Am 17. August 2012 kam es im Warschauer Königsschloss zu einem denkwürdigen Akt. Im Namen ihrer Kirchen unterzeichneten der Moskauer Patriarch Kyrill I. und Erzbischof Józef Michalik als Vorsitzender der Polnischen Bischofskonferenz die „Gemeinsame Botschaft an die Völker Polens und Russlands“[1]. Das Dokument ist das erste seiner Art in der an Belastungen reichen polnisch-russischen Geschichte. Es handelt sich um einen relativ kurzen Text von kaum mehr als vier Seiten. Man merkt dem flüssig und leicht lesbar geschriebenen Text die Mühe nicht an, die er der paritätisch besetzten Arbeitsgruppe offenbar bereitet hat, um sich in gut zweijähriger Arbeit auf beiderseits akzeptable Formulierungen zu verständigen. Die „Botschaft soll – wie es einleitend heißt – als „ein Wort der Versöhnung an die Gläubigen unserer Kirchen, an unsere Nationen und an alle Menschen guten Willens“ verstanden werden.
Der erste mit „Dialog und Versöhnung“ überschriebene Abschnitt dieses dreiteiligen Textes erinnert an das gemeinsame christliche Erbe. Auf seiner Grundlage erhofft man sich einen Dialog, der dazu beiträgt, „die Wunden der Vergangenheit zu heilen, gegenseitige Vorurteile und Missverständnisse zu überwinden sowie das Verlangen nach Versöhnung zu stärken.“ Der intendierte Dialog soll weiter dazu dienen, „gegenseitiges Vertrauen aufzubauen“, um „auf diese Weise zur Versöhnung zu führen.“ Diese selbst setze als ersten Schritt „Vergebung des erlittenen Unrechts“ voraus, bedeute aber keineswegs ein Vergessen, denn den Opfern der Untaten schulde man ihr Gedenken, und das Gedächtnis an sie sei „ein wesentlicher Teil unserer Identität.“ Gefordert aber wird eine Absage an „Rache und Hass“ sowie der „Aufbau einer Bruderschaft zwischen den Menschen, zwischen unseren Völkern und Ländern als Grundlage einer friedlichen Zukunft.“
Der Blick auf die Zukunft bildet das Scharnier zum zweiten Teil „Vergangenheit aus der Perspektive der Zukunft“. Erinnert wird an die „tragischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts“, die beide Völker und Kirchen während des Zweiten Weltkriegs sowie unter dem „Totalitarismus“ und der „Ideologie des Atheismus“ gemacht haben. Dass diese geschichtliche Phase insbesondere für Polen eine Zeit sowjetischer Unterdrückung war, kommt nicht eigens zur Sprache. Katyn bleibt unerwähnt. An diesem Punkt gingen die Meinungen weit auseinander, wie Erzbischof Henryk Muszynski, der Ko-Vorsitzende der gemeinsamen Arbeitsgruppe, wissen lässt: „Im historischen Teil standen wir vor dem unüberbrückbaren Hindernis, die gegenseitig erfahrenen Untaten beim Namen zu nennen.“[2] Daher begnügte man sich mit allgemeinen Aussagen und verwies das Problem der Ermittlung der historischen Wahrheit an die Experten. Immerhin aber heißt es im Text, „dass eine dauerhafte Versöhnung als Fundament einer friedlichen Zukunft nur auf der Basis vollständiger Wahrheit über unsere gemeinsame Vergangenheit möglich ist.“
Der dritte, umfangreichste Teil ist den „neuen Herausforderungen“ gewidmet, denen beide Kirchen sich heute gegenüber sehen und denen sie sich gemeinsam stellen möchten. Grundsätzlich geht es um die Möglichkeit zur Gestaltung der jeweiligen Gesellschaften „auf der Basis traditioneller christlicher Werte“. Der Text ist von einer deutlich negativen Weltsicht bestimmt. Er betont die Gefahren eines „religiösen Indifferentismus“ und einer „fortschreitenden Säkularisierung“. Zwar wird die Autonomie von Staat und Kirche betont und der Wunsch nach Zusammenarbeit in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen zum Ausdruck gebracht, doch im Vordergrund stehen die Negativphänomene eines „Laizismus“ sowie eines „Fortschrittsverständnisses, die „moralische Grundprinzipien des Dekalogs in Frage stellen.“ Genannt werden im einzelnen: Abtreibung, Euthanasie, gleichgeschlechtliche Ehen, ein materialistischer Lebensstil, die Verwerfung traditioneller Werte und die Verbannung religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum. Diese Sicht der Dinge ist zumindest einseitig. Sie lässt die positiven Aspekte einer pluralistisch-demokratischen Gesellschaftsordnung außer Acht und widerspricht damit dem im Zweiten Vatikanischen Konzil entwickelten dialogisch-diakonischen Weltverhältnis der Kirche.
