Papst Benedikt XVI. regiere mit seinem Kardinal Staatssekretär Tarcisio Bertone den Vatikan "monolithisch", meint der Kirchenhistoriker Rudolf Lill. Die jüngste Veröffentlichung streng vertraulicher Dokumente des Kirchenstaats nütze denen, die Benedikt "kritisch, skeptisch und feindlich gegenüberstehen".
Christoph Heinemann: Eine Karikatur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zeigte gestern Papst Benedikt XVI., der seinen Schreibtisch durchsucht und dabei murmelt, oh Gott, wenn mein Abiturzeugnis auch gestohlen ist und herauskommt, dass ich in Latein und Religion nur eine Fünf hatte, dann ist der Teufel los. - Der Nachweis der Hochschulreife des Joseph Ratzinger gehört bisher nicht zu den Dokumenten, die aus dem Vatikan verschwunden sind, abgesehen davon, dass die Versetzung des heutigen Papstes in den Fächern Latein und Religion wohl kaum gefährdet gewesen sein dürfte. Seit Wochen gelangen aber vertrauliche Dokumente aus dem Vatikan in die Öffentlichkeit, etwa ein Schreiben des für Außenpolitik zuständigen Bischofs Dominique Mamberti mit dem italienischen Staatspräsidenten, oder ein Brief des persönlichen Sekretärs an ein Mitglied der in Ungnade gefallenen Organisation Legionäre Christi. Seit zwei Wochen befindet sich der ehemalige Diener des Papstes, Paolo Gabriele, in Haft, gestern wurde er erstmals verhört, Gabriele gilt als einer, aber offenbar nicht als der einzige Lieferant vertraulicher Schriftstücke. - Im Studio bei uns ist der Italien-Experte und Kirchenhistoriker Professor Rudolf Lill. Guten Morgen.
Rudolf Lill: Guten Morgen!
Heinemann: Herr Professor Lill, die Namen derjenigen, denen diese Veröffentlichungen schaden, sind bekannt: Da ist der Papst, sein Kardinal Staatssekretär, Tarcisio Bertone und sein Privatsekretär Georg Gänswein. Wem nutzt die undichte Stelle im Vatikan?
Lill: Nun, das ergibt sich aus den von Ihnen genannten Personen. Es nützt allen im Vatikan, die dem derzeitigen Papst und seinem ganz auf sich und seine engsten Freunde bezogenen Regierungsstil kritisch, skeptisch und feindlich gegenüberstehen.
Heinemann: Also er hat Feinde?
Lill: Man muss das inzwischen annehmen. Er wird zwar offiziell hoch verehrt, er wird auch als der große Theologe und theologische Lehrer verehrt, aber man sagt ihm, soviel ich höre, erstens nach, dass er nicht richtig regiert, weil er sich nämlich zu früh und zu oft zu seinen Büchern zurückzieht, anstatt Akten zu lesen, und zweitens sagt man ihm nach, dass er ja ganz alleine regieren will, dass er mit einer solchen reaktionären Clique regiert. Denken Sie nur zurück an den Skandal vor dreieinhalb Jahren, 2009. Die Geschichte mit diesen exkommunizierten Bischöfen hätte doch nicht passieren können, wenn man von den Nuntien in den betreffenden Ländern Berichte über diese Männer eingefordert und gelesen hätte. Also gerade die päpstliche Diplomatie, die eigentlich auf hohem Niveau stand, scheint brüskiert schon darüber gewesen zu sein, dass Benedikt XVI. seinen alten Mitarbeiter aus der Glaubenskongregation, den Pater Bertone, in das Staatssekretariat zurückholte, zum Chef machte und damit der ganzen Diplomatie als Vorgesetzten hinstellte.
Heinemann: Geht es bei diesem Ringen Ihrer Einschätzung nach um kirchenpolitische, oder auch um theologische Auseinandersetzungen?
Lill: Ich glaube, dass man die beiden Dimensionen nicht ganz trennen kann. In beiden Bereichen ist es ja wohl so, dass im Vatikan nach fast 30 Jahren Johannes Paul II. und nunmehr sieben Jahren Benedikt XVI. nur noch eine konservative, oder eine angeblich konservative, das heißt: traditionalistische Richtung und eine ultrakonservative Richtung bestehen. Alle diejenigen, die nun wirklich auf reformistisches Durchdenken der eigenen Traditionen und auf Dialog im weitesten Sinne ausgerichtet waren - denken Sie zurück an das Zweite Vatikanische Konzil vor 50 Jahren -, die sind ja alle längst entfernt und durch treue Diener (mir sagt ein italienischer Kollege, der den Vatikan viel besser kennt als ich), servi obedientes, ersetzt worden, ...
