Karl-Heinz Ohlig
Die christliche Literatur unter arabischer Herrschaft (I)[1]
Finden sich dort Hinweise auf eine neue Religion der arabischen Herrscher?

1. Der Rekurs auf zeitgenössische Quellen

Sowohl in der islamischen Theologie wie in weiten Teilen der gegenwärtigen Islamwissenschaft wird die Entstehung und Entwicklung des Islam im 7. und 8. Jahrhundert gemäß den reichhaltigen muslimischen Darstellungen – Biographien und Hadithsammlungen – geschildert, deren Abfassung frühestens auf das 9. und 10. Jahrhundert und deren Handschriftenüberlieferung noch einmal später zu datieren sind. Der Koran ist zwar älter und lässt Rückschlüsse auf frühere Entwicklungsstufen zu, bietet aber leider keine belastbaren biographischen, historischen oder geographischen Informationen, die die spätere Tradition erhärten könnten.

Die großen Weltreligionen haben meist umfängliche und detailreiche Überlieferungen ausgebildet und niedergeschrieben, die ihre Anfänge und – im Fall von so genannten Stifterreligionen – die begründende Gestalt vorstellen. Dabei waren sie nicht von einem historischen Interesse, sondern von theologischen Tendenzen geleitet. Das, was sie jetzt für richtig hielten, projizierten sie in eine begründende Anfangszeit. Zwar mag es in den Traditionen durchaus auch geschichtliche Notizen geben, die einfach eingeflossen sind; aber intendiert und primär sind sie nicht. Nach dem Aufkommen des historisch-kritischen Denkens seit der Aufklärung wurden diese Erzählungen daraufhin untersucht, wie weit sich die religiösen Anfangstraditionen durch Quellen erhärten lassen, die den geschilderten Gang der Ereignisse nachprüfbar stützen; hierfür kommen vor allem zeitgenössische Quellen in Frage.

Seltsamerweise wurden die Methoden der historischen Wissenschaften bis in die jüngere Zeit nicht zu dem Zweck der Untersuchung der Anfänge des Islam angewendet. Vielmehr galten diese bisher oft, trotz einiger früherer kritischer Stimmen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, als so gut bekannt wie bei keiner anderen Religion. Dabei hätte auch hier die viel spätere Entstehungszeit der Traditionsliteratur und das noch spätere Vorliegen von Handschriften, ebenso der sich schon beim ersten Lesen aufdrängende Eindruck des legendarischen Charakters der Texte oder ihre Verwendung literarischer Formen und Topoi stutzig machen sollen und müssen. Gründliche historische Untersuchungen, die dem Level der heutigen Wissenschaften entsprechen, fehlen weithin.

Zur Beantwortung dieser Fragen ist auch für den Islam der Rekurs auf zeitgenössische Quellen erforderlich. Diese gibt es durchaus. An erster Stelle steht hierbei der Koran, der allerdings in einem mindestens zweihundertjährigen Prozess entstanden ist. Weitere zeitgenössische Quellen bieten die zahlreichen Münzfunde und Inschriften arabischer Herrscher aus den beiden ersten islamischen Jahrhunderten sowie – hier steht man noch in den Anfängen – archäologische Befunde. Darüber hinaus ist wichtig die Fülle der christlichen Literatur, die unter arabischer Herrschaft, also zeitgenössisch, entstanden ist. Diese soll im Folgenden daraufhin untersucht werden, was sich in ihr über die arabische Herrschaft, mögliche arabische Eroberungen, vor allem aber über die Religion der neuen Herren und über Mohammed findet.

2. Die christliche Literatur unter arabischer Herrschaft

Dies hat schon vor mehr als zehn Jahren Robert G. Hoyland in seinem umfänglichen Buch „Seeing Islam as Others saw it“, Princeton 1997, getan. Diese fleißige Arbeit geht auf so gut wie alle nur irgendwie in Frage kommenden Quellen ein, liest sie allerdings gänzlich von der traditionellen islamischen Historiographie her; diese steht für Hoyland unverrückbar fest, so dass er versucht, alle Textstellen so zu interpretieren, dass sie zu ihr passen und diese bestätigen. Dies gilt leider auch für viele Übersetzer und Kommentatoren dieser Texte, vor allem der syrischen Quellen. Diese Übersetzer können zwar Syrisch – obwohl sie sich gegenseitig gelegentlich Fehler vorwerfen –, aber sie können in der Regel nicht historisch-kritisch arbeiten.

