Crime Time in Imprimatur: Von Islamhassern und Islamhasserhassern |
Esther Maria Magnis: Gott braucht dich nicht – Eine Bekehrung |
Miteinander die Glut unter der Asche entdecken |
Im Genre Kriminalroman hat der Polit-Thriller immer eine bedeutende Rolle gespielt. Ich erinnere an die James-Bond-Serie von Ian Fleming, die durch die Verfilmungen weltweit bekannt wurde. Oder an die unübertroffenen Kalte-Kriegs-Thriller von John Le Carré. Die Verbrechen folgen darin nicht oder nicht nur einer privaten Logik, die mit Motiven wie Habgier, Rache, Eifersucht zu tun hat, sondern sie dienen wirklich oder vermeintlich den höheren Interessen eines Landes oder einer Ideologie. Wenn Mord juristisch als planmäßige Tötung aus niederen Motiven definiert wird, so haben hier die Täter mindestens in ihrer eigenen Wahrnehmung keine niederen, sondern höhere Motive – so wie sie das Völkerrecht Soldaten zubilligt. Für sie gilt der bittere Aphorismus des Philosophen Blaise Pascal (1623 – 1662) aus seinen „Gedanken“ (Pensées): „Niemals begeht man das Böse so gründlich und so freudig, wie wenn man es aus gutem Gewissen tut.“
Das ist auch der Hintergrund des Romans „Radikal“. Er ist der erste Krimi des früheren SPIEGEL- und jetzigen ZEIT-Journalisten Yassin Musharbash, und er führt mitten in die multireligiöse und multikulturelle deutsche Gegenwart. Die junge, in einer Kleinstadt bei Oldenburg aufgewachsene Tochter palästinensischer Eltern Sumaya al-Shabi ist Politologie-Studentin in der Endphase des Studiums. Seit kurzem gehört sie zum Mitarbeiterstab des frisch gebackenen Bundestagsabgeordneten Lutfi Latif. Der deutsche Moslem ägyptischer Abstammung ist nicht irgendein Hinterbänkler, sondern der kommende Mann der „Grünen“ für alles, was mit Multikulti und Integration zu tun hat. „Lutfi Latif, das wurde Sumaya schnell klar, war der Shootingstar der weltweiten Gemeinschaft der Exilmuslime. Zumindest derer, die im Westen lebten. Er war gebildet, gefragt, von allen Seiten respektiert. Es schien ihm keinerlei Mühe zu machen, die traditionelle islamische Gelehrsamkeit mit aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verknüpfen oder seinen freundlich bekundeten eigenen Glauben mit laufenden politischen Diskussionen in eine sinnvolle Beziehung zu setzen. Mit seiner Fähigkeit und Lust, die Dinge von Grund auf neu zu denken und zu sortieren, hatte Lutfi Latif mittlerweile längst ein globales Publikum gefunden.“ (S.12/13)
Freilich: ein solcher möglicher Brückenbauer hat nicht nur Freunde, sondern auch reichlich Feinde. So reichlich, dass er gleich nach seiner Wahl über fünfzig E-mails mit massiven Drohungen erhält; Sumaya muss sie lesen und sortieren. Hier ein Beispiel im Wortlaut: „Du bist der Schlimmste der munafiqun, der Heuchler; du gibst dich als Gläubigen aus, aber dein Ziel ist die Erniedrigung des Islam. Du benutzt die Sprache der Feinde Gottes und du suchst ihre Gesellschaft, und deshalb bist du einer von ihnen. Du kriechst vor ihnen! Es wäre besser, wenn du bekämpfst die Gläubigen offen, aber es macht nichts, es weiß auch so jeder, dass du ein Geschwür bist, und ich hoffe, dass Allah subhana wa taala deine Gedärme auf den Boden schmeißen wird. Und ich bin nicht alleine, alle denken so und deine Schande und dein Verbrechen wird bestraft werden.