Helmut Schüller
Zeichen der Zeit statt Zeitgeist von gestern

Die Mitglieder des Stiftungsrates der Herbert Haag-Stiftung haben der Österreichischen Pfarrer-Initiative diesen Preis 2012 verliehen.

„Mit dem Herbert Haag-Preis ist eine ansehnliche finanzielle Dotation verbunden, über deren angemessene Verwendung wir noch gewissenhaft beraten wollen. Da wir nicht wissen, welche Herausforderungen auf uns noch zukommen, einiges davon lungsbank für Mikrokredite an Menschen im Süden der Erde anvertrauen. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich auch die Verbundenheit mit unseren Freunden in Irland und in der Slowakei zum Ausdruck bringen. In beiden Ländern wird derzeit seitens der Bischöfe Druck auf Priester ausgeübt, die sich für eine offene Diskussion zur Kirchenreform engagieren. Ich meine konkret unsere Freunde vom Theologischen Forum in der Slowakei und von der Association of Catholic Priests in Irland.

Sie sind mit Vorwürfen der Kirchenleitung konfrontiert, sie würden die Kirche spalten, sie würden nicht mehr zur Kirche gehören. Es wird ihnen mit Sanktionen gedroht. Aber Druck auszuüben, ist einer Kirche, die sich auf Jesus beruft, nicht würdig. Außerdem sollen die Bischöfe wissen: Es hat keinen Sinn, die Sprecher der Reformbewegungen zum Schweigen zu bringen. Sie sprechen für den Großteil des Kirchenvolkes und der in den Gemeinden Engagierten.“

Sehr geehrte Damen und Herren,

als Thema meines Vortrages zu diesem festlichen Ereignis habe ich „Zeichen der Zeit statt Zeitgeist von gestern“ gewählt. Die Idee dazu ist der Debatte mit unseren Kritikern entsprungen, die uns immer wieder unterstellen, als „Opfer des Zeitgeistes“ nicht offen genug für die Führung durch den Geist Gottes zu sein. Ganz abgesehen davon, dass man sich natürlich immer fragen lassen muss, ob das, was man denkt und anstrebt, nicht weniger dem Heiligen Geist Gottes und vielmehr dem eigenen Vogel entspringt: bei eingehenderer Auseinandersetzung hat sich in mir doch auch der Verdacht verstärkt, dass so manches von der Kritik, die wir zu hören bekommen, selbst eher einem bestimmten innerkirchlichen „Zeitgeist“ entspringt, – nämlich dem rund um das I. Vatikanische Konzil. Der Frage, was uns der Geist Gottes durch unsere Zeit hindurch sagen will, kann aber nicht mit den Antworten auf Fragen des vorvorigen Jahrhunderts allein begegnet werden. Und dass der Geist Gottes durch Menschen und Ereignisse von „außerhalb“ der Kirche in die Kirche hineinsprechen kann (und manchmal offensichtlich auch muss), gehört zum Erfahrungsschatz der Kirche durch deren ganze Geschichte hindurch, – ja bis zurück in die Zeit des Jüngerkreises Jesu. Mitten in den Evangelien würdigt Jesus den Glauben von Menschen, denen man abspricht, überhaupt Glauben zu haben (und wenn, dann den falschen). Und Johannes XXIII. hat – wenn ich es richtig zuordne – sinngemäß einmal gesagt oder geschrieben, dass nicht nur die Geschichte von der Kirche lerne, sondern auch die Kirche von der Geschichte. Hier trage ich wohl „Eulen nach Athen“, wenn ich die Einleitungssätze der Pastoralkonstitution des II. Vatikanischen Konzils zitiere (aber Sie und ich hören es wohl trotzdem immer wieder gern): „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi…“(Gaudium et spes 1). Die „Menschen von heute“, von denen das Konzil noch mit Respekt und dem Willen, sich in sie einzufühlen, spricht, diese Menschen von heute bekommen von unserer Kirche inzwischen meistens zu hören, dass ihnen etwas fehle: der Wille zum Widerstand etwa gegen die Gefahren und Versuchungen der modernen Zeit. Vor allem aber auch der Glaube fehle ihnen zunehmend. Meistens ist damit gemeint, dass Menschen nicht mehr alles in der Weise glauben, wie es ihnen das Lehramt der Kirche vorlegt. Und auch nicht in den Formen, die die Kirche dafür vorgesehen hat. Und rasch wird in eine „Glaubenskrise“ umgedeutet, was eigentlich eine Kirchenführungskrise ist. Obwohl sich in mir so einige Gedanken angesammelt haben zu dieser „Zeitgeistopfer“-Unterstellung so mancher: ein wenig hat mich dann beim Vortragschreiben doch der Mut verlassen, es mit diesem großen Thema „Zeichen der Zeit“ aufzunehmen. Aber dann kam mir Papst Benedikt zu Hilfe, der am Gründonnerstag auf uns bezogen u.a. sagte: „… Wir wollen den Autoren dieses Aufrufs (gemeint ist unser „Aufruf zum Ungehorsam“ vom Juni 2011, Anm. des Verfassers) glauben, dass sie die Sorge um die Kirche umtreibt; dass sie überzeugt sind, der Trägheit der Institutionen mit drastischen Mitteln begegnen zu müssen, um neue Wege zu öffnen – die Kirche wieder auf die Höhe des Heute zu bringen…“ (Ansprache Papst Benedikts XVI. bei der Chrisammesse im Petersdom in Rom am 5. April 2012). „Die Kirche wieder auf die Höhe des Heute zu bringen“: Diese Formulierung hat mich aufhorchen lassen, – und wahrscheinlich nicht nur mich. Das „Wieder“ besagt doch, dass die Kirche sich nicht mehr „auf der Höhe des Heute“ befindet, aber dort hingehört. Und die Formulierung „Höhe des Heute“ sieht das „Heute“ offensichtlich nicht zuerst als gefährlichen Ort (außer man denkt an Absturzgefahr), sondern als etwas, zu dem sich die Kirche hin –, ja hinaufbewegen muss.