Für einen historisch-kritischen Umgang mit diesen Quellen sind aber verschiedene Essentials zu beachten:

Erstens – im Grunde unter Historikern eine Selbstverständlichkeit, aber in der Islamwissenschaft selten beachtet – muss ein Text so verstanden werden, wie er da steht, zunächst einmal ohne den Versuch, ihn irgendwie passend zu machen, also mit der traditionellen Geschichtsdarstellung zu harmonisieren. Wenn in einem Text von „Kämpfen“ die Rede ist, lässt sich dies – ohne weitere Hinweise – nicht einfach als Aussage zum ersten Bürgerkrieg auffassen, und dann auch noch die Quelle von daher datieren; wenn von einer ansonsten unbekannten Schlacht gegen die Römer gesprochen wird, darf man sie nicht ohne zusätzliche Informationen einfach zu der aus der Tradition bekannten Schlacht am Yarmuk machen; wenn von Söhnen Ismaels oder Hagars, also von Ismaeliten und Hagarenern, geschrieben wird, kann man dies nicht einfach mit „Muslimen“ übersetzen; wenn ein Prophet erwähnt wird, kann man nicht, ohne zusätzliche Hinweise, Mohammed annehmen oder diesen Namen, wie es leider auch bei Koranübersetzungen üblich ist, in Klammern hinzufügen. Die Texte müssen, wenn sie denn als historische Quellen aussagekräftig sein sollen, beim Wort und ernst genommen und nicht vorschnell umgebogen werden.

Ein zweiter Gesichtspunkt ist zu beachten: In den meisten Fällen ist die handschriftliche Bezeugung der Texte erst viele Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte nach ihrer vermuteten oder behaupteten Abfassungszeit gegeben. Das bedeutet aber, dass die Abschreiber ungeahnte Möglichkeiten hatten, in die älteren Texte Passagen einzufügen oder auch neue pseudepigraphe Dokumente zu schaffen, die ihrem neuen Wissensstand entsprachen. Die Abschreiber der Antike und des Mittelalters waren nicht, wie wir heute, dem Prinzip der Authentizität verpflichtet; manche Historiker sprechen sogar von einer durchgängigen Fälscherpraxis und von Fälscherwerkstätten. Das ist wohl zu hart. Man wollte nicht fälschen – so erscheint es uns, die wir den authentischen Originaltext suchen –, sondern nur das, was man mittlerweile für „die Wahrheit“ hielt, ergänzen, in bester Absicht. Aber der Effekt ist für den Historiker der Gleiche.

Wenn die echten Paulusbriefe nicht mehr zureichten, um Antworten auf neue Fragestellungen in den Gemeinden zu finden, verfasste man Jahrzehnte später weitere, pseudopaulinische Briefe, die dann ins Neue Testament gelangten. Weil dieser sich gut benutzen ließ, schuf man einen Briefwechsel des Paulus mit Seneca, der im Mittelalter beinahe auch den Weg ins Neue Testament geschafft hätte. Es gibt eine Fülle von pseudepigraphen Schrften des Augustinus, Dionysios Areopagites, Bonaventura usw. Und immer muss man damit rechnen, dass Abschreiber, wenn es denn eine authentische Vorlage gab, diese zwar abschrieben, aber durch Interpolationen im Dienst der jeweils jetzt geltenden Überzeugungen ergänzten. So sind jüdische Apokalypsen der zwischentestamentlichen Literatur später von Christen abgeschrieben, aber zugleich mit christlichen Ergänzungen versehen worden; die Bücher des Flavius Josephus sind zwar von ihm geschrieben, enthalten aber schon in den ältesten Handschriften eine Reihe von Interpolationen aus christlicher Sicht.

So muss immer nachgeprüft werden, soweit das möglich ist, wann diese Texte entstanden sein könnten, wie sie beim Abschreiben verändert wurden und ob nicht der ursprüngliche Duktus eines Textes durch Interpolationen unterbrochen ist.

3. Allgemeine Charakterisierung der Quellen

Welche Informationen geben also die hier angesprochenen christlichen Texte, die unter arabischer Herrschaft entstanden sind, über die religiösen und zeitgenössischen Verhältnisse im 7. und 8. Jahrhundert?

Das kann hier nur recht kursorisch in einigen Aspekten erläutert werden.

