Seit der Aufdeckung des Skandals von Machtmissbrauch und sexualisierter Gewalt am Berliner Canisius-Kolleg durch den Jesuiten Klaus Mertes im Januar 2010 und dem dadurch ausgelösten Bekanntwerden immer neuer Missbrauchsfälle in der gesamten katholischen Kirche Deutschlands steht diese vor dem Problem, durch schonungslose Aufklärung nicht nur den Opfern Anerkennung des ihnen zugefügten Leids widerfahren zu lassen, sondern auch selber Glaubwürdigkeit und Vertrauen – soweit einer Institution gegenüber überhaupt möglich – wiederzugewinnen. Mit dieser Intention wurde, neben anderen Maßnahmen, im Juli 2011 zwischen dem Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) und dem Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) unter seinem Leiter, Professor Dr. Christian Pfeiffer, ein Forschungsprojekt über den „Sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ vereinbart. Das Projekt, das anhand der Personalakten von neun Bistümern eine Längsschnittsanalyse seit 1945 und eine Querschnittsuntersuchung seit 2000 für die restlichen 18 Bistümer vornehmen sollte, sah auch eine „quantitative Opferbefragung“ sowie qualitative Interviews mit Opfern und Tätern vor. Dieses auch für den kriminologischen Laien erkennbar ambitionierte, aufwendige und komplexe Projekt sollte drei Jahre dauern und hatte fünf wesentliche Ziele: erstens belastbare Zahlen über die Entwicklung seit 1945 (verschiedentlich wird behauptet, die große Mehrzahl der Fälle läge schon Jahrzehnte zurück, in den 1950er und 1960er Jahren) und über die aktuelle Situation seit der Jahrtausendwende; zweitens wie das Missbrauchsgeschehen und seine Folgen aus der Sicht der Opfer aussehen; drittens das Handeln der Täter zu erfassen und welche Faktoren es gefördert haben; viertens das Verhalten der Kirche gegenüber den Opfern und Tätern; und schließlich sollte anhand der Untersuchungsergebnisse das Präventionskonzept überprüft und eventuell verbessert werden.
Man muss sich alle diese Einzelheiten vergegenwärtigen, um ermessen zu können, was nun alles nicht geschehen wird – oder zumindest einen unabsehbaren schweren Rückschlag erleidet -, nachdem die Bischöfe am 9. Januar 2013 den Vertrag mit Professor Pfeiffer gekündigt haben. Begründet wurde diese Kündigung „mit dem mangelnden Vertrauen in die Person von Professor Dr. Pfeiffer“: „Vertrauen ist aber für ein so umfangreiches und sensibles Projekt unverzichtbar“, heißt es wörtlich in der Presseerklärung der Bischofskonferenz. Pfeiffer seinerseits hat den Bischöfen Zensurabsichten vorgeworfen und von Hinweisen auf Aktenvernichtung gesprochen. Dies wurde von Seiten der Kirche bestritten und Pfeiffer eine Unterlassungserklärung zugestellt, an die dieser sich aber offenbar nicht halten will. (Zur Zeit – Stand 22. Januar 2013 – findet darüber eine gerichtliche Auseinandersetzung vor dem Hamburger Landgericht statt.) Der Missbrauchsbeauftragte der Bischofskonferenz, der Trierer Bischof Stephan Ackermann will an einer wissenschaftlichen Aufarbeitung des Missbrauchsskandals festhalten und hat in Aussicht gestellt, die kriminologische Untersuchung mit einem anderen Partner durchzuführen; dafür gebe es bereits Kooperations- bzw. Unterstützungsangebote von anderen Instituten. Ob die anderen Bischöfe da mitmachen oder lediglich einzelne Bistümer ihre Personalakten untersuchen (lassen), entscheidet sich wohl dieser Tage bei der Frühjahrsvollversammlung. Auf der anderen Seite ruft Pfeiffer die Missbrauchsopfer auf, freiwillig und anonym Fragebögen auszufüllen. „Nun will jede Seite auf getrennten Wegen der Wahrheit auf die Spur kommen“, kommentiert die Süddeutsche Zeitung das – vorläufige – Ergebnis des „Falls KFN gegen die Kirche“ (9.1.2013, S. 2). Ob dabei die ganze Wahrheit herauskommen wird? „Wer wann in welchem Ausmaß Schutzbefohlene sexuell missbraucht hat, wird jetzt nicht mehr lückenlos aufgeklärt werden“ können.
Nicht restlos aufzuklären ist auch, zumindest für Außenstehende, wie es dazu kommen konnte, wie aus dem bei der Vorstellung des Projekts ersichtlich vorhandenen Willen zu Zusammenarbeit in anderthalb Jahren ein völlig zerrüttetes Verhältnis wurde. Aus den vielen Berichten, Interviews und Kommentaren in den Medien, wo der Fall für einige Tage das Topthema war, lässt sich grob folgender Hergang rekonstruieren:
Bald nach Vereinbarung des wissenschaftlichen Projekts auf der Basis eines Standard-Vertrags des KFN formiert sich in der Kirche Widerstand dagegen, zunächst von Seiten des rechten „Netzwerkes katholischer Priester“ - vor dem Pfeiffer selber im Herbst 2011 sein Projekt vorstellt und dabei erfährt, was ihm von offizieller Seite nicht gesagt worden war, nämlich dass das Kirchenrecht eine teilweise Vernichtung von Akten nach 10 Jahren oder dem Tod des Täters vorsieht, und somit sein Projekt „zum Scheitern verurteilt“ sei (SZ 11.1.2013). In Richtung der Bischöfe kritisiert das „Netzwerk“, die Herausgabe von Akten stelle einen unerlaubten Eingriff in die Persönlichkeitsrechte von Priestern dar und beschädige „nachhaltig das Vertrauensverhältnis katholischer Kleriker gegenüber ihren Bischöfen und Oberen“ (SZ 9.1.2013). Daraufhin kommen auch bei den Bischöfen Bedenken gegen das Vorhaben auf, dem sie, wie es heute heißt, 2011 vorschnell zugestimmt hätten. Die Diözesen München-Freising und Regensburg ziehen sich aus dem wissenschaftlichen Beirat zurück, es kommt zu Nachverhandlungen über den ursprünglichen Vertrag, mit immer neuen Vertragsentwürfen von beiden Seiten, die aber von der Gegenseite jeweils abgelehnt werden. Die beiden Hauptstreitpunkte sind der Datenschutz einerseits und die Veröffentlichung bzw. Interpretation der Ergebnisse andererseits, ,Atmosphärisches‘ scheint hinzugekommen zu sein. „Am Ende ist man sich nicht einmal mehr einig, worüber man streitet“ (SZ 9.1.2013). Die offizielle Kündigung wegen „zerrüttetem Vertrauensverhältnis“ ist der Schlusspunkt.
Die Leidtragenden dieses Desasters sind in erster Linie die Missbrauchsopfer. Klaus Mertes bringt es auf den Punkt: „Geschädigt ist das Vertrauen der Opfer und auch der kirchlichen Mitarbeiter vor Ort, die sich seit drei Jahren intensiv und glaubwürdig um Aufklärung und Prävention bemühen“. Vertreter von Opferverbänden sehen sich in ihrer Auffassung bestätigt, dass die Kirche von Anfang an gar keinen ernsthaften Aufklärungswillen hatte, dass der Vertrag mit dem Kriminologen Pfeiffer nur eine „große Aktion für die Presse“ war: „Passiert ist danach nichts mehr“ (Norbert Denef in Frankfurter Rundschau, 10.1.13). Das eh schon geringe Vertrauen vieler Opfer ist nun weiter zerstört.
Nicht nur bei den Opfern, auch in der öffentlichen Meinung und vor allem bei den eigenen, treuesten Anhängern hat die katholische Kirche in Deutschland einen massiven Image-Schaden und Vertrauensverlust erlitten. Wie die neueste Sinus-Studie (MDG-Milieuhandbuch 2013) feststellt, zweifeln viele kirchlich Gebundene, dass die Bischöfe den Skandal richtig aufarbeiten, obwohl sie es - im Unterschied zu anderen Institutionen wie etwa Odenwaldschule, Sportverbände, ja auch die Evangelische Kirche in Deutschland – versucht hat, gerät sie nun „wieder unter Verdacht“ (FAZ 18.1.13). Sie befindet sich in einer „Misstrauensspirale“ (Matthias Drobinski in SZ vom 19./20.1.13).
Fragt man nach dem letzten Grund dieser fatalen Situation, im Unterschied zu den Ursachen im Einzelnen, dann scheint die Analyse von Matthias Drobinski von der Süddeutschen Zeitung zutreffend: „Es geht ums Rechthaben, nicht um die Opfer – dieses Bild wird die katholische Kirche so schnell nicht loswerden“ ( 19./20.1.13). Sie steckt, was die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals angeht, in der „Narzissmusfalle“, will sagen: ist unfähig, anderes zu sehen als sich selbst. Nach dem antiken Mythos und seiner modernen tiefenpsychologischen Interpretation führt die Selbstverliebtheit bekanntlich zum realen und sozialen Tod. Diesem Schicksal ist nur dadurch zu entkommen, dass man den „Blick von außen“ zulässt (10.1.13). „Das ist riskant … Wer sich in die Hände anderer begibt, entäußert sich seiner Macht. Er wird selber verletz- und missbrauchbar. Aber er überwindet auch die Fixierung auf sich selbst, wird wieder beziehungs- und kommunikationsfähig, kann verlorenes Vertrauen zurückgewinnen“ (ebd.). Operativ umgesetzt heißt dies, dass die Kirche die Aufklärung des Missbrauchsskandals an eine von ihr unabhängige Instanz übergibt, dass sie eine wirklich unabhängige wissenschaftliche Aufarbeitung zulässt – auch auf die Gefahr hin, dass ihr „System“ - der Missbrauchsskandal ist schon sehr früh von Moraltheologen auch als systemisches Problem gesehen worden (vgl. Konrad Hilpert in Herderkorrespondenz 2010, H.4) – dadurch in Frage gestellt wird. „Systemprobleme können nur selten von innen heraus erkannt und behoben werden“. Wenn die Kirche diesen „Blick von außen“ zulässt, bliebe ihr immer noch die immense Aufgabe der Selbstbekehrung.
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