Neue Bücher, neue Texte
Crime Time in Imprimatur: Allein unter Fundamentalisten
Schafft sich die katholische Kirche ab?
Das römisch-katholische Kirchenrecht


Lutz Lemhöfer
Crime Time in Imprimatur: Allein unter Fundamentalisten
Zu Matt Beynon Rees‘ Krimi „Der Tote von Nablus“

Der Autor dieses Romans, der britische Journalist und langjährige Nahost-Korrespondent Matt Beynon Rees, hat das Verdienst, den ersten palästinensischen Ermittler der Krimi-Geschichte eingeführt zu haben: den Lehrer und freiwillig-unfreiwilligen Detektiv Omar Jussuf. Kriminalistisch aktiv wird er nur, wenn irgendwie sein privates Umfeld von einem Verbrechen tangiert ist. Ansonsten unterrichtet er Geschichte in einer von der UNESCO finanzierten Schule im Flüchtlingslager Dehaissa bei Bethlehem. In den klassischen israelischen Krimis etwa von Batya Gur oder Shulamit Lapid taucht der Schauplatz Westjordanland höchstens am Rande mal auf. In den bisher 3 Romanen von Rees steht er nicht nur geographisch im Mittelpunkt: Die Zwänge und Nöte der palästinensischen Gesellschaft, eines merkwürdig semi-staatlichen Gebildes zwar mit eigener Polizei, aber zugleich mit rivalisierenden bewaffneten politischen Bewegungen und immer bedroht von der militärischen Präsenz der Besatzungsmacht Israel, prägen auch die banale Kriminalität und vor allem die Chancen, sie aufzuklären. Es ist kein Zufall, dass nur in zweiter Linie die eigentlich zuständigen Behörden hier Kriminalfälle lösen. In erster Linie sorgt der Außenseiter jenseits der offiziellen und inoffiziellen politischen Konfliktlinien für unabhängige Aufklärung, eben Omar Jussuf. Der ist nun kein strahlender Held, sondern, wie so manche Privatdetektive der Krimi-Geschichte, eine eher angeknackste Persönlichkeit: irgendwo zwischen 55 und 60 Jahre alt, nach politischen wie persönlichen Sturm- und Drangzeiten recht braver Ehemann und Familienvater, zärtlicher Großvater vor allem seiner Lieblingsenkelin, der 13jährigen Nadia; als trockener Alkoholiker und mäßig frommer Moslem sympathisch, aber kein Held zum Vorzeigen. Wohl aber ganz und gar unbeirrbar und unkorrumpierbar in der Suche nach der Gerechtigkeit.

In diesem Roman, dem dritten mit dieser Hauptfigur, ist Omar Jussuf mitsamt seiner Familie (Ehefrau, Söhne, Enkelin) von Bethlehem nach Nablus gekommen. Sie sollen Hochzeitsgäste sein bei der Hochzeit von Sami Dschaffari, einem befreundeten jüngeren Polizisten aus Bethlehem, der seine aus Nablus stammende Braut Meisun heiraten will. Aber Sami, mittlerweile Polizist in Nablus, hat noch einen Fall aufzuklären: den Diebstahl einer kostbaren alten Schriftrolle aus dem Besitz der samaritanischen Gemeinde in Nablus. Denn hier leben noch 600 Samaritaner rund um ihr Heiligtum, den Berg Garizim; dort hat der Überlieferung nach Abraham fast seinen Sohn Isaak geopfert. Die Samaritaner, im Neuen Testament schon als Außenseiter beschrieben, gibt es dort noch als eigene religiöse Gruppe. Omar Jussuf beschreibt sie Sami so: Die Samaritaner? Die sind schon länger hier als wir, Sami. Sie sagen, dass sie von den Israeliten der Bibel abstammen, die hier in dieser Gegend geblieben sind, als ihre Brüder nach Babylon vertrieben wurden. In gewisser Hinsicht sind sie zugleich Palästinenser und Juden und sind keins von beiden. (S.11) Eine Minderheit mit ausgeprägtem Selbstbewusstsein, wie der Priester der Gemeinde, Jibril Ben-Tabia, deutlich macht: „Das jüdische Gesetz ist dem unseren sehr ähnlich, meine Herren“, sagte der alte Mann, „aber ihre Heiligen Schriften enthalten siebentausend Fehler. Die Bücher der Samaritaner sind makellos.“(S.15)