“ (S.68) Aber auch gänzlich andere, wiewohl ähnlich bedrohliche Zuschriften sind da zu lesen: „Herr Latif! Der Islam ist eine Religion des Friedens? Machen Sie sich doch nicht lächerlich! Sie halten Ungläubige für Vieh (Koran 9,5) und treten dafür ein, sie alle zu töten (9,123). Sie sind dafür, Frauen zu schlagen (4,34), Kinder sexuell zu missbrauchen (so wie Ihr Prophet es getan hat), sich an keine Gesetze zu halten (66,2) und keinen Frieden mit den Ungläubigen zu schließen (47,36). Natürlich haben Sie in Ihrem Wahlkampf auch aus dem Koran zitiert. Aber merkwürdigerweise immer andere Stellen. Wieso stehen Sie nicht einfach zu Ihrer Politreligion? Sagen Sie doch, wie es wirklich ist! Sie hätten nichts zu befürchten, der Koran ist ja immer noch nicht verboten. Denn das christlich-jüdische Abendland schlummert leider, in den Schlaf gesungen von doppelgesichtigen Scheinheiligen wie Ihnen. Wir werden aber nicht tatenlos zusehen, wie Sie und Ihre Horden unsere Zivilisation zersetzen, schleichend die Scharia einführen, Kopftuchmädchen produzieren und mit Ihrer Heulsusen-Mentalität weiter unsere Toleranz missbrauchen.“ (S.74/75)
Von der Existenz massiver Drohungen erfährt die Öffentlichkeit zuerst durch das politische Magazin ‚Globus‘ mit seinen eigenen Drähten zu BKA und Verfassungsschutz, freilich nur von den islamistischen Bedrohungen. Die nehmen die Behörden so ernst, dass sie Latif dauernden Personenschutz empfehlen. Den lehnt er ab, stimmt aber zu, eine Art persönlichen Sicherheitsbeauftragten einzustellen: kein Leibwächter, kein Bodygard, sondern ein Islam- und Islamismus-Fachmann, der vor allem die islamistische Szene im Internet beobachtet: Ihre Pläne, Bekennerschreiben, auch ihre interne Diskussion auf Blogs und Foren. Kein Polizist, kein Verfassungsschützer, sondern ein Arabist und Computer-Freak mit mehreren Computern in seiner Dachwohnung: Samuel Sonntag, genannt Samson. Und mit weiteren Alias-Namen wie Abu Hakim oder UmmJussuf 1429, wenn er sich in speziellen islamistischen Chatrooms und Foren als vermeintlicher Bundesgenosse tummelt.
Dieser Samson beliefert also Sumaya mit Details darüber, was über Latif in der islamistischen Szene geredet wird. Aber die Zusammenarbeit hat noch kaum begonnen, da ist es schon passiert: Lutfi Latif wird ermordet, und dreizehn zufällige Gäste mit ihm. Der Täter hatte per Handy-Fernzündung eine versteckte Bombe gezündet, während Latif im Frühstücksfernsehen interviewt wurde, vor vielen Zuschauern im ,MoMa-Café‘ des Morgenmagazins. Selbstverständlich wird eine riesige Fahndung ausgelöst und zwar nach mutmaßlichen islamistischen Terroristen. Die etwaige Bedrohung von rechts spielt keine Rolle – weder in der Strategie der Ermittlungsbehörden noch in der öffentlichen Diskussion. Merkwürdigerweise sind diese Droh-Mails auch rasch aus den Akten des Abgeordneten verschwunden, kaum dass Sumaya sie hatte einsehen können. Sumaya und Samson beschließen deshalb, auch auf eigene Faust zu ermitteln, und zwar in alle Richtungen. Dabei kommt Samson zugute, dass ihn ein früherer Schulfreund noch in der Zeit vor dem Anschlag einmal in einen geheimnisvollen elitären Polit-Zirkel eingeladen hatte. Dort wird eifrig darüber gefachsimpelt, wie der angesichts der islamischen Gefahr drohende Untergang des Abendlandes zu verhindern sei. Diese Kontakte aktiviert Samson, lässt sich scheinbar immer mehr einbinden, um allmählich auch der Speerspitze des Zirkels, dem ‚Kommando Karl Martell‘, auf die Spur zu kommen. Dieses Kommando, so viel kriegt er heraus, redet nicht nur radikal, sondern unternimmt konkrete Aktionen, wie das Beschmieren von Moscheen mit Schweineblut – womöglich auch mehr? Samson nimmt selbst an solchen Aktionen teil – sozusagen ein V-Mann der Guten bei den Bösen. Persönlich bedeutet das für ihn eine Zerrissenheit fast bis zur Schizophrenie: Hier den aktiven Islamhasser zu markieren, dort – im Internet – als vermeintlicher Dschihadist sich in islamistischen Foren und Chatrooms zu bewegen. Gestützt wird er von Sumaya, der er langsam auch privat näher kommt, und von einem verlässlichen alten Freund beim Verfassungsschutz. Mit im Boot ist auch seine Ex-Freundin Merle; sie ist Journalistin beim Nachrichtenmagazin ,Globus‘ und ganz nah dran an der dortigen investigativen Recherche zu Islamismus und Terror.
