Irmgard Rech
Unser Pfarrer ist gegangen, unser Kirchturm bleibt
Eine Gemeinde und ihr mittelalterlicher Glockenturm

Wir haben einen der schönsten Kirchtürme weit und breit. Er ist die Zierde unseres Dorfes und schaut schon mehr als ein halbes Jahrtausend lang auf die Menschen, ihre Häuser und Straßen. Seine Besonderheit ist der Turmhelm, der in seiner Art wirklich einmalig ist. Achteckig verjüngt er sich langsam, wird immer schlanker und schlanker, bis er in einer so feinen Spitze endet, dass wir uns fragen, wie ein Baumeister mit seinen Leuten diese Feinheit bewerkstelligen konnten. Zarter kann ein Scherenschnitt nicht sein! Ein besonders anmutiges Bild ergibt sich, wenn unser Kirchturm schwarz vor einem roten Abendhimmel steht.

Es geht mir wie vielen, ich kann mich nicht satt an ihm sehen. Und wann immer wir ihn von den Hügeln ringsum betrachten, wie er sich mit seinem eleganten Helm keck nach oben reckt und dennoch den Häusern zugehörig bleibt, dann sind wir dankbar, dass wir ihn haben.

Ja, der spitze, schlanke Glockenturm ist die tägliche Freude unserer Augen. Und er ist sogar noch mehr. Ich finde, er kann uns zeigen, wie wir unser Christsein heute leben sollen: neugierig und hellwach die Zeichen der Zeit erkennen. Muss dazu unser Glaube nicht auch spitz sein, um starre Gewohnheiten und lähmende Blockaden zu durchstoßen? Nur so kann der Mut wachsen, Ungewohntes zu wagen.

Wir haben längst keinen eigenen Pfarrer mehr im Dorf. Sollen wir deshalb klagen? Haben wir jetzt nicht die Chance, auf eine neue Weise Kirche zu sein! Oft haben Pastöre sich als die Herren aufgespielt, die bis in die Schlafzimmer hinein bestimmten, wie die Gläubigen zu leben hätten. Bei euch aber soll es nicht so sein (Mt 20, 26), mahnt Jesus. Er wollte Kirche nicht als geführte Herde oder als ein Haus voll Protz und Prunk. Als Getaufte sind jetzt alle in der Gemeinde aufgerufen, in Eigen- und Mitverantwortung die Gemeinde lebendig zu erhalten und die Gesellschaft menschenfreundlicher zu machen.

Dazu sollte unser Glaube zwar spitz sein, aber zugleich auch zartfühlend bleiben. Der Lyriker Johannes Kühn hat an unserm Turm in der Feinheit seiner Spitze auch seine Feinfühligkeit wahrgenommen. Der Hölderlinpreisträger wählt die gegenläufige Perspektive zu unserm Blick von unten, um die besondere Gerecktheit dieses mittelalterlichen Turmes poetisch zu erfassen. Er stellt sich vor, wie eine über ihn hinwegziehende Wolke unsern Glockenturm von oben in seiner Einmaligkeit wahrnimmt:

Der helle Wolkenzug,
wie er den Turm nur streift,
wie er in schnellem Flug
vorüberschweift,
bemerkt des Schauens Stärke,
bemerkt, wie er mit Glanzgeschick
sich übers Land emporstreckt
und in der Häuser Schimmer
sich glockenselig selber benedeit.

Ja, dieser Turm
hat viel erlebt
in andern Zeiten.
Und doch erbebt
er von der Wolken sanftem Gleiten.

Unser Turm ist kein streng erhobener Zeigefinger, auch kein unerschütterlicher Bergfried einer festen Gottesburg. Er bleibt in seiner mäßigen Höhe dem Land und den Häusern verbunden und vibriert zugleich mit den sanften Schwingungen des Wolkenhimmels. Und gerade darin kann uns der Turm ermutigen, der Sanftheit des Himmels mehr zu vertrauen als seinem Groll. Hat nicht der Prophet Elias am Berg Horeb erfahren, dass Gott nicht im heftigen Sturm war, sondern im sanften Säuseln des Windes. So kann es sein, dass wir ihn an den allerschönsten Sommertagen in seinem glänzendem Schieferkleid lächeln sehen und ihm dankend lauschen, wenn er um halb acht den Tag einläutet und um sechs Uhr abends den Feierabend.

Übrigens hat sich in unserer Gemeinde das Klima während der Eucharistiefeier wohltuend verändert, seit die Laien, vor allem Frauen, die Feier mitgestalten. Neulich bekam eine Lektorin und Kommunionspenderin eine selbstgebackene Süßigkeit geschenkt, weil sie beim Geben der Hostie so schön gelächelt habe und ebenso beim
Überreichen der Hostie für den kranken Partner zu Hause ein Lächeln mitgab. Vor etwa zwanzig Jahren hatten wir einen Pastor, der grüßte mit einem freundlichen Lächeln die Gemeinde, bevor er sich zum Altar hinwandte. Damals beschwerte sich eine Frau, in der Kirche zu lachen, das passe nicht.
Heute honorieren es Gläubige dankbar, wenn sie angelächelt werden. Das verändert das Gottesbild. Ich halte das Lächeln im religiösen R

um für ein gutes Mittel gegen den Fundamentalismus der Strenggläubigen. Im Nachbardorf verweigern Lefebvre Anhänger den geschwisterlichen Händedruck beim Friedensgruß. Kein Lächeln macht sie milde. Sie bleiben hart.

Unser Kirchturm hat in seiner zarten Schönheit alle harten Zeiten überlebt. Machtstrukturen brechen zusammen, das zart Verletzliche überdauert.

Gedicht "Der Glockenturm von Thalexweiler" aus: Johannes Kühn, Meine Wanderkreise, Verlag Die Mitte, S. 79


© imprimatur Oktober 2012
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel!
Bitte füllen Sie die folgenden Felder aus, drücken Sie auf den Knopf "Abschicken" und schon hat uns Ihre Post erreicht.

Zuerst Ihre Adresse (wir nehmen keine anonyme Post an!!):
Name:

Straße:

PLZ/Ort:

E-Mail-Adresse:

So und jetzt können Sie endlich Ihre Meinung loswerden: