektiver leisten zu können:

  1. „Wir glauben, Anfechtung und Hoffnung in der Situation des Überganges nur gemeinsam bestehen zu können. Wir rücken zusammen, um nicht in Selbstsicherheit oder apathischer Gleichgültigkeit zu ersticken.
  2. Wir suchen in der Gruppe einen Platz für vertrauensvolle und sachliche Zusammenarbeit mündiger Christen. Sie wird uns ermutigen, bestätigen und korrigieren.
  3. Die Gruppe lehnt jede Exklusivität ab, weil sie die Einheit der Kirche sprengt und ihre Offenheit zur Welt gefährdet.
  4. Sie setzt sich ein für umfassende Information und offene Diskussion. So hilft sie mit, innerhalb der Kirche eine öffentliche Meinung zu finden
  5. Sie unterstützt Aktionen, die der Selbstkritik und der gesellschaftskritischen Funktion der Kirche dienen."

(nach: SOG-Papiere 71/1, S.19)
Nachdruck aus. Imprimatur, 4. Jahrgang, Nr. 3, vom 10. 05. 1971

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© imprimatur Juli 2012


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