3.1 Christen unter arabischer Herrschaft haben eine Unmenge an Schriften, wenn auch viele nur noch fragmentarisch erhalten sind, hinterlassen, die meisten davon in syrischer, aber auch in griechischer und koptischer Sprache; manche sind nur noch in späteren griechischen, armenischen, lateinischen oder arabischen Übersetzungen erhalten. Überliefert sind Briefe, Chroniken, Apokalypsen, Heiligenlegenden, Berichte über Klostergründungen, spirituelle – also erbauliche – und vor allem theologische Schriften. Diese Texte bezeugen ein intensives und relativ ungestörtes kirchliches Leben in diesem ganzen Raum vom Mittelmeer bis an die Grenzen Indiens und nach China, was auch von der Archäologie bestätigt wird: die Zahl der Kirchen und Klöster, die in diesen beiden Jahrhunderten erbaut wurden, ist beeindruckend. Die ostsyrische („nestorianische“) Kirche scheint nach dem Zusammenbruch der zoroastrischen Sassanidenherrschaft eine Blütezeit durchlaufen zu haben. Die syrische „Kirche ist in Frieden und blüht“, wie der ostsyrische Patriarch Isoyaw III. (gest. 659) in einem seiner vielen Briefe schreibt, und sie betrieb Mission, über die Seidenstraße, bis hin nach China.[2]

Nur ganz wenige dieser Schriften sind bisher kritisch ediert. Die christliche Theologiegeschichte war bis in die jüngste Zeit eurozentrisch ausgerichtet. Im Blick waren die griechischen und lateinischen Theologen der Antike rund um das Mittelmeer und später die abendländische Theologie. Die entsprechenden Literaturen liegen meist – wenn auch immer noch nicht alle – in ausgezeichneten kritischen Editionen vor. Erst allmählich wird bewusst, dass dabei eine große kirchliche Region, vom Mittelmeer bis nach Indien und China, nicht beachtet wurde. Von der großen syrischen Kirche waren im Wesentlichen nur die Theologen westlich des Euphrats, die zum Römischen oder Byzantinischen Reich gehörten, bekannt – bekannt als Häretiker (in den Augen der Griechen). Hier wartet auch auf die christliche Theologiegeschichte noch eine Fülle von Forschungsarbeit; zur Zeit sieht es so aus, als werde diese Aufgabe allmählich wahrgenommen. Weil sich Übersetzer und Bearbeiter aber von der Islamwissenschaft den zeitgeschichtlichen Kontext dieses Schrifttums, also die Herrschaft des Islam, unbefragt vorgeben lassen, wird es hierbei erhebliche Mankos geben.

Betrachtet man in Summe die damalige Literatur, so fällt auf, dass die Christen erstaunlicherweise, obwohl sie doch laut traditioneller Vorstellung von Muslimen beherrscht wurden, damals ihren gewohnten Geschäften nachgingen. Sie vertraten mit Leidenschaft ihre je spezifischen Theologien: Chalkedonier schrieben, oft umfangreiche, Bücher gegen die Monophysiten oder Monotheleten, griechisch denkende Theologen gegen Syrer und umgekehrt. Eine neue Religion, der Islam, kommt in dieser Literatur nicht vor, auch nicht in Chroniken oder in den zahlreichen Briefen und Brieffragmenten oft weit gereister Äbte, Mönche oder Bischöfe, und es bestand offensichtlich auch keine Notwendigkeit, sich mit ihr auseinander zu setzen. Hätten die neuen Herren, die Araber, eine neue Religion vertreten, hätten sich die damaligen Theologen vor allem damit auseinander setzen müssen – und nicht mit ihren innerchristlichen Querelen. Sebastian Brock schreibt in seinem Buch Syriac Perspectives on Late Antiquity, dass erst der 845 gestorbene Syrer Dionysios von Tellmahre erstmals vom Islam als einer neuen Religion spricht[3] ; Brock war ehrlicher als Hoyland. Dennoch hält er aber an der Vorstellung einer islamischen Herrschaft fest. Er erklärt sich dann diesen Sachverhalt damit, dass die vorherigen christlichen Theologen nicht imstande waren, die Religion der Araber von Heidentum zu unterscheiden – was bei der Differenziertheit vieler dieser Theologen geradezu absurd ist, einmal abgesehen davon, dass kein einziger Autor der damaligen Zeit gegen ein Heidentum der Araber, allenfalls gegen mitgeschleppte heidnische Relikte polemisiert – hierfür gibt es drei Zeugnisse, die aber möglicherweise oder wahrscheinlich von Hieronymus (Ende 4. Jahrhundert) abgeschrieben sind.

3.2 Ist man wohlwollend, so ist an allenfalls 29 Belegstellen von meist nur wenigen Zeilen von den Arabern und ihrer Herrschaft die Rede. „Wohlwollend“, weil einige dieser Quellen entweder nichtssagend oder wohl späterer Provenienz oder interpoliert sind. Die Araber werden kaum einmal mit diesem Namen oder mit dem syrischen
Äquivalent (Tayaye) bezeichnet, sondern durchgängig gemäß biblischer Genealogie und Völkerherleitung, wie spätestens seit Hieronymus (Ende 4. Jahrhundert) üblich, als Ismaeliten oder Hagarener, also als Söhne Ismaels oder seiner Mutter Hagar (nach Genesis 16), aber auch mit dem seit der Antike, seit dem 2. Jahrhundert, gebräuchlichen Begriff Sarazenen. Niemals taucht der Begriff Muslime auf.

