Zur Religionskritik [2]
2. Von vielen Aufklärern wurde die (christliche) Religion aber aus praktischen Gründen – zur “Erziehung des Menschengeschlechtes”[3] – grundsätzlich positiv bewertet. Aber ihre metaphysischen Aussagen, auch der tradierte Gottesglaube, wurden problematisiert. Zwar nahmen sehr viele Aufklärer an, dass es Gott gebe, weil auf diese Weise das Zustandekommen der Welt wie auch die sittliche Verpflichtung des Menschen vernunftgemäß erklärt werden konnten. Nach der Schöpfung aber greife er nicht mehr in die Weltläufe ein, und der Mensch müsse sein Erkennen und Handeln autonom wahrnehmen. Dieser sog. Deismus führte vor allem in England und, von dort beeinflusst, auch in Deutschland und Frankreich zu einer fortschreitenden Bestreitung von “Offenbarungswahrheiten” und schließlich zu einer grundsätzlichen Religionskritik, die von einigen erstmals auch zu einem förmlichen Atheismus erweitert wurde.[4]
Diese kritischen Überlegungen waren allerdings in der Aufklärungszeit auf relativ kleine, wenn auch meinungsbildende Eliten beschränkt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts aber konnten sie sich in weiten Kreisen des Bürgertums und auch der Arbeiterklasse ausbreiten. Jetzt wird die Kritik der Religion noch schärfer. Auch wenn hierbei die Vorstellungen über das, was Religion sei, immer noch weithin vom Christentum geprägt waren, zielten die Aussagen der Sache nach grundsätzlich auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Religion. Mit dem Aufkommen der Geschichtswissenschaften, der Kenntnis anderer Religionen und ethnologischen Materials wurden auch nichtchristliche religiöse Inhalte und Praktiken konkret mit einbezogen.
Beispiele aus der französischen und deutschen Religionskritik sollen das neue Denken verdeutlichen. Der französische Positivist Auguste Comte († 1857) lehnt jeden Glauben an Gott ab, ebenso aber auch jede Gemeinsamkeit (“toute solidarité”) mit dem kämpferischen Atheismus, der nur eine ungenügende Emanzipation des Menschen (“une émancipation très insuffisante”[5]) bringe, weil er durch seine antithetische Fixierung auf den Gottesglauben auf einem unwissenschaftlichen Stand verbleibe.[6]
Der Glaube an Gott müsse nicht bekämpft werden, vielmehr sei die Menschheit einfach über ihn hinausgewachsen: “Die gesunde Philosophie beseitigt zwar gründlich alle notwendig unlösbaren Fragen: indem sie aber ihre Ablehnung begründet, vermeidet sie in Bezug auf sie irgendetwas zu leugnen, was im Widerspruch zu jenem systematischen Außergebrauchkommen stünde, durch das allein alle wirklich undiskutierbaren Meinungen verlöschen ... Zweifellos hat niemand jemals die Nichtexistenz Apollos, Minervas usw. logisch bewiesen, noch die der orientalischen Feen oder verschiedener poetischer Schöpfungen, was den Menschengeist keineswegs daran gehindert hat, unwiderruflich die alten Glaubenssätze aufzugeben, als sie endlich aufgehört hatten, seiner Gesamtlage zu entsprechen.”[7]
Von diesem Ansatz her erklärt A. Comte auch den Ablauf der menschlichen Geistesgeschichte. Er unterscheidet drei Stadien: einen theologischen oder fiktiven Zustand, in dem man absolute Erkenntnis durch Untersuchungen der inneren Natur der Dinge zu finden glaubte, die man auf übernatürliche Wesen zurückgeführt habe, einen metaphysischen Zustand, der nur eine abstrakte Variante des ersten Stadiums sei, und einen positiven Zustand, in dem die Menschen aufhören, sinnlose und nicht zu beantwortende Fragen nach Ursprung und Entwicklung des Weltalls zu stellen, und sich positivistisch auf die Beobachtung der Abläufe, ihrer zeitlichen Abfolge und ihrer Ähnlichkeiten beschränken.[8]