Die Suche nach den Tätern und Hintermännern (oder auch Hinterfrauen?) des Attentats verläuft abenteuerlich und gefährlich und bringt sogar einen der nichtamtlichen Ermittler, nämlich Samson, zeitweilig in Verdacht. Wie der Fall am Schluss gelöst wird, das wird hier und heute natürlich nicht verraten. Wohl aber, was dieses Buch über den Thrill, die Spannung hinaus interessant macht. Eindrucksvoll wie kaum ein anderer aktueller Kriminalroman beschreibt es die komplizierte Suche nach der Identität von Menschen, die amtlich wohl „Mitbürger mit Migrationshintergrund“ heißen. Sumaya al-Shabi, die Protagonistin des Romans, ist hin- und hergerissen zwischen ihren palästinensischen Wurzeln und ihrer deutschen Gegenwart; zwischen ihrer orientalischen Verwandtschaft und den deutschen Freunden („Ölaugen“ und „Kartoffeln“ heißen die gegenseitigen Spottnamen im Slang); zwischen ihrem moderat muslimischen Glauben und dem eben diesem Glauben entgegenschlagenden Misstrauen der Mehrheitsgesellschaft. Der Autor, der selbst deutsche und jordanische Vorfahren hat, kennt sich da aus und schreibt entsprechend einfühlsam. Dazu eine Selbstreflexion von Sumaya im Gespräch mit ihrer ebenfalls betroffenen Mitbewohnerin Mina: „Halbehalbe. Das hatte sie als Kind stets geantwortet, wenn irgendjemand sie wieder einmal fragte, als was sie sich eigentlich fühle, als Palästinenserin oder als Deutsche? Sie sagte es so kalkuliert rotzig, dass sie hoffen durfte, keine Nachfragen ertragen zu müssen. Als sie älter wurde, änderte sich die Antwort. Vielleicht hing es mit ihren ersten Reisen nach Ramallah zusammen, die sie ohne ihren Vater unternahm. Jedenfalls schleuderte sie den Fragenden später ein trotziges ,Beides‘ entgegen. Aber mittlerweile ahnte sie, dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte lag (…), dass eins durch zwei geteilt nicht immer zwei gleich große Hälften ergab. Dass Identität nichts mit Mathematik zu tun hatte, sondern veränderlich war, und vor allem: fragil.“ (S.110)
Eine nicht ethnische, sondern intellektuelle und ideologische Identitätskrise macht auch Samuel Sonntag zu schaffen, Samson. Er ist der deutsche Intellektuelle, der zuversichtlich gegen die anti-islamischen Vorurteile angehen will und dabei erlebt, dass nicht jedes Vorurteil ein Vorurteil ist. Als Student der Arabistik in Hamburg wollte er einst die Klischees in deutschen Köpfen von den gefährlichen Dschihadisten, den „tickenden Zeitbomben“ des Islam in der westlichen Welt, widerlegen. Er freundete sich mit gleichaltrigen Arabern aus Moscheegemeinden an, wurde auch privat viel eingeladen und festigte seine Überzeugung, dass das radikale Reden ein Hilfsmittel war, innere Widersprüche zu verkleistern, und nicht zu wirklichen Taten drängte. „Der Kampf im Kopf. Verbal-Dschihadismus als identitätsstiftendes Merkmal junger Muslime in Hamburg“ – so sollte seine Magisterarbeit heißen. Sein wichtigster Gewährsmann Mohammed konnte aber im September 2001 letzte Fragen nicht mehr beantworten – er war mittlerweile damit beschäftigt, ein Flugzeug in die twin towers von New York zu lenken, am 9. September 2001. Das wurde für Samson der Grund, sich weiter fast besessen dem Terrorismus zu widmen, um neue Anschläge zu verhindern, soweit es in seiner Macht lag. Im Falle Lutfi Latif ist es ihm nicht gelungen.