Es fällt auf, dass man offensichtlich – das gilt durchgängig – über die Ismaeliten nicht viel mehr wusste als das, was in der Bibel steht. Sie werden meist vorgestellt mittels Zitaten oder Anklängen aus dem Buch Genesis. Danach lebten Hagar und ihr Sohn Ismael nach der Verstoßung durch Abraham „in der Wüste“ (Gen 21, 9-21), ebenso die von Ismael gezeugten zwölf Söhne und ihre Stämme (Gen 25, 16-18). In den syrischen Apokalypsen werden sie zudem – ohne geographische Konnotation – mit Hilfe des Buchs Daniel in die theologische Geschichte eingereiht („Reich des Südens“).

Wenn, ganz selten, über die biblischen Assoziationen hinaus weitere Informationen über die Ismaeliten anklingen, dann werden sie mit dem mesopotamischen Gebiet bis zum Tigris (sprachlich genauer: das Gebiet „westlich“ des Tigris) oder mit der von den Römern im Jahr 106 n.Chr. eroberten und so benannten provincia Arabia, dem Nabatäergebiet östlich und südlich der Provinz Judäa, in Verbindung gebracht.

An ganz wenigen Stellen ist auch von Jathrib die Rede, das aber in einer syrischen Chronik, angeblich vor 680 verfasst, mit Hasor, einer Stadt in Israel, genauer in der Nordhälfte Kanaans (vgl. Josua 11,10-15), identifiziert wird; zusätzlich hat später ein Abschreiber den jetzigen Namen von Jathrib, Medina, ergänzt[4]. In der Apokalypse des Pseudo-Methodius, die in ihrer Endredaktion wohl auf die erste Hälfte des 8. Jahrhunderts zu datieren ist, besiegt im 13. Kapitel der König der Griechen die Ismaeliten und treibt sie in die Wüste Jathrib zurück, wo sie auch herkommen[5]. Hinter dieser Notiz steckt keine historische Begebenheit, immerhin aber zeigt sie mittlerweile ein Wissen um Jathrib, wo ja auch in der Mitte dieses Jahrhunderts ein Heiligtum gebaut wurde.

Die Arabische Halbinsel oder gar Mekka kommen nicht vor (auch im Koran ist nur einmal, ohne irgendeine Relevanz, vom Talgrund von Mekka die Rede). Einmal allerdings wird in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts Mekka erwähnt, in einem Anhang zu einer Schrift des Isidor von Sevilla (historia Gothorum, Wandalorum, Sueborum). Dieser Anhang (Additamentum IV-V: Continuatio Byzantina Arabica) wurde schon von Theodor Mommsen in seinen Monumenta Germaniae historica, Berlin 1844, herausgegeben. Offensichtlich sind in diesem lateinischen Text bisher unbekannte Quellen aus dem Vorderen Orient verarbeitet. Dort wird erzählt, dass ein Habdemale (’Abd al-malik) gegen einen Habdella (also ’Abdallah) zu Felde zieht; letzteren habe auch schon sein Vater bekämpft „bei Mekka (apud Maccam), Abrahams Haus, wie sie (die Ismaeliten) glauben, das zwischen Ur in Chaldäa und Carras, einer Stadt Mesopotamiens, liegt“[6]. Carras ist die lateinische Umschrift für griechisch Carrhae, das selbst die Umschrift für Harran ist. Mekka und das Haus Abrahams liegen also demnach in Mesopotamien zwischen Ur in Chaldäa und Harran, was ja auch der Heimat des biblisch-fiktiven Abraham entspricht. Diese älteste geographische Lokalisierung eines Mekka hat also nichts mit der Arabischen Halbinsel zu tun.

In einer ostsyrischen Chronik, die in den Jahren 670 bis 680 abgefasst sein soll, heißt es von den Ismaeliten, dass sie im „Dom Abrahams“ diesen verehren – was als positiv gewertet wird. Dann heißt es, dass „wir“ nicht gefunden haben, „welcher Ort es auch immer gewesen sei[7].“ In einem Fragment des Pseudo-Methodius, das aber, wegen seiner theologischen Fortentwicklung wesentlich jünger sein muss als die ebenfalls Pseudo-Methodius zugeschriebene Apokalypse, also wohl vom Ende des 8. Jahrhunderts stammt, wird jetzt erstmals Mekka, dieses Mal wohl die Stadt in Arabien, erwähnt[8].