In Deutschland fand die Religionskritik durch Ludwig Feuerbach († 1872) ihre bis heute klassische Formulierung. Er führt die Ausbildung von Religion darauf zurück, dass sich der Mensch Gott als ein Wesen vorstellt, in dem er alle Mängel, an denen er selber leidet, aufgehoben sieht und in das er alles, was er zu sein und zu haben wünscht, hineinprojiziert[9]. “Was er selbst nicht ist, aber zu sein wünscht, das stellt er sich in seinen Göttern als seiend vor; die Götter sind die als wirklich gedachten, die in wirkliche Wesen verwandelten Wünsche des Menschen; ein Gott ist der in der Phantasie befriedigte Glückseligkeitstrieb des Menschen. Hätte der Mensch keine Wünsche, so hätte er trotz Phantasie und Gefühl keine Religion, keine Götter.”[10]
Dass der Mensch diese seine Wünsche in Wesen außerhalb seiner selbst verlagert, interpretiert Feuerbach als eine kindliche Denkweise: “Der Mensch verlegt sein Wesen zuerst ausser sich, ehe er es in sich findet ... Die Religion ist das kindliche Wesen der Menschheit.”[11] In Wirklichkeit aber gibt es nur den Menschen und sein Bewusstsein, was im erwachsenen Stadium erkannt wird[12]. “Was der Mensch nicht wirklich ist, aber zu sein wünscht, das macht er zu seinem Gotte oder das ist sein Gott”[13] , oder: “Das göttliche Wesen also ist das Wesen des Menschen, aber nicht, wie es der prosaischen Wirklichkeit nach ist, sondern wie es den poetischen Forderungen, Wünschen und Vorstellungen des Menschen nach ist oder vielmehr sein soll und einst wird.”[14]
Diese Feststellungen will Feuerbach nicht nur auf die Prädikate beziehen, die wir Gott zuschreiben, sondern auch auf das zugrunde liegende Subjekt, also die Existenz Gottes: “Existieren ist dem Menschen ... die Voraussetzung der Prädicate ... Die Nothwendigkeit des Subjects liegt nur in der Nothwendigkeit des Prädicats ... Das Subjekt (ist, Verf.) nur das personificirte, das existirende Prädicat ... Die Verneinung der Prädicate ist daher die Verneinung des Subjects”.[15]
Der Glaube an Götter oder Gott ist also aus uns selbst erwachsen, unsere Wünsche projizieren wir in ein Wesen außerhalb unserer selbst, und so bedeutet Religion “die Entzweiung des Menschen mit sich selbst; er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen gegenüber”.[16]
Weil in der Rede von Gott in Wirklichkeit – in entzweiender entgegengesetzter Weise – vom Menschen die Rede ist, folgert Feuerbach: “Wir haben bewiesen, daß der Inhalt und Gegenstand der Religion ein durchaus menschlicher ist, bewiesen, daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie, des göttlichen Wesens das menschliche Wesen ist.”[17] Damit scheint Religion grundsätzlich als Projektion des Menschen, der die eigenen Defizite und Sehnsüchte in imaginären göttlichen Wesen aufgehoben sieht, entlarvt und einem kindlichen Stadium zuzugehören.
Der Sache nach fügen spätere religionskritische Entwürfe diesem Ansatz nichts Neues hinzu, konkretisieren oder präzisieren ihn aber von verschiedenen Kontexten her: Karl Marx († 1883) basiert[18] auf ihm, wenn er ihn auch kritisiert, weil er übersehen habe, “daß das ,religiöse Gemüt‘ selbst ein gesellschaftliches Produkt ist”[19] , und bezieht in den Begriff des Menschen seine gesellschaftliche und politische Bedingtheit ein; die Mängel des Menschen sind nicht nur individualistisch zu verstehen, sondern resultieren aus den sozialen und politischen Unrechtsstrukturen.[20]
Friedrich Nietzsche († 1900) ordnet ebenfalls Religion einem früheren Stadium der Menschheitsgeschichte zu: “Alle Religionen zeigen ein Merkmal davon, dass sie einer früheren unreifen Intellectualität der Menschheit ihre Herkunft verdanken.”[21] Für seine Zeit stellt er fest, die “wirklich activen Menschen” seien “jetzt innerlich ohne Christenthum”, die “mässigeren und bedachtsameren Menschen” besäßen nur noch “ein wunderlich vereinfachtes Christenthum”, das “einen sanften Moralismus” darstelle – “die Euthanasie des Christenthums”[22]. Dennoch lässt Nietzsche den “tollen Menschen”, der die Botschaft vom Tod Gottes verkündet, feststellen: “Ich komme zu früh, ... ich bin noch nicht an der Zeit. Dieses ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen.”[23]