Der Bezug zum Briefwechsel polnischer und deutscher Bischöfe von 1965
Die Hauptintention der „Botschaft“ ist der Wunsch nach Versöhnung. Insofern steht sie in einem Zusammenhang mit der Versöhnungsinitiative polnischer und deutscher Bischöfe am Ende des Zweiten Vatikanums. Diese besitzt nicht nur für das deutsch-polnische Verhältnis ihre Bedeutung, sondern sie gilt seitdem als ein nachahmenswertes Vorbild wo immer die Beziehungen zwischen Völkern unter der drückenden Last der Vergangenheit leiden. Dass der Briefwechsel auch bei den Beratungen der gemeinsamen Arbeitsgruppe eine Rolle gespielt hat, geht aus einer Äußerung von Erzbischof Muszynski hervor. Nach ihm bildete das Bemühen um eine Versöhnungsformel ein „lebhaft diskutiertes Problem“, wobei man von Anfang an auf die bekannte Formel 'wir vergeben und bitten um Vergebung' aus dem Brief der polnischen an die deutschen Bischöfe verzichtet“ habe. Und dies aus der Einsicht, „dass man nicht vergeben kann, ohne beim Namen zu nennen, was wir vergeben [...].“ So blieb es im Text bei einem „Appell“ an die Gläubigen, „um Vergebung für die Untaten und alles Böse zu bitten“, und dies im Sinne einer „ersten Bedingung der Versöhnung“, zu der die Vaterunserbitte „vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“ verpflichte.
Die angestrebte Versöhnung ist der einzige, wenngleich wesentliche Bezug zum Briefwechsel der Bischöfe. Ein Vergleich beider Initiativen bringt eher die Unterschiede zum Vorschein: statt eines Briefwechsels ein gemeinsam verfasstes Dokument, das die „heißen Eisen“ ausklammert. Auch der geschichtliche Kontext ist ein völlig anderer: Im Jahr 1965 gehörten beide Kirchen unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Systemen an, wodurch der im Briefwechsel angestrebte zwischenkirchliche Dialog bis Anfang der 1970er Jahre seitens der kommunistischen Regierung Polens praktisch unmöglich gemacht wurde. Zwar ist Putins Russland alles andere als eine „lupenreine Demokratie“, aber von einer politischen Behinderung des mit der „Botschaft“ eingeleiteten Versöhnungsprozesses kann keine Rede sein, geschweige denn von einem Kirchenkampf, wie ihn Polens Kirche damals wegen ihres Versöhnungsbriefes zu bestehen hatte. Vielmehr dürfte die „Gemeinsame Botschaft“ im Interesse beider Regierungen liegen.
Die Frage nach der Umsetzung der „Botschaft“
Die Unterzeichnung des polnisch-russischen Dokuments ist noch kein Akt der Versöhnung, sondern die Aufforderung, den Weg zur Versöhnung zu beschreiten. Damit ergibt sich die Frage der Umsetzung dieser „Botschaft“. Welche Wirkungen können von ihr ausgehen? Wie wird sie von der kirchlichen Basis beider Völker aufgenommen? Welche Unterschiede in der Rezeption sind in Polen und Russland zu erwarten? Gibt es parallele säkulare Initiativen einer polnisch-russischen Verständigung, welche die Chancen eines Versöhnungsprozesses erhöhen?
Beginnen wir mit der Antwort auf die letzte Frage. Eine solche Initiative gibt es in der Tat seit vier Jahren. In aller Stille arbeitet eine polnisch-russische Gruppe von Historikern an der Aufarbeitung der die Beziehung beider Völker belastenden „schwierigen Probleme“. Sie erfüllt damit ein Desiderat der „Botschaft“, die ja die „heißen Eisen“ der Vergangenheit nicht selbst aufgreift, sondern den Historikern und Experten zuweist. Inzwischen liegt von dieser Arbeitsgruppe bereits eine breite Dokumentation „Weiße Flecken – schwarze Flecken“ vor. Auch geht auf ihre Initiative die Gründung eines „Polnisch-Russischen Zentrums für Dialog und Verständigung“ zurück, das im Übrigen als Gastgeber für die Unterzeichnung des Dokuments im Warschauer Königsschloss[3] fungierte.