Als Sami und Omar Jussuf, den er wegen seines historischen Interesses an der Schriftrolle mitgenommen hat, den Priester in der Synagoge treffen, hat sich das Problem allerdings scheinbar verflüchtigt: Die Schriftrolle sei ebenso unerwartet wieder aufgetaucht wie sie vorher verschwunden war, anonym bei der Synagoge abgelegt. Wenig später wird freilich ein noch größeres Verbrechen entdeckt. Oben auf dem Berg Garizim, also an der legendären Opferstätte des biblischen Isaak, wird die übel zugerichtete Leiche eines jungen Mannes gefunden, der ausgerechnet auch noch Ishak heißt: der erwachsene Sohn oder genauer: Adoptivsohn des Priesters. Dieser Leichenfund verheißt nicht nur kriminelle, sondern auch politische Verwicklungen. Denn Ishak, ein kluger Finanzfachmann, war in finanziellen Dingen die rechte Hand des bis heute berühmtesten Palästinenserführers Yassir Arafat gewesen – im Buch wird er nur ,der Alte‘ genannt. Der ist vor gar nicht so langer Zeit in Paris gestorben; Ishak war dabei. Und er, wenn überhaupt jemand, kannte die verwickelten Geschäfte und Finanztransaktionen des Alten. Deshalb wollte ihn auch eine Vertreterin der Weltbank in Nablus treffen, die Amerikanerin Jamie King. Sie hat den Auftrag, den Verbleib von 300 Millionen Dollar verschwundener internationaler Hilfsgelder aufzuklären und dafür zu sorgen, dass dieses Geld die offiziellen Hilfsempfänger erreicht. Findet sie das Geld nicht, droht die Weltbank mit Sperrung aller weiteren Zuwendungen, was eine mittlere Katastrophe für Palästina bedeuten würde. Noch kurz vor seinem Tod hatte Ishak der Amerikanerin versprochen, ihr die Unterlagen dazu auszuhändigen; als sie ihn treffen will, ist er tot, und die Unterlagen bleiben verschwunden. Die Konfliktlage ist kompliziert: Zum einen gehörte der Tote einer religiösen Außenseiter-Gruppe an. Zum anderen war er politisch ein Teil des Establishments in der Fatah-Bewegung, mithin Gegner der mit ihr blutig rivalisierenden Hamas. Und er hatte Einblick in diverse undurchsichtige Finanzgeschäfte, was ebenfalls ein Motiv sein könnte, ihm den Mund zu verschließen. Jedenfalls scheint es mächtige Interessen zu geben, die eine Aufklärung verhindern wollen. Scheich Bader, der bei der Hochzeit Samis als geistliche Autorität fungiert und zugleich Agitator der Hamas ist, warnt Sami, den Fall weiter zu verfolgen; wenig später überfällt ein maskierter Bewaffneter Sami und bricht ihm den Arm: ein letztes Signal, sich aus dem Fall zurückzuziehen – von wem auch immer das Signal kommen mag.

Allerdings: wenn die Aufklärung unterbleibt, drohen auch die Weltbank-Gelder dauerhaft verloren zu gehen, ein unersetzbarer Verlust. Unter anderem deshalb macht sich Omar Jussuf auf die Spur des Verbrechens, begleitet kaum noch von Sami, der Angst hat und seine bevorstehende Hochzeit nicht gefährden will, sondern vom ebenfalls zur Hochzeit geladenen Polizeichef von Bethlehem, Chamis Sejdan. Der ist ein alter Kampfgefährte Omar Jussufs aus früheren revolutionären Jugendjahren. Auch er ist ein gebrochener Held, ehemals gewalttätiger Revolutionär und Attentäter, jetzt verstümmelt mit einer Prothese statt der rechten Hand, Säufer und Diabetiker. Er charakterisiert sich selbst so: Ich habe so viele schmutzige Sachen gemacht, dass ich dafür eigentlich lebenslänglich kriegen müsste. Aber stattdessen bin ich für Recht und Ordnung zuständig. Willkommen in Palästina. (S.179) Die Vergangenheit spielt immer mit in dieser Gegenwart. Bald stellt sich heraus, dass die wundersame Rückkehr der kostbaren Schriftrolle ein Tauschgeschäft war: Der ermordete Ishak hat sie für die Samaritaner zurückbekommen; im Gegenzug musste er den Dieben – von der Hamas, wie sich herausstellt -, ein höchst geheimes Dossier überlassen, in dem belastende und unappetitliche Details über nahezu die gesamte Führungsriege der Fatah gesammelt waren – als internes Droh- und Erpressungspotential. Gesammelt hatte es der selbst zur Fatah gehörende Geschäftsmann Amin Kanaan, der mit Ishak eng zusammengearbeitet hat, wobei lange unklar bleibt, ob er dies nur als väterlicher Freund oder als Liebhaber getan hat. Denn der kinderlos verheiratete Ishak war schwul - auch dies ein Detail, das niemand öffentlich wissen sollte, weder in den macho-muslimischen Bewegungen Fatah und Hamas noch in der prüde-konservativen samaritanischen Gemeinde. Auch hier tut sich ein neues Feld von möglichen Motiven für den Mord auf. Denn Moral ist in Palästina keine Privatsache; sie ist auch eine Waffe im politischen Kampf. Das beweist eine Brandrede von Scheich Bader (Hamas) gegen die im Westjordanland regierende Fatah, in der er das bis heute immer wieder aufflammende Gerücht schürt, Yassir Arafat sei in Paris an Aids gestorben: „O Moslems, wie weit sind unsere Führer vom rechten Weg der Kalifen abgewichen, die die Gefährten des Propheten waren? Allah schenke ihm Frieden und nichts als Frieden! Heute liefere ich euch neue Beweise, dass die Männer einer bestimmten politischen Partei Teufel und Affen sind, die ihr Leben damit zubringen, gegen sämtliche Gesetze des Propheten zu verstoßen (…) Der Mann, der diese gewisse Partei führte, der den Anspruch erhob, das palästinensische Volk über Jahrzehnte zu führen, der Mann, der die Gründer der Hamas ins Gefängnis werfen ließ – dieser Mann ist an einer schändlichen Krankheit gestorben. (…) Die Hamas hat den Obduktionsbericht erhalten, und wir haben erfahren, dass er in der Tat an der schändlichen Krankheit gestorben ist, deren Namen ihr all kennt und die das Ergebnis von Unmoral und verbotenem Tun ist. (…) Wenn wir jetzt für unsere Gemeinde beten, für die Moslems und für Palästina, dann denkt an diese Männer, deren einziges Credo ihre Unmoral ist. Denkt an die Macht, die sie über unser ehrenhaftes Palästinensisches Volk ausüben, und lasst uns ihnen gemeinsam diese Macht entreißen. Allah ist groß!“ (S.134 f) Wie diese politisch-moralische Gemengelage schließlich aufgelöst wird, wird hier natürlich nicht verraten; dafür sollte man das Buch lesen. Aber nur so viel: Der Täter wird gefunden; ob die Gerechtigkeit wiederhergestellt wird, bleibt offen bei dem Ausgang, der so zwiespältig ist wie die Helden dieser Geschichte.