Heinemann: Gehorsame Diener.
Lill: ... , gehorsame Diener. Und insofern herrscht ein sehr konservativer und ein Kurs der Selbstbeschränkung, würde ich sagen, der Konzentration auf einige wenige Themen, die, wie der Einsatz für das Leben, Bioethik und alles, was damit zusammenhängt, dem Papst besonders am Herzen liegt. Die großen Fragen der Welt werden darüber vergessen, und die katholische Kirche ist nicht mehr in der Welt so präsent, wie sie es bis vor 30 Jahren war. Das ist ein großes Problem nicht der Kirchengeschichte nur, sondern der Sozialgeschichte Europas. Es geht um das Überleben und das Weiterleben des Christentums in dieser Gesellschaft. Man beschäftigt sich mit sich selbst, und das ist sowohl das kirchenpolitische wie auch das theologische Problem dieses Pontifikats.
Heinemann: Sie haben den Kardinal Staatssekretär erwähnt.
Tarcisio Bertone hat sich in dieser Woche im italienischen Fernsehen "Rai
Uno" geäußert:
"Solche Angriffe, die instrumentalisiert wurden, hat es zu allen Zeiten
gegeben", sagt er. "Ich erinnere mich an die Zeit Papst Paul VI.,
diesmal ist es allerdings zielgerichteter, heftiger und organisierter. Ich möchte
unterstreichen, dass Benedikt XVI. ein Mann des tiefen Glaubens und des Gebetes
ist, er lässt sich von diesen Angriffen und Vorurteilen nicht einschüchtern.
Wer ihm nahesteht und mit ihm arbeitet, wird von dieser großen moralischen
Kraft des Papstes getragen." Professor Lill, schon ein seltener Fall, dass
ein hoher Kardinal im Fernsehen über die Befindlichkeiten des Papstes Auskunft
gibt. Wofür steht dieser Tarcisio Bertone?
Lill: Ich glaube, er steht für denselben dogmatischen und zentralistischen Konservatismus wie der Papst selbst, denn der Pater Bertone war Kardinal Ratzingers engster Mitarbeiter in der Glaubenskongregation, hat auch etliche der von uns allen als ärgerlich empfundenen Dokumente wie zum Beispiel die Auferlegung dieses Treueeides, der freies Denken in der katholischen Kirche erschwert, selbst offiziell unterzeichnet. Also er ist ein Mann des Papstes, und wie eingangs gesagt: Ihn hat der Papst nach seiner Wahl ins Staatssekretariat an die Spitze der päpstlichen Regierung, sofern es eine solche gibt, und der päpstlichen Diplomatie gestellt. Er hat einmal in einem Vortrag gesagt, die katholische Kirche kann weder eine Konföderation noch eine Demokratie werden. Das heißt, von der Kollegialität der Bischöfe, die das Zweite Vatikanische Konzil wiederherstellen wollte - es geht ja nicht um Revolutionen, sondern um Reformen in der Kirche -, davon will er genauso wenig wissen wie der Papst. Er wie der Papst setzen auf ein völlig einförmiges monolithisches Regiment. Außerdem hat er sich politisch, was er ja eigentlich beherrschen müsste, nicht besonders geschickt verhalten, indem er lange Zeit auf Berlusconi gesetzt hat. Man hat den Hallodri Berlusconi dem frommen Katholiken Romano Prodi vorgezogen, weil Prodi als Ministerpräsident sagte, ich muss auch die Anfragen aus der Gesellschaft, die uns nicht passen, Homosexuellenehe und dergleichen, die muss ich ernst nehmen, während Berlusconi, dessen Privatleben ja anders verlief, öffentlich verkündet hat, die katholische Moral gehört zu den großen Schätzen Italiens, wir werden alle Wünsche und Forderungen des Heiligen Stuhls in dieser Richtung gerne erfüllen und werden auch die Steuerprivilegien des Vatikans sehr großzügig handhaben. Also da war Bertone auf der Seite Berlusconis. Man sieht, wie sich Politik und Kirchenbild verbinden, aber alles bleibt monolithisch, ich würde sagen reaktionär.
Heinemann: Die Berlusconi-Doktrin kann man zusammenfassen in den Worten Bunga-Bunga. Wo sind die vernünftigen Leute im Vatikan?