Dass eine mörderische Seite zum Glauben dazugehören kann, wird in diesem Buch also nicht verschwiegen. Meist begegnet man ihr in der plakativen Oberflächenbeschreibung der Presse-Schlagzeilen. An einer Stelle geht es freilich fast überraschend in den intimen Bereich der persönlichen Frömmigkeit der Protagonistin Sumaya. Da hat sie gerade das - echte oder unechte - Bekennervideo zum Anschlag auf Lutfi Latif gesehen, das von selbstgewisser Militanz gesättigt ist. Sumaya denkt darüber nach auf der Taxifahrt zur Witwe des Ermordeten: „Soll ich beten? Beten, dass er lebt? Beten für die, die gestorben sind? Beten für die Verletzten? Oder gleich dafür, dass das alles nicht passiert ist? Soll ich danken, dass ich lebe? ,Bismillah al-Rahman al Rahim..Ich weiß nicht viel über Dich, aber Du bist der Schöpfer der Welt und zu allen Dingen fähig…‘ Sie konnte es nicht. Nicht, nachdem sie bei Samson dieses Video gesehen hatte. Dieselben Worte, derselbe Gott. Es fühlte sich falsch an. Sie wollen nicht nur Flugzeuge hijacken, sie wollen auch eine Religion hijacken, hatte sie Lutfi mehr als einmal sagen hören. Aber was, wenn sie es geschafft haben? Wenn ich ihretwegen nicht mehr beten kann?“ (S.171)
Das ist ein Gedanke, dem nachzugehen sich lohnt. Kann eine Religion gehijackt, entführt, sich selbst komplett entfremdet werden? Zerstört am Ende der militante Fundamentalismus nicht nur Glauben und Leben der Andersgläubigen, sondern stiehlt er, enteignet er den wahrhaft Gläubigen ihren Glauben? Kann man noch beten zu einem Gott, in dessen Namen gemordet wird? Ich erinnere an den schon zitierten Satz des christlichen Philosophen Pascal: „Niemals begeht man das Böse so gründlich und so freudig, wie wenn man es aus gutem Gewissen tut.“ Das ist für mich das heimliche Leitmotiv dieses furiosen Romans, das einen länger beschäftigen kann als die Suche nach dem Täter.
Yassin Musharbash: Radikal. Thriller. Kiepenheur & Witsch-TB. 8,99 €
Zurück zur AuswahlKnut Walf
Zu: Esther Maria Magnis: Gott braucht dich nicht
– Eine Bekehrung
Rowohlt-Verlag, Reinbek 2012, ISBN 978-3-498-06406-8
Dieses neue Buch kreist um die uralte, so genannte Theodizee-Frage, wie die Übel dieser Welt, letztlich das Böse mit Gottes Macht in Einklang zu bringen sind. (79-83, 104f.) Ähnlich wie Hiob wird der Gottesglaube der Verfasserin durch den Krebstod ihres Vaters, später dann überdies durch jenen ihres Bruders auf die Probe gestellt. Auch die Erkrankung der Oma stellt manches in Frage. Schon der Schutzumschlag gibt allerdings dem potentiellen Leser die beruhigende Gewissheit, dass in diesem Fall der Glaube an Gott siegen wird. Aber bis dahin liegt ein weiter Leseweg, immerhin auf 238 Seiten.
Magnis geb. Stallmann (32) stammt aus wohl situiertem Elternhaus in Ostwestfalen (Kindermädchen, Babysitterin, Mercedes). Der Vater war Außenhandelskaufmann. Sie wird in einer so genannten Mischehe katholisch sozialisiert (Vater evangelisch, Mutter katholisch).
Zutreffend, teilweise amüsant beschrieben ist das Erleben von Kirche in den Achtziger und Neunziger Jahren. „Dieselben Phrasen hörte man innerhalb wie außerhalb der Kirche.“ (25) Anfangs mochte Magnis Gott, auch wenn er ihr in der Kirche oft langweilig vorkam. „Aber ich fand ihn grundsätzlich sehr interessant.“ (18) Im Alter von dreizehn, vierzehn Jahren trennte sie sich allerdings, wenn auch „leise“ von Gott. Die tödliche Erkrankung des Vaters bringt eine neue Wende. Zusammen mit der älteren Schwester und dem jüngeren Bruder betet sie für seine Genesung, in einem Zimmer auf dem Dachboden. Diese Szene wird eindrücklich beschrieben. Aber dann kommt, wie nicht gerade selten in diesem Buch, stärkerer Tobak: „Ich mach, was du willst, Gott. Is’ mir egal, was es is’. Ich tu’s. Ich geh auf den Strich, wenn du willst.“(58) Schließlich mündet dieser Prozess gar in Hass auf Gott (108).
Was die literarische Qualität betrifft, bleibt ein disparater Eindruck zurück. Neben geradezu unverständlichen (etwa 96-101, 165), naiven (passim) oder gar kitschigen (237-238) Passagen stehen durchaus überzeugende, wohl durchdacht und gut formuliert (151. 169-171). Recht stark vertreten sind jugendsprachliche Ausdrücke. Geradezu übertrieben wird eine monomane Fäkalsprache verwendet („Scheiße“ und zahlreiche Scheißcomposita wie z.B. „Scheiß Ökumene“). Diese durchgängige Koprolalie, also das Gebrauchen obszöner oder verpönter Worte, gerade auch in diesem Kontext, ist verstörend, ja degoutant.
Nach den recht zahlreichen sprachlichen Zumutungen tut es gut zu vernehmen, dass die Verfasserin in diesem Prozess das Schweigen Gottes als Macht erfährt (172). Möglich, dass diese Erfahrung ihr auch geholfen hätte, ihr Buch ungeschrieben zu lassen. Diese Chance aber hat sie vertan. Stattdessen sinniert sie ein paar Seiten weiter, ob Gott ein Sadist ist (195). Und fast schon am Ende fasst sie zusammen:„Gott ist schrecklich. Gott brüllt. Gott schweigt. Gott scheint abwesend. Und Gott liebt in einer Radikalität, vor der man sich fürchten kann.“ (224) Nun, dazu passt dann auch der merkwürdige Titel des Buches.
Magnis ist laut Cover katholisch und hat in Rom Vergleichende Religionswissenschaft studiert. Mit den im Studium und möglicherweise im Leben erworbenen Erkenntnissen offeriert sie dem Leser dann auch diese: „Jede Religion hat schöne, bekloppte, überfordernde Seiten. Aber keine ist so gaga wie das Christentum. In keiner Religion ist der Glaubensanspruch so hoch, wird so viel verlangt wie bei den Christen, deren Gott angeblich am Kreuz gelandet ist.“ (212) Dennoch ist sie katholisch, weil sie die Gründungsgeschichte der Kirche liebt: „Petrus bekommt das Amt von Gott, und das Erste, was er macht, ist – Scheiße bauen, ihn verleugnen, und das wird bis heute erzählt. Das wurde nicht rausgestrichen aus der Bibel. Das gehört zum Bewusstsein jedes reflektierten Katholiken. Aber so weit war ich damals längst nicht. Ich war ja klassisch gebildet, mit klassisch-antirömischem Reflex, der gehörte in Deutschland ja quasi zum guten Ton.“ (204)
Die letzte Erwähnung lässt ahnen, wo Esther Maria Magnis heute wohl stehen mag – trotz aller Jugendsprache und recht viel „Scheiße“ in ihrem Bekehrungsbericht. Schlussendlich kann man nur vollinhaltlich zustimmen, wenn sie selbst über ihr eigenes Buch urteilt:„Dieses Buch (…) ist voll Müll und halbfertigen Gedanken – und das, obwohl ich es wage, von Gott zu erzählen.“(204)
Zurück zur AuswahlRoland Hinnen
Zu Abt Martin Werlen, Einsiedeln: Miteinander die
Glut unter der Asche entdecken
(Broschüre, Kloster Einsiedeln 2012, 40 S.)
Eine Broschüre, die in der Schweiz Aufsehen erregt. Abt Werlen ist
Mitglied der Bischofskonferenz der Schweiz.
Statt einer „klassischen Buchbesprechung“ bringen wir Ausszüge
aus der Broschüre, die ein Schweizer Leser für uns zusammengestellt
hat, mit Angabe der Seitenzahl.
Viele Christinnen und Christen nehmen heute in der Kirche vor allem Asche wahr. (12)
Wer systematisch dafür sorgt, dass Kritiker verstummen – nicht etwa, weil die Probleme gelöst sind -, zerstört Kirche. Es ist fatal, wenn besorgte Getaufte kaltgestellt werden, weil sie Asche schlicht und einfach Asche nennen. (13)
Das Referat wird wohl Staub aufwirbeln. Aber: Staub aufwirbeln kann man nur dort, wo es Staub hat. (14)
Gemeinsam die Glut suchen, gemeinsam ein Feuer entfachen, das Wärme schenkt. (14)
Und heute, fünfzig Jahre danach (nach dem Konzil)? Die Situation der Kirche ist dramatisch. … Das wirkliche Problem ist: Es fehlt das Feuer. … Wir müssen uns der Situation stellen und dahinter schauen. (17)
Die konservative Gefahr ist es, sich gläubig außerhalb des Wandels zu bewegen, und sich damit von Gott zu entfernen, der bei den Menschen sein will. (18)
Wenn wir auf den eingefahrenen Gleisen bleiben, tragen wir zum Aschenhaufen bei. (19)
Es geht darum, heute Kirche zu sein, heute unseren Auftrag wahrzunehmen. … Es geht nicht darum, uns dem Zeitgeist anzupassen. Es geht darum, den Zeitgeist wahrzunehmen, die Menschen in unserer Zeit zu lieben und das Evangelium zu ihnen zu tragen. … den Menschen dort abzuholen, wo er ist. (19)
Das Ohr am Herzen Gottes und die Hand am Puls der Zeit! (21)
Es gibt Kirchenmänner, die heute darüber klagen, dass seit 40 Jahren immer die gleichen Probleme thematisiert werden. … Die gleichen Probleme werden immer wieder thematisiert, weil sie noch nicht gelöst sind. Andere Kirchenmänner wagen es immer noch zu sagen, dass es nur Probleme der deutschsprachigen Länder seien. Erstens stimmt das meistens nicht und zweitens muss man sich fragen, mit welcher Begründung Probleme im deutschsprachigen Gebiet nicht gelöst werden sollten, weil es diese Probleme in anderen Sprachgebieten nicht gibt. Probleme muss man dort lösen, wo sie auftreten. (21/22)
Das Nichternstnehmen einer Situation und eines Menschen ist ein Akt des Ungehorsams. Weil Verantwortungssträger ihre Aufgaben nicht wahrnehmen …, werden als Nothilfe und Hilfeschrei Initiativen gestartet. … Der von Amtsträgern beklagte Ungehorsam ist sehr oft eine Folge des Ungehorsams der Amtsträger. … Selbst möchte ich aber … einen andern Weg weiterzugehen versuchen: Miteinander die Glut in der Asche entdecken. Das zeigt sich auch in der Bereitschaft, Probleme vor Ort anzugehen und zu lösen. (22)
Wir vergessen, dass das Entstehen des Mönchtums damals gerade eine Protestbewegung gegen diese Privilegien (der Kirche) war. Es war eine prophetische Bewegung in der Kirche! … Wenn doch das Ordensleben im Jahr des Glaubens 2012/2013 wieder eine Provokation sein würde, ein prophetisches Zeichen in der Kirche! (28)
Verhängnisvoll für die Wahrnehmung von Kirche und darum auch für
ihre Verkündigung ist der Eindruck vieler Menschen: „In der Kirche
bleibt alles beim Alten.“ Dieser Eindruck ist genau das Gegenteil von