Warum ist dieses Buch bemerkenswert? Für mich zunächst einmal deshalb, weil es Einsichten in eine für uns oft rätselhafte und doch politisch so wichtige Region vermittelt. Das Buch gibt eine Ahnung, dass hier Unterdrücker und Unterdrückte, Täter und Opfer nicht säuberlich zu scheiden sind. Es lässt einen spüren, wie langjährige Gewalt eine Gesellschaft nicht nur äußerlich bedroht, sondern innerlich zerfrisst. Das Fehlen eines staatlichen Gewaltmonopols führt eben nicht zur wohltätigen Anarchie der Herrschaftsfreiheit, sondern zur Anomie der Gesetzlosigkeit und Schutzlosigkeit. – Im Gegenzug erscheint der Begriff einer Gesetzesreligion, wie sie Juden und Samaritaner (und eigentlich auch der Islam) kennen, nicht als Beschimpfung, sondern als Verheißung. Wie hatte doch der samaritanische Priester stolz erklärt? Das jüdische Gesetz ist dem unseren sehr ähnlich, aber ihre Heiligen Schriften enthalten siebentausend Fehler. Die Bücher der Samaritaner sind makellos. Ja, das richtig verstandene Gesetz dient nicht dazu, Leute einzuengen und einzuschnüren, sondern lebenswerte Verhältnisse zu gewährleisten. „Gerechtigkeit und Frieden küssen sich“, so ist diese Vision im 85. Psalm formuliert. Und das bleibt als Hoffnung, auch wenn der Ermittler Omar Jussuf leider noch diesseits dieser Vision beschäftigt ist. Seine Rolle ist undankbar und doch wichtig, wie er in einer Art Schlussgespräch mit Sami, dem Polizisten, erklärt. Der fragt ihn: „Ist es denn wirklich die Aufgabe eines Detektivs, Abu Ramis, dafür zu sorgen, dass alle Welt erfährt, wie schlecht es um die Welt steht?“ Omar Jussuf hob den Finger, wie er es beim Unterricht in der Klasse zu tun pflegte: „Detektive sind wie das Tuch, mit dem man angelaufenes Silberbesteck poliert. Das Besteck glänzt dann, wird stolz präsentiert und bewundert. Das Tuch wird in einen Schrank geworfen, verdreckt und unsichtbar, aber mit den Schmutzspuren behaftet, von denen jedermann meint, dass sie für immer entfernt seien.“ (S. 322 f).

Matt Beynon Rees: Der Tote von Nablus. Ein Fall für Omar Jussuf. Heyne-TB 2011. 8,99 €

Zurück zur Auswahl
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Paul M. Müller
Thomas von Mitschke-Collande: Schafft sich die katholische Kirche ab? Analysen und Fakten eines Unternehmensberaters
Kösel-Verlag, München 2012, ISBN 978-3-466-37o54-2

Auf dem Hintergrund seiner Tätigkeit als Direktor und Berater bei McKinsey und als überzeugter Katholik beleuchtet Thomas von Mitschke-Collande plausibel und schonungslos die überwiegend hausgemachten Krisenphänomene der Kirche. Die katholische Kirche steht fraglos an einem ihrer größten Wendepunkte. Das Ende der Volkskirche ist, wie die Fakten belegen, unumstritten. Kerninhalte des Glaubens sind weithin unbekannt, Kenntnisse über Strukturen und Aufgaben der Kirche nur noch rudimentär vorhanden und die Sprache kirchlicher Verkündigung und Verlautbarungen ist vielen zur Fremdsprache geworden.