3.3 Von arabischen Invasionen und Eroberungen wissen diese Zeitgenossen nichts, wenn man nicht Anspielungen auf das Buch Genesis, das die Ismaeliten in der Wüste wohnen lässt, als geographische Aussagen über die Herkunft der Araber von der Arabischen Halbinsel missdeuten will. Die neuen Herren haben aber zwei Reiche, also das Byzantinische und das Persische Reich, abgelöst – wie Jochanan bar Penkaye gegen Ende des 7. Jahrhunderts in einer ihm zugeschriebenen, fragmentarisch erhaltenen Chronik schreibt. Sie gewannen die zwei Königreiche „ohne Kampf und ohne Schlacht ... Gott gab ihnen den Sieg“[9]. Jetzt jedenfalls haben sie die Macht. Ähnlich steht es in der eben erwähnten ostsyrischen Chronik.

Lediglich in einem Manuskript (aus dem 8. Jahrhundert?), das einem Presbyter Thomas (um 640) zugeschrieben wird, ist von arabischen Eroberungen in Syrien und Persien im Jahr 635/636 die Rede und von einer Schlacht gegen die Römer östlich von Gaza im Jahr 634[10]. Die den Arabern hier zugeschriebene „Verwüstung der ganzen Region“ hat es aber, laut Archäologie, nicht gegeben, weiteren Verdacht erweckt die Nähe zum Traditionellen Bericht. Kurz: entweder ist das ganze Manuskript ein späteres pseudepigraphes Produkt oder die beiden kurzen Sätze sind später interpoliert worden, vielleicht schon im späten 8. Jahrhundert. Aber wohlgemerkt: dies ist der einzige Text, der von Eroberungen spricht.

Diese neue Herrschaft wird zunächst, vor allem in der Regierungszeit des Maavia, später arabisiert zu Mu’awiya, positiv gewertet: es ist Friede, und die Kirche wird gefördert, wie der ostsyrische Patriarch Isoyaw III. schreibt[11]. Auch in der „Geschichte des Heraklius“ von Pseudo-Sebeos heißt es: „Als er (Mu’awiya) sie (die Stämme) sich unterworfen hatte, regierte er über alle Besitztümer der Kinder Ismaels und machte mit allen Frieden[12].“

Seit der Herrschaft des eifernden ’Abd al-malik aber wird die Araberherrschaft zunehmend negativ empfunden und gewertet. So schreibt Jakob von Edessa (gest. 708), dass Gott „uns“ wegen unserer vielen Sünden „dem harten Joch der Araber“ unterworfen habe[13]. In den syrischen Apokalypsen schließlich wird die Araberherrschaft gänzlich verurteilt – sie ist, in Anlehnung an die Danielapokalypse, das vierte und letzte der vier Weltreiche. Sie bringt Unrecht und Böses hervor und wird nur noch, negativ, übertroffen von dem auf die Ismaelitenherrschaft folgenden Kommen des Antichrist vor der Wiederkunft Christi.

3.4 In keinem der christlichen Texte aus den beiden ersten islamischen Jahrhunderten ist, wie gesagt, von Islam oder einer neuen Religion der Ismaeliten die Rede. Alleine dieses Nichtvorhandensein expliziter Aussagen lässt darauf schließen, dass die damaligen Theologen keine Notwendigkeit sahen, davon zu sprechen. Man muss annehmen, was ja auch durch die christliche Ikonographie der Münzprägungen und die Inschriften arabischer Herrscher gestützt wird, dass sie als Christen wahrgenommen wurden. Dies gilt auch für die syrischen Apokalypsen, die den Arabern alles nur erdenklich Böse vorwerfen – von Unzucht über Unterdrückung bis hin zu brutalem Morden –, aber keinerlei Vorwürfe erheben, sie verträten eine nichtchristliche Religion; wenn das so gewesen wäre, hätte man vor allem dies den Negativkatalogen hinzufügen müssen.

Dennoch aber finden sich an einigen Stellen Andeutungen über religiöse Überzeugungen und Praktiken der Araber.

4. Die religiösen Vorstellungen der Araber

Nur drei Textstellen, was angesichts der äußerst umfangreichen christlichen Literatur kaum zu glauben ist, ermöglichen vielleicht Einblicke in die religiösen Vorstellungen der Araber. „Vielleicht“ deswegen, weil auch sie entweder nicht präzise oder auch in ihrer historischen Einordnung problematisch sind. Die drei Textstellen
aber stammen, ein glücklicher Zufall, von Theologen, die ein großes Spektrum des damaligen Christentums repräsentieren: von einem ostsyrischen („nestorianischen“) Patriarchen, von einem syrischen Neuchalkedonier und von einem byzantinisch denkenden Theologen.