Lill: Ja. Man muss bei aller Kritik am Vatikan ja gelegentlich
mal sagen, dass eigentlich der Heilige Stuhl, wie er sich offiziell nennt, eine
große historische Institution, auch mit einer großen politischen
und diplomatischen Tradition ist. Es gibt ihrer immer noch welche, aber sie
sind mehr beiseitegeschoben und sie bestimmen nicht den Ton. Aber dass es sie
gibt, zeigen die Ereignisse der letzten Monate. Da gibt es diesen Titular-Erzbischof
Vigano - die römische Kurie benutzt ja das Bischofsamt, um hohe Beamte
auszuzeichnen -, der wollte für Sauberkeit in der Verwaltung der Vatikan-Stadt,
die etwas anderes ist, aber eng verbunden mit der römischen Kurie, sorgen,
und dann hat man ihn weggelobt. Man hat sich innerhalb des Systems gegen ihn
gewandt und er wurde dann als Nuntius nach Washington ehrenvoll abgeschoben.
Das ist ein altes Prinzip der römischen Kurie, promo beato du amo beato,
man muss ihn befördern, um ihn loszuwerden. Auch von ihm sind ja Briefe
an den Papst jetzt mit veröffentlicht worden. Das heißt, die Gegner
im Vatikan des Papstes müssen diese Dinge genau kennen.
Dann nenne ich deswegen zwei Kurienkardinäle, die hier wenig bekannt sind,
der Italiener Nicora und der Franzose Tauran, die sich in der letzten Woche
deutlich gegen Bertone gestellt haben, weil Bertone ja auch wieder an der Entfernung
dieses Bankiers Gotti Tedeschi beteiligt ist, ...
Heinemann: Des Chefs der Vatikanbank.
Lill: ... , des Chefs der Vatikanbank, der endlich die Vatikanbank von dem Schatten ihrer vielen Skandale freimachen wollte. Und was da im Einzelnen zu seiner Entlassung durch den Verwaltungsrat geführt hat, weiß ich nicht. Aber ich weiß, dass in der Sitzung der Kommission der Kardinäle danach sich die beiden Kardinäle Nicora und Tauran eindeutig dem Wunsch Bertones nach Bestätigung dieser Entlassung widersetzt haben. Der "Corriere della Sera" berichtete, dass ein hoher Prälat danach gesagt hätte, "Sie sehen also, es gibt auch bei uns noch eine Reihe von Leuten, die ihrem Gewissen folgen". Allerdings zeigt auch ein solcher Ausspruch, wie heftig die Kontroversen und die Animositäten innerhalb des Vatikans sind.
Heinemann: Die Frage an den Kirchenhistoriker: Wann und wie vollzog sich eigentlich geschichtlich der Übergang vom zunächst nur römischen Bischofsamt zu dieser omnipotenten und manchmal auch als präpotent empfundenen katholischen Machtzentrale?
Lill: Nun, das ist ein ganz, ganz langer Prozess. Der Beginn des Papsttums ist wohl in die Zeit des Kaisers Konstantin anzusetzen, als die römischen Bischöfe mit großen, auch politischen Vollmachten betraut wurden. Aber bis sie dann ein Jahrtausend später um 1300 die europäische Politik mitbestimmten, das war ein weiter Weg, und dann ist der große Einbruch gekommen. Man darf nie vergessen, daran denken die Herren Meisner und ihre Mitarbeiter wohl gar nicht, dass es in der Katholischen Kirche eigentlich zwei Pole gegeben hat, den Papst und das Konzil. Und am Ende des Mittelalters hat sich der Konziliarismus erneut durchgesetzt und die Suprematie des Konzils der Bischöfe über den Papst dekretiert. Dann aber ist seit der Rückkehr der Päpste nach Rom 1430 ein allmählicher Prozess verlaufen, welcher die durch die Reformation erheblich verkleinerte katholische Kirche noch mehr zentralisiert hat als zuvor, und entscheidend für diesen Prozess ist dann die Abwehr von Revolution und Liberalismus geworden. Man darf nie vergessen, dass das Dogma von der Unfehlbarkeit und von dem Universalepiskopat des Papstes erst 1870, immerhin gegen eine Minderheit von 20 Prozent der Bischöfe, durchgesetzt worden ist. Die Pius-Brüder und ihre Freunde, die sich auf die Tradition berufen, kennen eigentlich nur die Pius-Tradition von 1870 bis zu Pius XII., das ist für sie die Geschichte. Und wer nur eine Periode der Geschichte in Erinnerung hat und diese verabsolutiert, der verfälscht die Geschichte.
Das Gespräch führte Christoph Heinemann im Deutschlandfunk am 06.06.2012 mit dem Historiker Prof. Dr. Rudolf Lill, Köln.
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