Über ein Drittel der Bevölkerung in Deutschland gehört heute keiner christlichen Konfession mehr an, die Tendenz der Kirchenaustritte ist steigend. Auch die Zahl der „Kasualien“ (Amtshandlungen zu bestimmten Anlässen) wie Taufen, Trauungen oder Beerdigungen sinkt kontinuierlich. Die Priesterweihen sind im Vergleich zu den Weihen vor 20 Jahren um 73% und die der Gottesdienstbesucher um 51% zurückgegangen. Zudem ist das Grundvertrauen in die Kirche auch bei Katholiken in ein Grundmisstrauen umgeschlagen. Das sogenannte Kirchenvolk verweigert der Amtskirche immer mehr die Gefolgschaft. Die Amtskirche aber reagiert darauf weithin hilflos und kontraproduktiv. Es fehlt an einer tragfähigen, von Rom und vor allem von den Ortskirchen erarbeiteten und getragenen Vision für eine zukünftige Kirche.
Diese Identitätskrise der katholischen Kirche, so der Autor, manifestiert sich auf sechs Ebenen als Glaubens-, Vertrauens-, Autoritäts-, Führungs-, Struktur,- und Vermittlungskrise. Ein Unternehmen in einer vergleichbaren Situation würde eine umfassende und ausgangsoffene Positionsbestimmung durchführen. Diese Positionsbestimmung bietet der Verfasser, indem er die kirchlichen Krisen detailliert darstellt und analysiert. Dabei kann er in aller Deutlichkeit zeigen, dass der erforderliche kirchliche Erneuerungsprozess bei einem radikal veränderten Selbstverständnis der Kirche ansetzen und mit professioneller Kommunikation zu einer offenen Diskussions- und Streitkultur führen muss. Er hebt ausdrücklich hervor, dass dieser Prozess Mut zur Innovation, zum Abwerfen von unnötigem Ballast und auch zur Akzeptanz von loyalem Ungehorsam einfordert.

Im ersten Kapitel, „Das Ende der Volkskirche“ (11-22) betont von Mitschke-Collande, er wolle sich seinen Lesern mit einer „gründlichen, nichts beschönigenden Bestandsaufnahme, mit Zahlen und Fakten, Ergebnissen von Meinungsumfragen und Analysen, ergänzt um eigene Erfahrungen und Einschätzungen,“ nähern. Die Ergebnisse seiner Bestandsaufnahme können denn auch insgesamt zeigen, wenn auch mit unterschiedlicher Relevanz, dass in der Gesamtschau aller Einzelbefunde ein in sich konsistentes, wenn auch bedauerliches Bild, das Kardinal Kasper einmal so zeichnete: „Die Kirche brennt lichterloh, während wir die Inneneinrichtung diskutieren“. Aber gerade weil die Lage der Kirche sich in dieser Weise darstellt, kann nur eine schonungslose und umfassende Analyse eine sichere Basis für erfolgreiche Löscharbeiten sein; in der Sprache des Evangeliums ausgedrückt: „Nur die Wahrheit macht frei“. (vgl. Joh 8,32).

Der Verfasser sucht mit einem konkreten Beispiel auf anschauliche Weise das Interesse seiner Leser an seinem gesamten Werk, einschließlich der notwendigen Zahlen und Graphiken, zu wecken: „Lieber breche ich ein Gesetz der Kirche, als das Herz eines Menschen.“ Das war die seelsorgliche Handlungsmaxime meines inzwischen verstorbenen Gemeindepfarrers. Dieser stammte aus einer traditionell katholischen Familie in Schwaben und war ein glühender Anhänger von Papst Johannes XXIII. Das Zweite Vatikanische Konzil hatte ihn geprägt… Sicherlich war er kein großer Prediger, kein Intellektueller, kein Reformer, schon gar nicht ein Revoluzzer, nein er war ein ganz normaler Ortspfarrer, der seine Hauptaufgabe in der Seelsorge der ihm anvertrauten Menschen sah. Mit der Zeit aber litt dieser Mann zunehmend mit der Kirche und unter der Amtskirche. Immer weniger waren die rigiden und widersprüchlichen kirchlichen Dekrete und Anweisungen sein Maßstab. Um so mehr dafür der Kern der Botschaft des Evangeliums: Die Liebe und die Barmherzigkeit Gottes. Er sah im Christentum, um mit dem Münchner Theologen Eugen Biser zu sprechen, die ‚Liebeserklärung Gottes an die Menschheit.’ Deshalb hatte er es schwer, dieser Dorfpfarrer. Häufig wurde er mit Denunziationen konfrontiert, sogar mit heimlichen Tonbandaufnahmen seiner Predigten, die an Bischof und Nuntius gingen und für die er sich zu rechtfertigen hatte. Es verbitterte ihn, dass seine Vorgesetzten diese Eingaben nicht an die Absender mit dem Hinweis zurückschickten, sich direkt an ihn zu wenden, sondern statt dessen diese akribisch verfolgten.“ (11.-12)