(1) Der älteste Hinweis findet sich in einem der Briefe des schon erwähnten ostsyrischen („nestorianischen“) Patriarchen Iso’yaw III. (gest. 659). Von ihm sind 106 Briefe überliefert, nur in einem ist von den Hagarenern die Rede. Dieser Brief antwortet auf eine Beschwerde des Klerus von Niniveh, die neuen arabischen Herrscher bevorzugten die Monophysiten. Diese Beschwerde deutet auf einen historischen Hintergrund: In der Gegend von Niniveh waren wohl Gouverneure oder sonstige Machthaber tätig, die aus den Reihen der Ghassaniden stammten. Diese arabischen Stämme hatten schon in byzantinischer Zeit den Monophysitismus übernommen. Allerdings scheint es sich um eine regionale Besonderheit gehandelt zu haben; denn der Patriarch sieht keinen Grund zur Beunruhigung, weil die hagarenischen Araber (tayyaye mhaggraye) „unseren Glauben“, also den der ostsyrischen Christen, loben, „unsere“ Priester und Heiligen ehren und der Kirche und ihren Konventen helfen[14].

Dann heißt es, in einer Übersetzung von Harald Suermann folgendermaßen: „Die Häretiker (also die Monophysiten, Verf.) täuschen euch (indem sie sagen, Verf.): das, was passiert, passiert durch den Befehl der Eiferer (Araber). Dies ist überhaupt nicht wahr. Tatsächlich kommen die arabischen Muslime denen nicht zu Hilfe, die sagen, daß der allmächtige Gott gelitten hat und gestorben ist. Wenn es vorkommt ..., daß sie ihnen helfen, könnt ihr den Muslimen sagen, was ist, und sie überzeugen, wie es sich gehört.[15]“ Daran schließen sich bei H. Suermann treffliche Ausführungen zum Verhältnis von Christen und Muslimen an.

Dies ist ein Beispiel für tendenziöses und unwissenschaftliches Umgehen mit Quellen: Wegen des Verdachts, hier könne eine falsche Übersetzung vorliegen – immerhin wäre es recht schwierig zu erklären, dass in dieser frühen Zeit schon von Muslimen die Rede ist –, wurde zunächst die lateinische Übersetzung von R. Duval, auf die sich H. Suermann bezieht, überprüft. Tatsächlich heißt es dort dann – noch erstaunlicher – Arabes Mohammetani und auch einfach Mohammetani[16]. Ein Vergleich mit dem ebenfalls von R. Duval edierten syrischen Text aber erweist, dass in dem o.a. Zitat zweimal Tayyaye m-Haggre (hagarenische Araber) und einmal m-Haggre (Hagarener) zu lesen ist[17]. Diese Bezeichnung der Araber als Hagarener, seit Hieronymus geläufig, hat aber nicht das Geringste mit Islam und Muslimen zu tun; es handelt sich um Benennungen der Araber gemäß biblischen Rastern, die damals „das Wissen“ um die Welt bestimmten. Im Text steht lediglich, dass damals, z.Zt. Mu’awiyas, die Araber den (anderen) Christen freie Hand ließen und das christliche Leben ungestört blühen konnte. Sie scheinen, der Haupttendenz der Regierenden gemäß, den ostsyrischen („nestorianischen“) Christen und Theologen zugeneigt gewesen zu sein; aber es gab wohl auch in manchen Regionen noch Agierende unter ihnen, die aus dem ghassanidischen Milieu kamen.

(2) Ein zweiter wichtiger Zeuge ist Anastasius Sinaita („vom Sinai“); er lebte von 610 bis wahrscheinlich 710. Er war Mönchspriester (und Abt) im Sinaikloster. Er hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, in dem es vor allem um die theologischen Streitigkeiten in Ägypten und Syrien ging, um Monophysitismus und Monotheletismus auf der einen und syrische, gelegentlich neuchalkedonische Theologie, der er zuzurechnen ist, auf der anderen Seite; darüber hinaus hat er erbauliche und exegetische Schriften verfasst.

Weil seine Werke der (späteren) Hälfte des 7. Jahrhunderts zuzurechnen sind, ist schon – die traditionelle Geschichtsschreibung vorausgesetzt – erstaunlich, dass er sich in keiner Weise mit der Bedrohung durch eine angeblich neue Religion befasst; auch die Araber waren für ihn kein Problem, obwohl sie doch die Herren des Landes waren.

Letztere werden – am Rande – in seiner wichtigsten antimonophysitischen Schrift, dem Hodegos (lateinisch: Viae dux), erwähnt (vor 690). Diese Schrift ist in ihrer handschriftlichen Überlieferung äußerst komplex und vielfältig redigiert, mitten hinein scheinen ein ursprünglich selbständiger Traktat und auch Scholien (Glossen) integriert worden zu sein.