Nietzsche setzt sich vor allem mit dem Christentum auseinander, wenn er von Religion redet. Es ist auch der monotheistische Gott, den er für tot erklärt: Wie soll er “allwissend und allmächtig” sein, wenn er noch nicht einmal dafür sorge, dass “seine Absicht von seinen Geschöpfen verstanden wird”; wäre er nicht ein “grausamer Gott ..., wenn er die Wahrheit hätte und es ansehen könnte, wie die Menschheit sich jämmerlich um sie quält?” Ironisch fragt er, ob er “sich nicht deutlicher ausdrücken” konnte[24]. So spricht Nietzsche vom “Niedergang des europäischen Theismus”; der “religiöse Instinkt”, der “mächtig im Wachsen” ist, lehne “gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Mißtrauen” ab.[25]
Ein solcher Gott ist nutzlos, und wenigstens “wir Philosophen und ‚freien Geister‘” fühlen uns bei der Nachricht vom Tod Gottes “wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist”.[26]
Sigmund Freud († 1939) argumentiert in der Linie Feuerbachs, bedient sich aber zusätzlich psychoanalytischer Gesichtspunkte. Religion bewegt sich in einem Feld, über das wir keine Informationen besitzen; es wäre doch sonderbar, “daß unseren armen, unwissenden, unfreien Vorvätern die Lösung all dieser schwierigen Welträtsel geglückt sein sollte”[27]. Er qualifiziert religiöse Aussagen grundsätzlich als Illusionen[28] , die auf unserer Unwissenheit aufbauen.[29]
Der illusionäre Charakter der monotheistischen Gottesvorstellung besteht darin, sich einen ewigen Vater zu projizieren, “der die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt”[30] , ein infantiles Verfahren. Freud kritisiert auch den aufklärerischen Deismus, dessen “Gott nur mehr ein wesenloser Schatten ist und nicht mehr die machtvolle Persönlichkeit der religiösen (gemeint: der monotheistischen, Verf.) Lehre”.[31]
Auch der religiöse Weg monistischer Konzepte findet, ohne dass er sie beim Namen nennt, Kritik: “Es ist wiederum nur Illusion, wenn man von der Intuition und der Selbstversenkung etwas erwartet; sie kann uns nichts geben als – schwer deutbare – Aufschlüsse über unser eigenes Seelenleben.”[32]
Weil die Wirkung der religiösen Tröstungen “der eines Narkotikums gleich gesetzt werden darf”, ist Freud der Meinung, es sei unsinnig, “die Religion gewaltsam und mit einem Schlage aufheben zu wollen. Vor allem darum, weil es aussichtslos ist. Der Gläubige läßt sich seinen Glauben nicht entreißen ...”[33]. Dennoch hält er ein Leben ohne Religion für möglich. Es setzt ein desillusioniertes Sicheinlassen auf die Realität voraus: “Wer nicht weiter geht, wer sich demütig mit der geringfügigen Rolle des Menschen in der großen Welt bescheidet, der ist vielleicht irreligiös im wahrsten Sinne des Wortes.”[34]
Diese Hinweise mögen genügen, um den Duktus der Argumentationen aufzuzeigen. In Summe wird deutlich, dass Religionen es schwer haben, vor dem Forum der subjektiven Vernunft, die sich auf überprüfbare Erkenntnisse stützen will, zu behaupten. Der projektive Charakter religiöser Aussagen und ihre anthropologische Rückführung prägen seitdem bei vielen in der Westlichen Welt ihre Auffassungen über Religion.
3. Als kurzes Resümee lässt sich anfügen: Aufklärung und Religionskritik haben die Existenz der Religionen und ihre dynamischen Bewegungen und ihre Ausbreitung nicht zum Erliegen gebracht. Und gerade heute lässt sich die erstaunliche Macht von Religionen in aller Welt beobachten. Hierzu trägt bei, dass aufgeklärtes Denken in der früher so genannten Dritten Welt meist unbekannt ist oder auch weithin als postkolonialer oder antireligiöser Angriff abgelehnt wird.