Dass es Polens Kirche mit der Umsetzung der „Botschaft“ ernst ist, zeigt der Beschluss, das Dokument am Sonntag, dem 9. September, in allen Kirchen zu verlesen. Angesichts der in Polen immer noch vollen Kirchen und zahlreichen Sonntagsgottesdienste erreicht damit der „Appell“ zur Versöhnung die Massen der Gläubigen und dürfte, so ist zu hoffen, angesichts eines unter ihnen verbreiteten antirussischen Ressentiments einen Einstellungswandel bewirken. Dass ein solcher Gesinnungswandel nötig ist, hat bereits die Ankündigung des Dokuments gezeigt. Sogleich meldeten sich national-katholische Publizisten und Politiker zu Wort, die trotz der abgeschlossenen Untersuchungsergebnisse immer noch einer abstrusen Verschwörungstheorie anhängen und die Meinung vertreten, beim Absturz der Präsidentenmaschine am 10. April 2010 bei Smolensk habe es sich nicht um einen Unfall, sondern um ein russisches Attentat gehandelt. Das Dokument diene daher nur dem Kreml und verrate polnische Interessen. Wie ernst die Kirche diese Ablehnung der „Botschaft“ aus den eigenen Reihen nimmt, zeigt die Tatsache, dass sich Erzbischof Michalik genötigt sah, in einem Interview mit der kirchlichen Nachrichtenagentur gegen diese abwegige Interpretation der tragischen Katastrophe Stellung zu beziehen. Dass diese Stellungnahme nicht unbedingt auf fruchtbaren Boden fiel, erwies sich am Tage der Unterzeichnung der „Botschaft“, als eine Gruppe von Katholiken des äußersten rechten Lagers vor dem Warschauer Königsschloss gegen die „falsche Versöhnung“ demonstrierten und die „orthodoxen Schismatiker“ mit Spruchbändern dazu aufriefen, „in den Schoß der römisch-katholischen Kirche zurück zu kehren.“
Derlei Proteste sind in Russland kaum zu erwarten. Dafür dürfte aber auch die Resonanz auf die „Botschaft“ um vieles geringer ausfallen. Trotz einer gewissen Renaissance der orthodoxen Kirche nach dem Ende des Sowjetregimes ist die Gesellschaft weiterhin stark atheistisch geprägt, und die Zahl praktizierender Gläubiger liegt schätzungsweise maximal bei 7%. Im Übrigen mangelt es in Russland immer noch an einer Aufarbeitung der durch die Nähe hoher Kirchenvertreter zum KGB belasteten kirchlichen Vergangenheit und damit auch an einer inneren Versöhnung. Wie dringlich diese ist, hat das harte Urteil gegen die drei Frauen der Gruppe „Pussy Riot“ gezeigt, die vor der Ikonostase der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale wegen ihres provozierenden Songs „Muttergottes, vertreibe Putin“ zu zwei Jahren Lagerhaft verurteilt wurden. Das Urteil erging ausgerechnet am 17. August, also an dem Tag, an dem in Warschau der Moskauer Patriarch unter das polnisich-russische Versöhnungsdokument seine Unterschrift setzte. Dieses zeitliche Zusammentreffen beider Ereignisse wirft einen dunklen Schatten auf die innere Versöhnungsbereitschaft des Moskauer Patriarchats, das mit seiner Forderung nach Bestrafung der drei Frauen für das unverhältnismäßig hohe Strafmaß mit verantwortlich ist. Nun bleibt abzuwarten, ob das Patriarchat seinen Einfluss nachträglich geltend macht, um eine Begnadigung der verurteilten Frauen oder doch eine Minderung des Strafmaßes zu erreichen. Das wäre jedenfalls ein Zeichen für eine innerrussische Versöhnung.
Ein Signal für die Verbesserung der Beziehungen zwischen dem Moskauer Patriarchat und dem Vatikan
Die „Botschaft“ beschränkt sich zwar ganz auf die polnisch-russischen Beziehungen, doch kann sie als ein Signal für eine ökumenische Verbesserung auch des Verhältnisses zwischen dem Moskauer Patriarchat und dem Vatikan gewertet werden. Dieses ist nicht zuletzt durch die Errichtung von katholischen Bistümern auf dem Gebiet der kirchlichen Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats unter dem Pontifikat von Johannes Paul II. stark belastet. Möglicherweise zeichnet sich nun das Ende einer Jahrzehnte währenden zwischenkirchlichen Eiszeit ab, um das sich Benedikt XVI. seit seinem Amtsantritt bemüht und der denn auch die Unterzeichnung der polnisch-russischen Versöhnungsbotschaft ausdrücklich begrüßt hat. Hinzu kommt, dass man Patriarch Kyrill I. eine positive Einstellung zum Katholizismus nachsagt. So äußerte er sich unlängst in einem Gespräch mit dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti wie folgt: „In den Beziehungen der Orthodoxie zum Katholizismus beobachten wir einen großen Fortschritt. In vielen, insbesondere pastoralen Fragen sind wir einer Meinung. Die alten historischen Probleme bleiben, aber wir blicken vor allem auf die aktuellen Probleme, die für die heutigen Christen die wichtigsten sind – für die Katholiken ebenso wie für die Orthodoxie.“[4] Möglich, dass es in nicht allzu ferner Zukunft zu einem Russlandbesuch von Benedikt XVI. kommt, den sich Johannes Paul II. so sehnlich gewünscht hatte und der ihm doch versagt geblieben ist.
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