Nehmen wir den Text, wie er jetzt ist, findet sich eine kurze Aussage zur Theologie der Araber: Vor einem Gespräch mit ihnen müsse man irrige Thesen zurückweisen, die Gegner vielleicht „über uns“ haben könnten: „Wenn wir mit Arabern diskutieren wollen, sollten wir den, der sagt ,(Es gibt) zwei Götter’ anathematisieren; oder den, der behauptet ,Gott hat auf fleischliche Weise einen Sohn gezeugt’ oder denjenigen, der irgendein Geschöpf im Himmel oder auf der Erde wie Gott anbetet.[18]“ Da geht es um monophysitische Überzeugungen, deren Thesen die Araber, aber ebenso Anastasius, ablehnen.

Es spricht nichts dagegen, diese Passagen Anastasius zuzuschreiben. Richtig sind arabische Überzeugungen z.Zt. des ’Abd al-Malik wiedergegeben, wie die Inschrift im Felsendom zeigt. Da sich Anastasius in keiner Weise darüber aufregt oder sie richtig stellt, lässt sich annehmen, dass er die arabischen Wünsche für richtig hält; sie sollen nicht annehmen, er oder seine syrischen Christen dächten so etwas. Seine Christologie ist so beschaffen, dass er selbst weder zwei Götter noch eine fleischliche Zeugung noch die Anbetung eines Geschöpfs – der Mensch Jesus ist für ihn mit dem göttlichen Logos „lediglich“, ein wenig ungenau, in einer Hypostase – geeint. Vor allem schildert er die Araber in keiner Weise als Angehörige einer anderen Religion, sondern als Leute mit einer spezifischen Christologie.

In ähnlicher Weise ist wohl auch eine Stelle zu verstehen, in der er gegen die Severianer – Severus war gemäßigter Monophysit, der aber ablehnte, dass Jesus Christus „in“ zwei Naturen existierte – polemisiert; er wirft den Severianern vor, beim Wort „Natur“, an „hässliche und unziemliche Dinge“ wie an die Geschlechtsorgane von Männern und Frauen zu denken. „Aus diesem Grund scheuen sie dieses Wort (Natur), als seien sie Schüler der Sarazenen gewesen; denn wenn diese von der Geburt Gottes und der Zeugung Gottes hören, lästern sie sofort, weil sie sich (unter diesen Begriffen) Heirat, Befruchtung und fleischliche Vereinigung vorstellen.[19]“ Diese drastische und untheologische Auffassung von Natur mag den Sarazenen in der alltäglichen Diskussion geholfen haben, ihre Christologie – dass Jesus nicht Gott, sondern Messias und Gesandter war – zu verteidigen. Sie können deswegen aber durchaus als Christen aufgefasst werden, wie auch die (häretischen) Severianer.

In einer Schrift Quaestiones et responsiones behandelt Anastasius 154 exegetische Fragen. Die kurze Frage 126 bezieht sich auf die Aussage, dass der Satan zu Fall kam, weil er nicht vor dem Menschen (Adam) niederknien wollte. Dies betrachtet Anastasius als aus Mythen der Griechen und Araber herkommend[20]. In Bezug auf die Letzteren könnte dies auf die Kenntnis koranischer Stoffe (vgl. Sure 38, 71-78), wenigstens vom Hörensagen, hindeuten, ebenso aber auf die Mandäer, in deren Schriften (z.B. in der „rechten Ginza“) diese Schilderung, lange vor dem Koran, mehrfach auftaucht.

(wird fortgesetzt)