dem, wie Menschen im Evangelium auf Jesus reagieren. … Miteinander –
alle Getauften! – um den richtigen Weg ringen. (24)
Traditionalismus ist nicht ein Zuviel an Tradition, sondern im Gegenteil ein
Mangel an Tradition. (24)
Es muss zumindest nachdenklich stimmen, wenn Priester heute wieder … auf eine solche Weise Liturgie feiern können, als ob es das Zweite Vatikanische Konzil nie gegeben hätte. (25)
Die Kirche hat in den vergangenen Jahren sehr viel an Glaubwürdigkeit eingebüßt. Eines wurde klar: Wichtiger als alle Worte und Texte der Kirche ist das konkrete Zeugnis im Leben. … Alle Getauften gehören zur Kirche. Wenn sexuelle Übergriffe in Familien von Getauften geschehen, so sind das genauso Übergriffe in der Kirche (wie die sexuellen Übergriffe von Amtsträgern). … Das Zeugnis ist gefordert. Dazu gehört auch das gemeinsame Suchen. Gesucht sind nicht Menschen, die Gott besitzen, sondern Menschen, die Gott suchen. (26)
Die katholische Kirche besitzt die Wahrheit nicht. (27)
Am 16. September 2012 hat ein Kardinal in einer Predigt beim Kongress „Freude am Glauben“ in Aschaffenburg im Ernst behauptet: „Im Evangelium steht nichts von Dialog.“ Der Kirchenmann wurde vor zwei Jahren im hohen Alter von Papst Benedikt XVI. zum Kardinal ernannt und damit zu seinem engen Berater. … In der kirchlichen Tradition lesen wir das Evangelium anders – in Gemeinschaft mit vielen Heiligen. Für den heiligen Benedikt ist klar: Wenn wichtige Fragen anstehen, sollen alle zusammengerufen werden, weil Gott oft durch den Jüngsten offenbart, was das Bessere ist. … Wie beurteilt wohl Papst Benedikt die Fragen, vor denen die Kirche steht: wichtig oder weniger wichtig? (27)
Verheerend sind sogenannte Double-Messages: Mit Worten eines behaupten, mit den Taten aber das Gegenteil sagen. … Solche Double-Message wird von Seiten der Kirche gerade im Zusammenhang mit den Menschenrechten wahrgenommen. Immer wieder sagen Menschen: Die Kirche steht für die Menschenrechte ein, interessiert sich dafür aber in den eigenen Reihen nicht. … Kirchliche Kreise, die nicht selten große Unterstützung von Kirchenführern genießen, haben große Mühe damit, wenn sich die Kirche zu (28) menschenrechtlichen Themen äußert, die ihnen nicht passen. … Viele Menschen unserer Zeit nehmen die Kirche nicht als hörende Kirche wahr – auf Gott hörend und auf die Menschen, die er liebt. (29)
Die Weltkirche fährt zurzeit mit angezogener Handbremse. Und das macht ein Engagement in ihr nicht gerade attraktiv. Der Handlungsspielraum wäre groß, ohne dabei der Botschaft Jesu gegenüber untreu zu werden. Im Gegenteil: gerade die Treue zur Botschaft Jesu fordert mutiges Handeln. … Dann treten wir aus der defensiven Haltung in eine befreite und befreiende Offensive. (29)
Die Probleme sind bekannt. Auch Papst Benedikt XVI. spricht sie verschiedentlich an. Aber es geschieht wenig Konkretes in Richtung Problemlösung. Es liegen viele aus tiefem Glauben, aus Liebe zum Menschen und aus Liebe zur Kirche erarbeitete Lösungsansätze vor. … Aber die Vorschläge werden von den heute Verantwortlichen nicht aufgenommen. … Es fehlen mutige Schritte in die Zukunft. Von höchsten Stellen der Kirche wurden in den letzten Jahren vor allem kirchliche Gruppen gefördert, die vor mutigen Schritten in die Zukunft Angst haben. Ist das Ausdruck von Glaubensstärke? Der heilige Benedikt sagt an die Adresse des Abtes, dass er mehr vorsehen als vorstehen soll. (30)