Der Hauptteil des Buches besteht in einer fundierten Untersuchung, Beschreibung und Analyse der Kirchenkrise, wie schon erwähnt, unter sechs Aspekten: Glaubenskrise, Vertrauenskrise, Autoritätskrise, Führungskrise, Strukturkrise und Vermittlungskrise. (23-107). Er zeichnet das Ergebnis dieser fundierten Untersuchung in einer aufschlussreichen Graphik, einer Abwärtsspirale, die anschaulich zeigt, dass die grassierende Identitätskrise der Kirche immer weiter nach unten führt; das Ende der Volkskirche steht bevor. Am Schluss dieses breit angelegten Kapitels über die umfassende Krise der Kirche stellt der Autor die Frage nach der Zukunft der Kirche. Er weiß, dass seine Untersuchungen in der Summe ein „konsistentes Bild“ der Kirche ergeben, dass viele erschrecken kann: „Wir blicken auf das Finale eines Erosionsprozesses der letzten hundert Jahre, die Folgen eines gesellschaftlichen Individualisierungs- und Säkularisierungsprozesses, der dazu geführt hat, dass die Vermittlung von Glaube und Religion von der Bevölkerung als kaum relevant empfunden wird und dass bereits mehr als ein Drittel der Deutschen keiner christlichen Konfession mehr angehört. Elementarwissen über christliche Zusammenhänge und Ereignisse ist nur noch rudimentär vorhanden. Das eigentliche Skandalon ist nicht die steigende Zahl der Austritte, sondern die dramatisch zurückgehende Partizipation am kirchlichen Geschehen wie der Bindungs- und Vertrauensverlust, dem sich vor allem die katholische Kirche ausgesetzt sieht. Ursächlich für diese Entwicklung ist nicht der Mangel an finanziellen Mitteln oder an Priestern, auch nicht das Fehlverhalten einzelner Geistlicher, sondern vor allem unser aller Unvermögen, unseren Glauben authentisch zu leben und an die nächste Generation weiterzugeben.“ (107) Allerdings ist zu fragen, ob dieser Mangel an „authentischem Glauben“ nicht selbst ein Teil des gesamten „Erosionsprozesses“ darstellt.

Von Mitschke-Collande fordert allerdings zurecht, eine offene, dialogbereite und missionarischen Kirche, die in einem säkularisierten Umfeld mit anderen sinnstiftenden Organisationen im Wettbewerb steht. Die Alternative wäre der Rückzug aus der gesellschaftlichen Realität in die Wagenburg, entsprechend der von Benedikt XVI. eingeforderten Entweltlichung der Kirche, die der Autor aus seiner Sicht für schlichtweg falsch erklärt. Er hält dagegen mit einem eigenen Kapitel: „Weniger Realitätsverweigerung und Selbsttäuschung, mehr Krisenbewusstsein und Veränderungsbereitschaft sind angezeigt“. Bei seinem Plädoyer für eine weltoffene Kirche ist er sich allerdings auch bewusst, dass eine radikale Selbstsäkularisierung nicht der einzige Weg für die Veränderung der Kirche sein kann: „Entscheidend ist, dass die Kirche ihre drei Grundvollzüge Liturgie, Verkündigung und Diakonie glaubhaft lebt und dass es zwischen ihnen eine Balance gibt, keine also zulasten der anderen hervorgehoben wird, wie es zurzeit mit einer Überbetonung der Liturgie und der Eucharistiefeier in einigen Bistümern zu beobachten ist… Deshalb brauchen wie keine Kultpriester, sondern Geistliche, die voll im Glauben und in unserer Gegenwartsgesellschaft stehn… Sie (die Kirche) ist als Glaubensgemeinschaft mit den Menschen unterwegs im Horizont der Gottesherrschaft.“ (120)

„Eigentlich müsste die Kirche boomen“, so die optimistische Überschrift des 4. Kapitels. Der Autor leitet so ein: „Wie der Zulauf zu Freikirchen und Evangelikalen, aber auch zu der Vielzahl von Sekten und Anbietern spiritueller Wellness oder östlicher Selbsterfahrungslehren zeigt, besteht in unserer Gesellschaft nach wie vor eine ungebrochene Nachfrage nach Spiritualität, Orientierung und Gemeinschaftserlebnissen angesichts der säkularisierten Welt. Denn die Brüchigkeit der Existenz, Daseinsängste und Sinnzweifel gehören zu den Grunderfahrungen des postmodernen Menschen.“ (128) Von Mitschke-Collandes Optimismus setzt offensichtlich der einer „Condition humaine“ an, die seine Untersuchungen vielfach belegen. Religiosität ist nach wie vor ein Grundtatbestand menschlicher Existenz und Gesellschaft. Die klassischen Grundfragen nach dem Sinn des menschlichen Daseins lauten nach wie vor: „Wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir? Was ist unsere Bestimmung, was sind unsere Ziele?“

Sosehr auch die Untersuchungen des Autors die kritische Lage der traditionellen Kirche in der heutigen säkularisierten Gesellschaft belegen, verfällt er nicht in einen dumpfen Pessimismus, sondern gibt der Kirche fünf „Stoßrichtungen zur Überwindung der Kirchenkrise“ an die Hand: Ein neues Selbstverständnis, die Überwindung der Sprachlosigkeit, eine neue Kultur des Miteinanders, Beteiligung der Gläubigen und Mut zur Innovation.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Mit der Erfahrung eines McKinsey-Beraters und als engagierter Katholik analysiert Thomas von Mitschke-Collande die aktuellen Krisenphänomene der Kirche und entwickelt die entscheidenden Reformschritte für die „lichterloh brennende Kirche“. Ein glaubhafter Erneuerungsprozess setzt beim Selbstverständnis der Kirche an, führt über professionelle Kommunikation zu einer offenen Diskussionskultur und stärkt nicht zuletzt den Glauben.