© imprimatur Oktober 2012
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[1]Der folgende Aufsatz bietet eine Zusammenfassung eines Vortrags an der Universität Münster. Im Rahmen eines Vortrags können nicht alle Quellen vorgestellt werden. Hierfür verweise ich auf meinen Beitrag „Hinweise auf eine neue Religion in der christlichen Literatur ‚unter islamischer Herrschaft’?“ in: Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Der frühe Islam, Berlin 2007,223-325, und die dort angegebene Literatur.
[2]Vgl. hierzu z.B. Wilhelm Baum / Dietmar W. Winkler, Die Apostolische Kirche des Ostens. Geschichte der sogenannten Nestorianer (Einführungen in das Orientalische Christentum, Bd. 1), Klagenfurt 2000; allerdings führt die Schilderung der Blütezeit der syrischen Kirche hier an keiner Stelle zu der Frage, wie dies unter der fraglos vorausgesetzten islamischen Herrschaft möglich gewesen sein sollte. Vgl. vom Verf., Das syrische und arabische Christentum und der Koran, in: Karl-Heinz Ohlig / Gerd-R. Puin (Hg.), Die dunklen Anfänge. Neue Forschungen zur Entstehung und frühen Geschichte des Islam, Berlin 2005, 366-404.
[3]Sebastian Brock, VIII Syriac Views of Emergent Islam, in: Ders., Syriac Perspectives on Late Antiquity, London 1984, 21.
[4]Syrische Chronik (vor 680?), lateinische Version in: Chronica Minora, pars prior, hrsg. und übers. von Ignatius Guidi (SSCO, Scriptores Syri, series tertia, tomus IV), Paris 1903, 3-32; hier 31.
[5]Pseudo-Methodius-Fragment, syrischer Text und deutsche Übersetzung in: H. Suermann, Die geschichtstheologische Reaktion auf die einfallenden Muslime in der edessenischen Apokalyptik des 7. Jahrhunderts (Europäische Hochschulschriften, Reihe XXIII Theologie, Bd. 256), Frankfurt a.M, Bern, New York 1985, 86-97; hier 13,11.
[6]Add.(itamenta) IV.V: Continuatio Byzantina Arabica a. DCCXLI, zu: Isidori iunioris episcopi Hispalensis historia Gothorum Wandalorum Sueborum ad a. DCXXIV, in: Monumenta Germaniae historica, tomus XI: Chronicorum minorum saec. IV, V, VI, VII, Vol. II: Chronica minora, edidit Theodorus Mommsen, Berlin 1844 (Add. IV und V ganz: 323-369).
[7]Chronica Minora (SSCO, Scriptores Syri III,4), a.a.O. 31; deutsch nach: H. Suermann, Orientalische Christen und der Islam. Christliche Texte aus der Zeit von 632-750, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 52, 1993, 120-136; hier 130.
[8]Syrischer Text und deutsche Übersetzung bei H. Suermann, Die geschichtstheologische Reaktion, a.a.O. 86-97.
[9]Johannes bar Penkayê, Chronik, Kap. 14, in: deutsche Übersetzung aus dem Syrischen von Rudolf Abramowski, Dionysius von Tellmahre. Zur Geschichte der Kirche unter dem Islam (einschließlich einer Übersetzung der Bücher 14 und 15 von Johannes bar Penkayê), Leipzig 1940, 5.6.
[10]Chronik, in: The Seventh Century in the West-Syrian Chronicles, introduced, translated and annotated by Andrew Palmer, including two seventh-century Syriac apocalyptic texts, introduced, translated and annotated by Sebastian Brock, with added annotation and historical introduction by Robert Hoyland, Liverpool 1993 (ed. A. Palmer), 18.19.
[11]’Iso’yaw patriarchae III., Liber epistularum, hrsg. und ins Lateinische übers. von R. Duval (Corpus Scriptorum christianorum orientalium, Vol. 12, Scriptores Syri II, tomus 12), Löwen 1904, 172.182.
[12]Pseudo-Sebeos, Histoire d’Héraclius par l’évêque Sebéos, traduite de l’Arménien et annotèe par F. Macler, Paris 1904,149.
[13]Jakob von Edessa, Scholion zu 1 Könige 14,21ff., in: George Phillips, Scholia on Passages on the Old Testament by Mar Jacob, Bishop of Edessa, London 1864 (Text und englische Übersetzung).
[14]’Iso’yaw patriarchae III., Liber epistularum, hrsg. und ins Lateinische übers. von R. Duval (Corpus Scriptorum christianorum orientalium, Vol. 12, Scriptores Syri II, tomus 12), Löwen 1904, 182; deutsch nach H. Suermann, Orientalische Christen und der Islam. Christliche Texte aus der Zeit von 632-750, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft 52, 1993, 120-136, hier: 128.
[15]H. Suermann, Orientalische Christen und der Islam, a.a.O. 128.
[16]’Iso’yaw patriarchae III., Liber epistularum, hrsg. und ins Lateinische übers. von R. Duval (CSCO Vol. 12), a.a.O. 73.
[17]Iso’yahw Patriarchae III liber epistularum (syrischer Text), hrsg. von R. Duval (CSCO Vol. 11; Scriptores Syri, Tomus II), 97.
[18]Anastasii Sinaitae Viae dux, (kritische Edition des griechischen Textes) von Karl-Heinz Uthemann (Corpus Christianorum, series Graeca [CCG], Bd. 8), Turnhout, Brepols 1981 (Hodegos, ebd. 7-320), hier: 9, Zeile 45-49.
[19]Anastasius Sinaita, Viae dux X 2,4; ed. Uthemann, ebd. 169.170, Zeilen 5-12.
[20]Anastasius Sinaiticus, Quaestiones et responsiones (MPG 89, 311-824 [griechisch und lateinisch]), hier:126, in: MPG 89, 776 B.C.