Können auch wir darüber hinweggehen? Diese Tendenzen gibt es durchaus in fundamentalistischen Strömungen in allen Konfessionen, aber auch in durchaus rational geprägten Gruppen und Milieus hierzulande; ein Beispiel mögen die Jesusbücher von Papste Benedikt XVI. / Joseph Ratzinger sein, die hinter die maßvolle Rezeption der Aufklärung in der Theologie zurückfallen und diese sogar ablehnen.
Nur scheint dies nicht zukunftsträchtig zu sein. Gegen Erkenntnisse, die auf einem intensiven Quellenstudium beruhen und somit auch immer neu nachprüfbar sind, hilft nicht die fromme Emotion, und es steht zu erwarten, dass sich die entsprechenden Erkenntnisse mit der Zeit auch in der breiten Bevölkerung und sogar in der Dritten Welt verbreiten. Deshalb ist es wichtig, den religiösen Glauben so zu begründen, dass er nicht bloß auf Behauptungen beruht. Die Ergebnisse historisch-kritischer Erforschung der Bibel und der Theologiegeschichte und auch naturwissenschaftliche Erkenntnisse können nicht beiseite geschoben werden.
Vor allem aber müsste eine grundsätzliche Auseinandersetzung (und Rezeption?) der religionskritischen Beobachtungen, wie sie – von zeitgeschichtlichen Begrenztheiten abgesehen – schon Ludwig Feuerbach formuliert hat, erfolgen. Wäre der Mensch kein Mängelwesen, das seine Defizite existenziell und rational immer wieder erfährt, gäbe es keine Religion, auch kein Christentum. Banal gesagt: Würden wir leben wie (angeblich) „glückliche Kühe“, hätten wir keine Probleme. Da es aber anders ist und wir unser Leben als – in sich selbst - defizitär und sinnoffen erfahren, gehört die sogn. Sinnfrage (in allen ihren Detailaspekten und Konkretionen) zu unserer Existenz dazu. Wir können gar nicht anders, als uns nach Sinnhaftigkeit, Glück und Positivität ausstrecken, letztlich auf einen umfassenden Sinn – Gott. Insofern ist der Satz Feuerbachs, dass Theologie bzw. Religion Anthropologie sei, grundlegend richtig, und so ist er auch schon von Karl Rahner aufgegriffen worden.
Die menschliche Sinnfrage ist die Wurzel aller Religion. Auf Grund der kulturellen und entwicklungsmäßigen Vielfalt der Menschheit wird diese Frage bzw. werden diese Fragen sehr unterschiedlich und anhand aller möglichen Gegenstände erfahren. Ebenso unterschiedlich werden sie dann auch „beantwortet“, in Theorie, Ethik, Kult, Institutionenbildung usw. Wenn man so will, projizieren wir das, was wir für richtig und erhoffenswert halten, auf Gott. Die jeweiligen Religionen repräsentieren also die vielfältigen Probleme und auch Lösungsansätze. Sie sind Produkte menschlicher Sinnsuche. Wenn sie in bestimmten Kontexten als human „richtig“ und hilfreich erfahren werden, können ihre Traditionen wie „göttliche“, wie sinnvolle Offenbarungen angenommen und gelebt werden. Dieser Begründung aller Religion „von unten“, vom Menschen her, kann sich auch das Christentum nicht verschließen.
Wer ungebrochen in einer religiösen Tradition lebt, wird ihre Sinnangebote
als „wahr“ erfahren, als göttliche Wahrheit
oder Offenbarung. Wenn der interreligiöse Dialog auf diesen Aspekt verengt
wird, stehen viele (absolute) Wahrheitsansprüche nebeneinander. Über
diese lässt sich nicht sinnvoll diskutieren. Wenn man aber die religiösen
Konzepte als anthropologisch begründete Versuche sieht, die menschliche
Sinnfrage zu „beantworten“, lässt sich durchaus „sachbezogen“
darüber sprechen, welche Angebote human angemessener sind. Aber auch dies
lässt sich – bei der Verschiedenheit der kulturell geprägten
Ausgangserfahrungen – nicht für alle zwingend deutlich machen. So
bleibt als grundlegender Vermittlungsmechanismus immer noch, wie schon die Tradition
sagt, die Verkündigung, d.h. das persönlich engagierte Zeugnis.
Sagen Sie uns Ihre Meinung zu diesem Artikel!
Bitte füllen Sie die folgenden Felder aus, drücken Sie auf den Knopf "Abschicken" und
schon hat uns Ihre Post erreicht.