Diese Formulierung ist umso erstaunlicher, als man doch in der realen Kirche dem „Heute“ sehr viel skeptischer, pessimistischer und nicht selten auch ablehnend begegnet. Das „Heute“, die Zeit, in der wir leben, wird da als etwas gesehen, was uns, der Kirche vieles wegnimmt: die Priester, die Gottesdienstbesucher, das Glaubenswissen der Gläubigen, die lebenslange Treue in den kirchlich geschlossenen Ehen. Dementsprechend suspekt ist so manchen in der Kirche das „aggiornamento“ Johannes‘ XXIII. geworden, die „Verheutigung“ der Kirche. Sich auf eine Zeit einlassen, die einem vieles wegnimmt? Nicht die Frage interessiert, was aus der Welt wird, wenn sich die Kirche aus ihr zurückzieht, sondern die Frage: Was wird aus der Kirche, wenn sie sich auf die heutige Welt einlässt?

Dementsprechend auch die Kirchenleitungsreaktionen auf die als Bedrohung erlebte Zeit:

Dem Pfarrermangel soll durch Reklerikalisierung des Kirchenbetriebes und Pfarrgemeindefusionen begegnet werden, dem GottesdienstbesucherInnen-Schwund durch Gottesdienstkonzentration an Zentralorten und durch ein Zurück zur vorkonziliaren Gottesdienstsprache, dem Glaubenswissensschwund durch neue Katechismen alter Façon, dem Schwund an aufrechten kirchlichen Ehen mit dem Ausschluss Wiederverheirateter von den Sakramenten. Gerade jetzt dürfe sich die Kirche nicht verändern. Sie sei der letzte Wächter für bedrohte Dämme, die letzte Konstante in einer chaotischen Zeit. Das II. Vaticanum? Ein Betriebsunfall. Der kurzzeitige Ausfall der Schockeinfrierung nach der Reformation. Was aber, wenn die bedrohlichen „Zeichen der Zeit“ in Wahrheit Erinnerungen an die Ursprünge sind? An die Überwindung der Gottesvolkklassen durch den Aufbau der Gemeinde aus den Getauften. An den Hervorgang der Dienstämter aus den Gemeinden und deren Gaben und Begabungen dafür. An das eucharistische Mahl als Feier der Gemeinde, die sich in den Dienst an den Menschengeschwistern hinein vor Ort fortsetzt. An das Aufbrechen der Sprache über Gott durch Jesus, sein riskantes Suchen nach neuen Bildern und Blickwinkeln in der Alltagserfahrung der Menschen. An seinen Verzicht auf die Verurteilung der Ehebrecherin zugunsten der Chance auf einen Neuanfang.