Ob die Empfehlungen des Beraters zu einem neuen kirchlichen Boom führen, wird nicht zuletzt von den amtlichen, meist konservativen Kirchenautoritäten, abhängen, die immer noch fast ausschließlich in der Kirche das „Sagen“ haben. Und zunehmend geben die konservativen Vertreter des Episkopats hierzulande den Ton an, deren Lebenswelt und Lebensgefühl weithin rückwärts ausgerichtet ist. Dennoch, der Autor bleibt optimistisch: „Die Kirche in Deutschland war oftmals wichtige Impulsgeberin für die Weltkirche. Denken wir nur an die Reformation, die katholische Soziallehre, die Liturgiereform oder die ökumenische Bewegung. Warum sollte von uns deutschen Katholiken nicht diesmal ein Impuls an die Weltkirche ausgehen und dies schließlich zu einem dritten Vatikanum führen?“ (233) Sein Wort in Gottes Ohr! Vielleicht könnte auf diese Weise eine neue Kirche entstehen, die näher zu ihrem Urheber steht als so viele andere Vorstellungen, die durchwirkt von allen möglichen Ängsten der Welt in ihrem Pessimismus die Sache Jesu verraten. Sie könnten tatsächlich die Kirche abschaffen, weil sie in ihrer beharrlichen Selbstbetrachtung an einem Modell von Kirche festhalten, das die reale Welt der Menschen übersieht, um die es der Botschaft Jesu geht. Kardinal Karl Lehman formuliert es in seinem Vorwort so: „Der Autor will die Situation der Kirche gründlich und unverstellt verstehen. Wer diesen Weg mitgeht, gewinnt aus dem Buch so manche Einsicht“.

Ich ergänze, die Einsichten aber sollten im Sinn des Verfassers mehr sein als ein flüchtiges Wetterleuchten. Aus den Einsichten seiner Analysen formuliert er umfassende und realisierbare Strategien und Wege, die die Kirche davor bewahrt, dass sie sich selbst abschafft.

Zurück zur Auswahl
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

Knut Walf
Norbert Lüdecke, Georg Bier: Das römisch-katholische Kirchenrecht – Eine Einführung
Verlag W. Kohlhammer Stuttgart, 2012

Zwischen dieser Darstellung des katholischen Kirchenrechts und früher erschienenen Einführungen liegen Jahrzehnte. Schon allein diese Tatsache ist von Bedeutung. Das Buch will einen „Erstkontakt mit dem Kirchenrecht“ (8) für Theologiestudenten vermitteln. Der Stoff stammt vorrangig aus dessen Kernbereichen Lehre, Verfassung und Sakramente mit gelegentlichen Ausflügen in andere Segmente, etwa das Strafrecht im Modul 15 über sexuellen Missbrauch. Gemäß dem so genannten Bologna-System und dem dadurch modularisierten Theologiestudium ist die Einführung in fünfzehn Module unterteilt. Das bedeutet vertieftes Eintauchen in einige recht begrenzte kirchenrechtliche Themen. Darum benötigt der Leser als Hilfsmittel nicht nur das kirchliche Gesetzbuch (Codex Iuris Canonici = CIC) von 1983, worauf die Autoren hinweisen (10), sondern zur Horizonterweiterung wohl auch eine der herkömmlichen Einführungen, soll er bzw. sie die jeweilige Thematik in das Ganze des Kirchenrechts einordnen können.

Das Buch ist hervorragend redigiert, klar gegliedert und verfügt über zahlreiche nützliche Querverweise. Überdies illustrieren 87 Abbildungen Sachverhalte, vielleicht gelegentlich - notwendigerweise wohl – simplifizierend. Bedauerlich ist, dass es keine Sach-und Autorenregister enthält. Auch wäre eine Übersicht der genannten oder kommentierten Canones durchaus hilfreich gewesen. Es fehlen gelegentlich in den Darstellungen Differenzierungen, Nuancierungen. Das letzte Modul über sexuellen Missbrauch beschreibt hingegen hervorragend und (vermutlich) fast erschöpfend diese aktuelle Problematik in der katholischen Kirche.

Der niederländische Kanonist Ruud Huysmans bezeichnet das kirchliche Gesetzbuch von 1983 als päpstliches Recht. Und so kann man auch sagen, dass die Autoren Norbert Lüdecke (Uni Bonn) und Georg Bier (Uni Freiburg/Brsg.) das Kirchenrecht durchweg als päpstliches Recht präsentieren, und dies dann wirklich knallhart. Auffallend häufig wird auf „Gott“ (Abb.32 „Gegenstand, Reichweite und Verbindlichkeit des Lehramts“, 82), Christus und den Heiligen Geist (85) Bezug genommen. Zitat: Das (kirchliche) Lehramt „meint die Funktion und Kompetenz, mit einem besonderen Geistbeistand in der Autorität Christi die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift oder der Tradition sowie das natürliche Sittengesetz einschließlich des göttlichen Rechts festzustellen und auszulegen,.. Die transzendente Willensbildung des göttlichen Kirchengründers wirkt im besonderen Geistbeistand weiter, der dem Lehramt verheißen ist.“(22f.) Nun denn.