… die Wiederentdeckung synodaler Prozesse. Wenn Einrichtungen wie die Bischofssynoden derart stark von der Kurie vorbereitet und begleitet werden, dass ja nichts Neues entstehen kann, zeugt das von Glauben? (31)
In den letzten Jahrzehnten wurde mit Bischofsernennungen sehr viel an Glaubwürdigkeit zerstört. Eigentlich müsste es für die Kirche im 21. Jahrhundert eine Selbstverständlichkeit sein, dass die Getauften und Gefirmten der betroffenen Diözesen in diesen Ernennungsprozess in angemessener Weise einbezogen würden. (31)
… Selbstverständlich kann die Mitbestimmung der Wahl eines Bischofs durch die Diözese auch einmal daneben gehen – aber kaum mehr als das mit der heutigen Vorgehensweise bei der Bestellung fast aller Bischöfe der Fall ist. (32)
Entscheidungen im richtigen Moment verpassen, schadet der Sache. Es ist beschämend.
Aber die Sache wird nicht besser, wenn man sie einfach unter den Teppich wischt.
Sie muss angegangen werden.
Wie gesehen, gehören die Kardinäle nicht zum Glaubensgut. Auch hier
wäre noch viel Spielraum für neue Wege. Das Beratungsgremium des Papstes
könnte auch anders aussehen. … Keiner der Anwesenden würden
wegen der Sorge um die eigene Karriere etwas sagen oder verschweigen. Diese
Treffen könnten eine andere Dynamik in die Leitung der Kirche bringen.
Wichtige und weniger wichtige Fragen könnten angegangen werden. (34)
Eine östereichische Journalistin gibt den Eindruck wieder, den viele vom Vatikan haben: „ein kleinlicher Intrigantenstadel“. (34) … Verantwortung dafür hat, wer die Macht hat, ein solches System zu verändern. (35)
Im Schreiben „Odinatio Sacerdotalis“ über die nur Männern vorbehaltene Priesterweihe schreibt Papst Johannes Paul II. 1994, dass diese Frage nicht mehr diskutierbar ist. Eine Frage bleibt trotzdem: Ist das Geschlecht der Person je eine Glaubensfrage? Gehört das zum unveränderbaren Glaubensgut? … Die Kirche hat neue Ämter eingeführt, wo das nötig war, um ihrem Auftrag treu zu bleiben. … Im Evangelium ist ausdrücklich von der geistlichen Mutterschaft die Rede. (35) … Bei diesem christozentrischen Ansatz verfällt man nicht einfach den kulturell bedingten patriarchalischen Strukturen und versucht, sie theologisch zu verteidigen. Eine Rückbesinnung auf die Bibel und die ganze Tradition kann uns helfen, aus kulturbedingten Verengungen herauszukommen. (36)
„Die Kirche wird von vielen Menschen als Institution wahrgenommen, die nicht dem Leben dient, sondern das Leben einschränkt. Für viele – auch Getaufte – ist sie belanglos geworden. Ob dieser Eindruck berechtigt ist oder nicht – er ist offensichtlich weit verbreitet. Auf jeden Fall haben solche Menschen die berechtigte Erwartung, dass die Kirche hilft, den zu entdecken, der das Leben in Fülle verheißt (Joh 10,10). (36)
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© imprimatur Dezember 2012
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