Aber das alles macht offensichtlich Angst. Genauso wie das, was als vom Heute aufgedrängte „zeitgeistige Modeströmungen“ empfunden wird: die Gleichstellung der Frau, die Mitbestimmung durch „Laien“, die Vollendung der Ökumene der christlichen Kirchen am gemeinsamen Tisch des Herrn, der Dialog zwischen den Religionen zugunsten des Friedens in der Welt. Tragisch wiederum die Verkennung als „zeitgeistige, weltliche Modeströmungen“, was in Wahrheit zum Kern der Botschaft des Biblisch-Christlichen gehört, aus der Kirche hinausgedrängt wurde und jetzt wieder an die Türen der Kirche klopft.

Dieses Klopfen hören wir in den Gemeinden an der Basis der Kirche am deutlichsten. Die Gemeinden sind so etwas wie der vorgeschobene Posten der Kirche im Alltag der modernen Gesellschaft.

Hier prallen die Erwartungen der Kirche an die Menschen und die Erwartungen der Menschen an die Kirche am unvermitteltsten aufeinander. Hier sammeln sich die Fragen an uns als Kirche am unverblümtesten. Und in den Gemeinden hat die Kirche die Öffnungen und Gehversuche ihres II. Vaticanums im kleinen Maßstab des Alltags weiterentwickelt. Was die Gemeinden bei der derzeitigen Kirchenleitung nicht beliebter macht. Und dementsprechend geht man mit ihnen derzeit auch um, – bis hin zur sakramentalen Aushungerung. Ähnlich wie den Gemeinden an der Basis der Kirche geht es der Kirche in Europa innerhalb der Weltkirche. Sie wird als der Schwachpunkt der Weltkirche gesehen.

Angeblich schon abgeschrieben zugunsten einer Konzentration auf die „blühenden Kirchengebiete“ im Süden der Erde. Dort gibt es die Fragen der Gesellschaften des Nordens nicht. Dort stimmen die zahlenmäßigen Zuwächse. Noch. Bis auch dort die gesellschaftliche Entwicklung spürbarer wird, in der sich die ganze Menschheit befindet. Eine Entwicklung, zu deren hervorstechendsten Merkmalen die Aufwertung des einzelnen Menschen gehört: als Träger von Würde und Rechten, von (Mit-) Verantwortung und Lebenschancen durch Bildung, wie es die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 als Vision und Auftrag formuliert hat. Diese Entwicklung hat bisher auch durch schreckliche Abstürze in Totalitarismen geführt. Sie ist weiterhin bedroht durch eine neue Vermassung, aber auch durch Vereinzelung zwecks leichterer ökonomischer Steuerung und Ausbeutung. Diese Entwicklung ist gehemmt durch eine hartnäckige Lebenschancenlosigkeit des größeren Teils der Weltbevölkerung. Aber sie ist unumkehrbar. Und sie verdankt sich nicht unwesentlich auch dem Impuls der biblischen Vision von der Gottunmittelbarkeit jedes Menschen und der Gleichheit aller vor ihm. Im II. Vatikanischen Konzil hat die Kirche erste Versuche gemacht, sich den Zeichen der Zeit zu öffnen: das Menschenbild der Moderne nicht als Bedrohung für das eigene System zu sehen, sondern als Erinnerung an den eigenen Ursprung. Diese Öffnung steht auf dem Spiel. Ihrer Rücknahme gilt unser „Ungehorsam“. In Wort und Praxis.

Mag. Helmut Schüller, Probstdorf b. Wien

Luzern, 22. April 2012


© imprimatur Oktober 2012
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