Dieses Kirchenrecht ist Klerikerrecht: Die Autoren bezeichnen die „verpflichtende klerikale Standestracht“ als „sozial stützende visuelle Standesmarkierung“. (25) Oder:„Die Zölibatsverpflichtung hebt durch die Lebensweise heraus, die Klerikerkleidung textil.“(239) Es gibt in dieser Einführung eine Art Swing zwischen Leichtigkeit, ja Saloppheit im Ausdruck und der absolut systemimmanenten Sprache (etwa „Gottesvolk“ für die kirchliche Gemeinschaft) eines selbstreferentiellen Systems im Luhmannschen Sinn.

Einige Beispiele: Missachtung des Gebots zur Teilnahme an der sonntäglichen Eucharistiefeier wird „Messe-Schwänzen“ genannt. (193) Messdienerinnen werden als Messmädchen bezeichnet.(201) Katholische „Jenseitstopographie“ steht für die Trinität von Hölle, Fegefeuer und Himmel.(228) Oder: „Je mehr man sich dem Diözesanbischof… aus rechtlicher Sicht nähert, desto deutlicher entpuppt er sich als Scheinriese.“(126) „Kirchenrechtlich und kirchenpolitisch ist die Theologie der Hase, der am Ende jeder durchhasteten Furche auf den Lehramts-Igel trifft.“(40) Und wohl etwas unangemessen: „Die Verpflichtungskraft der Instruktion [der römischen Kongregation für das katholische Bildungswesen über die Eignung von Weihebewerbern von 2005] hängt nach kirchlichem Rechtsverständnis allerdings nicht ab von der Schlüssigkeit der vorgetragenen Argumentation, sondern vom autoritativen Anspruch, mit dem sie verkündet wird.“(168) Auch darf man zur Kenntnis nehmen: „Kirchliches Recht gilt immer solange und soweit wie seine Befolgung nicht einem Zweck im Wege steht, den die kirchliche Autorität für wichtiger hält.“(71) Hierzu wird Bezug genommen auf Hans Barion (+ 1973), Lüdeckes umstrittenen Vorvorgänger auf dem Bonner Lehrstuhl.

Der genannte Swing schlägt sich konsequent in der Darstellung nieder, die übrigens in aller Regel klar und deskriptiv bleibt. Aber da gibt es dann einerseits die Wiedergabe der Rechtsbestimmungen, die ganz nahe bei der nicht selten befremdlichen Sprache des kirchlichen Gesetzgebers verbleibt, und andererseits Passagen, die eine kritische Distanz zumindest erahnen lassen (z.B. Model 3 über den Kirchenaustritt). Auch will auffallen, dass ein gewisses Vorwissen unterstellt wird, will man die präsentierte Materie verstehen. Und dann stellt sich doch die Frage, ob man dieses von den heutigen Theologiestudenten erwarten kann. Überdies darf man sich fragen, inwiefern ein Leser des Buches das präsentierte Recht in seiner ganzen Stringenz mit seinen eigenen Erfahrungen heutiger Kirche in Übereinstimmung bringen kann. Was hat - anders gesagt - der Codex mit der kirchlichen Realität zu tun? Was mag beispielsweise ein Theologiestudent empfinden, wenn er folgendes aufgetischt bekommt: „Sieht ein Katholik sich verstandesmäßig nicht in der Lage, einer Lehre zuzustimmen, hat er diesen Mangel an Einsicht durch den Willen zu überbrücken. Insofern der Wille durch Befehle angesprochen wird, hat die Zustimmung den Charakter eines Gehorsamsaktes. Zustimmung und Gehorsam sind in dieser Sicht nicht Alternativen. Es geht um Zustimmung aus und als Gehorsam.“(84f.)? Dann bleibt wohl nur noch „gehorsames Schweigen“. Und: „Wer gehorcht, wird seiner Katholikenverantwortung gerecht.“ (beide Zitate: 87) Oder gar: „Katholiken haben gemeingehorsam zu sein.“ (93)

Aber was ist, wenn die kirchlichen Oberen, möglicherweise selbst der Papst irren? Nun dann „bleibt nur die gläubige Zuversicht“, die göttliche Vorsehung werde das schon verhindern.(116) Auch kann lediglich Gott (!) überprüfen, ob der Papst seinen Vorrang gerecht geltend macht.(123)

Ob insbesondere Frauen an dieser Einführung Freude haben dürften, darf bezweifelt werden. An verschiedenen Stellen des Buches wird ihnen deutlich gesagt, wo ihr Platz in der Kirche ist:„Nach amtlicher Lehre besteht in der katholischen Kirche die unaufgebbare Überzeugung, Gott wolle Frauen nicht zum besonderen Priestertum berufen. Was Klerikern vorbehalten ist, können Männer nicht ohne besondere Berufung, Frauen können es nach endgültig festzuhaltender Lehre niemals. Frauen können in der Kirche vielerlei.“(23) „Als erste auch religiöse Erzieherin ist sie [die Frau] es, die den ihren Kindern in der Taufe geschenkten Glauben zum Keimen bringt und das Umfeld schafft, in dem Jungen hellhörig werden können für den besonderen Ruf Gottes zum Priestertum. Durch diese Bereitung von Glaubensbiotopen für geistliche Berufungen trägt die Frau auf besondere Weise zur physischen und erzieherischen Bereitstellung der für die Kirche lebensnotwendigen manpower bei, damit der klerikale Führungsstand sich durch Kooptierung von Männern reproduzieren kann. Zudem verkörpert die Frau ‚mit besonderer Intensität und Natürlichkeit’ die marianischen Haltungen des Hörens, Aufnehmens, der Demut und Treue und hält so allen Gläubigen das weibliche Wesen der Kirche lebendig vor Augen… Auch wo die Kirche als Mutter streng sein muss, ist sie es um ihrer Gläubigen willen und immer mit offenen Armen.“(171f.) Was das kirchliche Recht im Hinblick auf die Frau bestimmt, „geschieht zum Schutz der Frau und ihrer weiblichen Eigenart“. (201) Illustrativ ist auch Abbildung 22 „Wesen der Frau“.(66)

Gelegentlich kann man bei der Lektüre vom Stuhl fallen:„Wer in schwerer Sünde (= Todsünde) stirbt, d.h. mit der Last der freien und bewussten Ablehnung Gottes z.B. als Atheist oder durch eine in sich schlechte Handlung (in amtlicher Sicht trotz theologischer Kritik z.B. Ehebruch oder eine andere Empfängnisverhütung als die periodische Enthaltsamkeit), dessen Seele wird unabänderlich der Hölle zugeteilt.“(228)

Nach der Lektüre dieser Einführung in das römisch(!)-katholische Kirchenrecht bleibt ein zwiespältiges Gefühl zurück. Wie schrieb Franz Kafka doch:„Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus.“ So wie sie präsentiert wird, könnte sie ein Oberer der Piusbruderschaft wegen seiner rigiden Stringenz ohne Zögern als Lehr-und Lernmaterial seiner Zöglinge zulassen. Überwiegend ist keine kritische Distanzierung erkennbar, die doch einer wissenschaftlichen Befassung mit dem Stoff eigen sein sollte, ja müsste. Die schuldet man als Autor und Lehrer den Studierenden. Lüdecke/Bier erklären, dass „informiert, nicht kritisch oder apologetisch bewertet“ (S.9) werde. Das ist genau der Haken an der Geschichte. Sollte man von einem Lehrbuch neben Information nicht auch Bewertung erwarten dürfen, natürlich keine apologetische, wohl aber eine kritisch begründete? Und zwar eine erkennbar wissenschaftliche Distanzierung. Es gab einmal Theologen, auch Kirchenrechtler, die in ihrer schlimmen Zeit unglücklicherweise das Führerprinzip wegen seiner Übereinstimmung mit dem Prinzip der Gewalteneinheit im kirchlichen Recht so dargestellt haben, dass der damalige Leser vermuten musste, sie billigten es. Ich betone ausdrücklich, dass ich Norbert Lüdecke und Georg Bier dergleichen nicht unterstelle. Aber es ist schlicht fatal, dass ein vergleichbarer Eindruck entstehen kann. Und er entsteht. Eine Ordensfrau reiferen Alters seufzte nach der Lektüre des Buches, sie sei bestürzt über das, was sie in ihm gelesen hatte.

Fazit: In der Tat gibt es dieses Kirchenrecht, so wie Lüdecke und Bier es geradezu gnadenlos in einer Art Schocktherapie beschreiben. Dieses Kirchenrecht ist ein ius imperfectum (unvollkommenes Recht), da ihm heute die Kraft und Macht der in dieser Welt wirkenden Sanktionen fehlt. Wenn man allerdings im Dienst dieser Kirche steht, verfügt diese über durchaus fühlbare und effiziente Sanktionen. So besehen, kann die Einführung von Lüdecke und Bier eine Warnung an Theologiestudenten und andere sein, worauf sie sich einlassen, wenn sie sich auf diese Kirche - insbesondere als Arbeitgeberin - einlassen.

Aber welche Theologiestudenten sitzen heutzutage zu Füßen von Lüdecke und Bier? Der Frankfurter Professor em. für Dogmatik und Fundamentaltheologie Medard Kehl SJ sagte neulich der FAZ, heute müsse er seine Worte vor den Studenten stärker als früher wägen. Wer sich für den Dienst in einer Kirche entscheide, die auf dem Weg in eine Minderheitenposition sei, suche eher eine Leitfigur wie den Papst und habe ein stärkeres Bedürfnis nach Abgrenzung. Nun, so besehen, handeln beide Kirchenrechtler nicht nur illusionslos, sondern geradezu aus Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Theologiestudenten. Folglich und schlussendlich: Möge ihre Einführung zahlreiche Leser und besonders Leserinnen finden, sozusagen zu deren eigenem „Heil“, was ja gemäß dem heiligen Recht der Kirche auch dessen
oberstes Gesetz ist (letzter Canon des kirchlichen Gesetzbuches).

Zurück zur Auswahl
Zurück zum Inhaltsverzeichnis

© imprimatur Dezember 2012


Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel!
Bitte füllen Sie die folgenden Felder aus, drücken Sie auf den Knopf "Abschicken" und schon hat uns Ihre Post erreicht.

Zuerst Ihre Adresse (wir nehmen keine anonyme Post an!!):
Name:

Straße:

PLZ/Ort:

E-Mail-Adresse:

So und jetzt können Sie endlich Ihre Meinung loswerden: