Johannes Thomas
Was heißt „muslimisches Spanien“? (IV)
Beispiele für die Notwendigkeit einer Entmythologisierung und die Möglichkeiten einer Neudeutung

Die Geschichte Spaniens, vor allem die islamischen Eroberungen, die nachfolgenden Reichbildungen und das Zusammenleben der drei monotheistischen Religionen (convivenzia) werden meist ohne kritische Quellenuntersuchung recht mythologisch und idealisiert dargestellt. Prof. Thomas geht den damaligen Ereignissen und Zusammenhängen, z.B. der Idealisierung der Bedingungen für die Philosophie, nach und analysiert sie. In den weiteren Folgen legte er die Informationen vor, die das traditionelle Verständnis der Mezquita in Cordoba als ursprünglichen Moscheebau in Frage stellen sowie Analysen zur angeblichen Stammesstruktur, zu Bewässerungsmethoden und zu den frühen religiösen Verhältnissen, die der Auffassung von einer „islamischen“ Eroberung und Herrschaft widersprechen.

Neben ibaditischen und kharidjitischen Traditionen spielten auch mutazilitische Überzeugungen eine große Rolle. Die Mutaziliten gelten traditionell als eine Bewegung, welche die griechische Philosophie mit dem Islam versöhnen wollte und nach heutigen Maßstäben rationalistisches Denken durchzusetzen versuchte. Das zeigte sich nicht zuletzt darin, dass sie den Koran als ein für eine bestimmte Zeit und ein bestimmtes Volk herab gesandtes Buch ansahen, das deswegen zu anderen Zeiten und von anderen Völkern jeweils auf deren je eigene Art zu interpretieren sei. Daraus wiederum folgte auch die Verwerfung der herausgehobenen Rolle eines Propheten der Araber als letzter in der Reihe der Propheten. Vielmehr musste es zu jeder Zeit und für jede Region jeweils neue Propheten geben. Wer der mohammedanischen Lehre folgte, beachtete danach also nur die oberflächliche Seite der Schrift, deren überzeitlicher, verborgener Sinn jeweils neu zu erschließen sei.

Die Mutazila soll zwar als Staatsreligion letzten Endes von den Bagdader Abbasiden-Herrschern zunächst eingeführt worden sein, habe sich dann aber nicht durchgesetzt. In Wirklichkeit aber stellte sie gar nicht, wie heutige Islamgeschichtler im Gefolge der arabisch-islamischen Tradition immer noch meinen, ein theologisch systematisiertes und von anderen Denkrichtungen klar abgegrenztes System dar, sondern bildete vielmehr mit anderen Richtungen wie den verschiedenen Strömungen der Kharidjiten und auch der Ibaditen eine synkretistische religiös-philosophische Bewegung, der man wegen ihrer mangelnden Definiertheit leicht alle möglichen Gegner und eben auch die Berber zurechnen konnte. Im Grunde galten die Berber schon deswegen als Kharidjiten und Ibaditen, weil sie generell zur Unbotmäßigkeit neigten, als Mutaziliten aber, weil sie die orthodoxe Dogmatik der Araber ablehnten.

Welcher Islam kam also nach Spanien? Nach Maßgabe unseres Wissens über die berberischen Stämme mit ihren christlich-jüdisch-islamisch-synkretistischen Traditionen oder auch nach dem Zeugnis des Gnostikers Ibn Masarra nicht mehrheitlich ein Islam, wie man ihn späterhin meist interpretierte. Vielleicht sehen deshalb die lateinischen Quellen der Franken und Langobarden aus dem 8. und 9. Jahrhundert in der neuen Machtkonkurrenz, also in den Sarazenen oder Hagarenern, keine Angehörigen einer neuen Religion. Als Sarazenen und Hagarener kannte man sie schließlich seit der Antike und der Spätantike. Noch in den asturischen Erzählungen vom Ende des 9. Jahrhunderts ist von Kämpfen zwischen Christen und Muslimen an keiner Stelle die Rede. In der Chronik von Alfons III. („Rotense“) wird eine religiöse Differenz nur insoweit angesprochen, als es an einer Stelle heißt, dass Muzza vom Klan der in Córdoba so genannten „Beni Qasi“, der eine Zeitlang erfolgreich gegen die Zentralherrschaft in Córdoba gekämpft hatte, der „Nation“ nach ein Gote, aber vom „ritu Mamentiano“ gewesen sei, ganz so, als handele es sich bei diesem „ritu“ um einen von mehreren möglichen christlichen Riten, nicht aber um eine ganz andere Religion. Die Zugehörigkeit zu diesem Ritus wird im Übrigen mit keinem Wort weiter thematisiert oder gar kritisiert[1]. Und der König von Asturias hat offenbar auch keinerlei Bedenken, seinen Sohn Ordonius zur Ausbildung an den Hof der Beni Qasi zu schicken.[2]

Überlegungen zu den religiösen Überzeugungen der Sarazenen finden sich an keiner Stelle, auch nicht in der Crónica mozárabe 754. Zwar nennt der Verfasser die Einwohner Spaniens „christiani“, aber damit ist keine Zuschreibung zu einer Religion gemeint. Dass mit dem Hinweis auf die „christiani“ keine Anhänger einer bestimmten christlichen Religion gemeint sind, erhellt im Übrigen schon aus der Tatsache, dass die christlichen Franken nicht als Christen, sondern nur als „franchi“
oder „europenses“ angesprochen werden, und wenn sie von Gallien aus „Hispania“ bedrohen, werden sie von der lateinischen Chronik als Feinde gesehen, nicht als christliche Brüder. Der Chronist scheint im Übrigen in den Arabern oder Sarazenen trotz seiner allerdings nur an einer Stelle vorgetragenen und aufgesetzt wirkenden Klage über deren Gräueltaten und über die von ihnen verursachten Verwüstungen eben die Volksgruppe zu sehen, die nach den „christiani“ nun ihrerseits die Herrschaft verdienen und die Tradition des Westgotenreichs fortführen. So teilt er nicht nur ihre Verachtung für die zahlenmäßig stärkere Gruppe der „mauri“, also der nordafrikanischen Berber, er kritisiert auch solche muslimischen Gouverneure, die den „christiani“ das ihnen bei der Eroberung geraubte Hab und Gut restituieren und damit neben den Berbern auch die Araber verärgern und Unruhe im Land provozieren. Die Chronik hebt eben in der Tradition der spätrömischen Geschichtsschreibung etwa des Isidor von Sevilla, seiner spätrömischen Vorbilder und seiner Nachfolger wie Johannes Biclarus, auf die Bedeutung des Reichs ab, nicht auf konfessionelle oder auch ethnische Besonderheiten. Ihr Autor wundert sich wohl daher auch nicht, dass Musa, der Gouverneur von Nordafrika, bei seinem Zug nach Spanien von einem General „katholischen Glaubens“ begleitet wird und bei der Eroberung von Toledo ein Bischof namens Oppa aus der Familie des früheren Westgotenkönigs Egica tatkräftig mithilft.[3]

Als weitere Indikatoren der religiösen Orientierung der Eroberer von 711 sind die Münzen zu betrachten[4]. Ohne auf numismatische Detailfragen einzugehen, soll an dieser Stelle lediglich die religiöse Bedeutung der Münzinschriften betrachtet werden.

Auf den Golddinaren, die von 711 bis 715 ihrer Größe, ihrer Form und ihrem Gewicht nach exakt nach dem Vorbild der zuletzt von Byzanz in Karthago hergestellten Goldmünzen geprägt werden, gibt es lediglich lateinische Inschriften. Als Ort der Prägung ist „Spania“, nicht etwa al-Andalus genannt. Als Datum der Prägung wird das jeweilige byzantinische Steuerjahr angegeben. Die religiösen Formeln der Inschriften enthalten alle ein ausdrücklich monotheistisches Bekenntnis: „Im Namen des Herren, (es gibt) kein(en) Gott außer Gott allein“, oder: „außer unserem Gott allein“, oder: „außer Gott allein, kein anderer Gott“, oder „außer Gott allein, kein Beigeseller“, oder: „außer Gott allein, dem barmherzigen“, oder: „außer Gott ist ähnlich“ („similis“). Statt des religiösen Staatssymbols des Omaiyyadenherrschers ’Abd al-Malik, dem Pfahl, dem Pfahl mit Kugel auf der Spitze oder dem „T“, sieht man hier regelmäßig einen meist achtstrahligen Stern. Er hat keinerlei religiöse Bedeutung im Islam, sondern verweist auf alte punisch-mauretanische Prägungen des 2. und 3. Jahrhunderts vor Christus.

Auf den Halb- und den ein Drittel-Dinaren taucht das omayyiadische Symbol jedoch regelmäßig auf der Rückseite auf (auf der Vorderseite ist weiterhin der Stern zu sehen), und zwar auf den Halb-Dinaren als Pfahl mit Kugel auf der Spitze, auf den Ein-Drittel-Dinaren als „T“. Auch diese Symbole haben keine „islamische“ Bedeutung.
Von 716-719/20 werden zweisprachige Golddinare geprägt. Als staatsreligiöses Symbol fungiert weiterhin der meist achtstrahlige Stern auf der Vorderseite.
Die Vorderseite dieser Münzen ist regelmäßig der Inschrift in lateinischer Sprache, die Rückseite einer arabischen Inschrift gewidmet. Die arabische Inschrift lautet in deutscher Übersetzung nach üblicher Lesart: „Mohammed ist der Gesandte Gottes“. Die grammatikalisch ebenfalls mögliche Lesart „Gepriesen (oder: ersehnt: muhammad(un)) sei der Gesandte Gottes“, wird heute außer von den meisten der im Saarbrücker Inârah-Institut arbeitenden Forschern nicht vertreten, obwohl eben diese Lesart großen Orientalisten des 19. Jahrhunderts wie Sprenger oder Hartmann noch selbstverständlich war. Sie trugen eben noch nicht die durch des deutschen Kaisers Orientpläne verordneten und heute durch alle möglichen politischen wie wirtschaftlichen Interessen bedingten Scheuklappen.

Als Datum wird auf der Rückseite das jeweilige Jahr der Araber genannt. Eine „Hidschra“ eines Propheten der Araber wird dabei nicht erwähnt. Als Prägeort auf der Rückseite taucht nun erstmal al-Andalus auf. Zuvor wusste man sich auf dem Boden von „Spania“.

Die religiöse Formel in lateinischer Sprache entspricht den zuvor in Übersetzung wiedergegebenen monotheistischen Erklärungen auf den rein lateinischen Münzen.

Die monotheistischen Bekenntnisse werden in aller Regel als Übersetzungen entsprechender arabischer Bekenntnisse interpretiert. Das entspricht der auch von nahezu allen Islamwissenschaftlern übernommenen muslimischen Tradition, bei übereinstimmenden Aussagen arabischer und anderssprachiger Texte stets die arabische Version als die ursprüngliche, die anderen Versionen aber nur als Übersetzungen aus dem Arabischen anzusehen. Dabei wird übersehen, dass, wie in vielen anderen Fällen auch, die hier zu betrachtenden monotheistischen Formeln bereits in vorislamischer Zeit gang und gäbe waren. Bekanntestes Beispiel dafür sind die wohl wegen ihres Monotheismus oft als „judenchristlich“ charakterisierten monotheistischen Aussagen der pseudo-klementinischen Homilien, die in griechischer Sprache vorliegen, sowie der pseudo-klementinischen Recognitiones, die in lateinischer Sprache bekannt sind.

In den Homilien heißt es, ins Deutsche
übertragen: „Und Petrus sage (…), ,Ich lebe, sagt der Herr, und es gibt keinen anderen Gott außer mir. Ich bin der erste, ich (bin) jenseits von diesen (Dingen), außer mir ist kein Gott’“; oder: „einer ist der Gott und außer ihm ist kein Gott“.

Und in den lateinischen Recognitiones lesen wir: „Ich bin Gott und es gibt keinen Gott außer mir (…), Dein Herr und Gott ist ein einziger Gott; (…) außer ihm gibt es keinen anderen Gott“; oder: „Der Herr Dein Gott ist der einzige Gott, im Himmel oben und auf der Erde unten, und außer ihm selbst gibt es keinen anderen…“; oder: „Höre Israel, der Herr dein Gott ist einer. (…) Wer ist dir ähnlich unter den Göttern, oh Herr, wer ist dir ähnlich?“. Ganz ähnliche Formulierungen finden sich auch in syrischen Heiligenakten des 4. Jahrhunderts.[5]

Eine solche Anknüpfung der arabischen an griechisch-lateinische Traditionen scheint für die arabische Inschrift auf der Rückseite mit dem Mohammed-Motto nicht gegeben zu sein. Es findet sich jedenfalls, anders als für das monotheistische Bekenntnis, für die Mohammed-Formel keine lateinische Entsprechung auf Münzen oder in anderen Inschriften. Sie entstammt daher wohl einem anderen Kulturkreis als dem der westsyrischen Christenheit. In der Tat liefert die Persis den ersten datierbaren Beleg für die prophetologische Formel „(muhamad/un) – Gepriesen sei (oder: ersehnt ist) der Gesandte Gottes“. Sie findet sich auf einer arabo-sassanidischen Münze des Jahres 685/6 aus Bishapur. Auch auf einer arabo-sassanidischen Münze, die 689/90 in Kirman geprägt wurde, liest man die Mohammed-Formel am Rande des Avers der Münze, in deren Mitte die entsprechende persische Formel zu lesen ist: „MHMT PTGAMI Y DAT“ (Gepriesen sei das Wort von Gott). Etwa zwei Jahre später taucht sie dann im Felsendom auf, wo es heißt: „Gepriesen sei (Jesus, Sohn der Maria, von dem es zuvor heißt, er sei Gottes Gesandter und sein Wort) der Knecht Gottes und sein Gesandter.“

Diese von Volker Popp und Christoph Luxenberg vorgeschlagene Lesart scheint uns die einzig plausible zu sein. Denn es ist an dieser Stelle im Felsendom weder im vorhergehenden, noch im nachfolgenden Text von einer anderen Person als von Jesus, Sohn der Maria, die Rede. Auch richtet sich die Inschrift ausdrücklich an das „Volk des Buches“, gemeint sind offensichtlich Christen, die nicht „drei“ sagen, also nicht dem byzantinischen Trinitätsglauben folgen, sondern von Jesus nur das Richtige denken sollten, dass er nämlich Wort und Geist von Gott sei, das er in Maria hinein gegeben habe, aber nicht Gottes Sohn, sondern sein Gesandter. Gleichwohl wurde Popps und Luxenbergs Interpretation von Arabisten und Religionswissenschaftlern immer wieder verworfen, zuletzt von F. E. Dobberahn.

Dazu bemüht Dobberahn ebenso wie seine Vorgänger die arabische Grammatik und die angesehensten Kenner der grammatikalischen Regeln wie Brockelmann, Fischer, Rechendorf oder Wright. Danach habe Luxenberg es versäumt, „den Bruch der syntaktischen Grundregel des Arabischen, dass im Nominalsatz ,A ist B’ das prädikative Adjektiv / Prädikatsnomen (das im Lateinischen syntaktisch auch ein Gerundivum sein kann) im status indeterminatus des Nominativs nachsteht“. Nur dann, wenn „,muhammadun’ am Ende des Nominalsatzes“ stünde, „wäre es als Satzglied ein indeterminiertes Prädikatsnomen und kein Eigenname; man wäre dann gezwungen zu übersetzen: ,Der Knecht Gottes und sein Gesandter (ist) ein Gepriesener/gepriesen.“[6] Nur im „artifiziellen ,Übersetzungsarabischen’ des NTs“ und „mit der christlich-arabischen Liturgie im Ohr“ könne muhammadun vorangestellt werden. „Auf ein Übersetzungsarabisch deutet in der Felsendom-Inschrift allerdings nichts hin“.

Wenn aber für Herrn Dobberahn schon nichts auf ein Übersetzungsarabisch hindeutet, obwohl Christoph Luxenberg ja reichlich Material für die Annahme aramäischer Texte als Vorlagen des Korans geliefert hat, so hätte ihn ein Blick auf das seit langem vorliegende und von gänzlich unverdächtigen Numismatikern aufgearbeitete Münzmaterial lehren können, dass die von Luxenberg angenommene Voranstellung des muhammad(un) keine völlig aus der Luft gegriffene oder einem Bemühen um die „Verchristlichung“ des frühen Islam geschuldete „unarabische“ (weil gegen eine Grundregel verstoßende) Lesart darstellt. Denn eben diese Voranstellung findet sich auch auf omaiyadischen Münzen, und zwar als Prädikatsnomen zu Allah. Hier kann es also auf gar keinen Fall ein Eigenname sein. John Walker listet zwei omaiyadische Kupfermünzen mit dem Prägeort Sarmin (Khuzistan) auf, welche die Inschrift „mhmd allah“ tragen[7]:

Belege für diesen Typus auf der Rückseite von Kupfermünzen finden sich auch im Westen des arabischen Reiches, allerdings hier mit dem Prädikatsnomen „achmad“.[8]
Die Inschriften der Münzen aus Spanien und aus al-Andalus stehen also in zwei voneinander abgegrenzten, aber doch gemeinsam vertretenen theologischen Traditionen, einer westsyrisch-mittelmeerischen-monotheistischen Tradition und daneben einer iranischen christologisch-prophetologischen. Da letztere im Westen unbekannt war, verkündete man sie nur in arabischer Sprache, während man für die monotheistische Position ja auch im Westen über reichlich Anknüpfungspunkte verfügte. Auch deshalb und vielleicht nicht nur, um sich das Erbe ihrer Vorfahren zu sichern, konnten sich westgotische Territorialherren ohne Bedenken mit den Sarazenen verbünden. Wenn sie König Rudericus als Usurpator bekämpften und/oder vielleicht auch noch dem alten arianischen Glauben verhaftet geblieben waren, wonach Jesus nicht im gleichen Sinne als göttlich zu gelten hatte wie sein Vater, mussten sie jedenfalls keine ideologisch bedingten Berührungsängste gegenüber den Sarazenen hegen. Strenge Monotheisten waren sie ja auch selbst.

Das Nebeneinander der beiden staatsreligiösen Erklärungen, des monotheistischen lateinischen Bekenntnisses und der arabischen Mohammed-Formel, ist im frühen Islam nichts Verwunderliches. Er zeichnete sich geradezu durch ein gelebtes, einträchtiges Nebeneinander aus, das dem römischen „concordia“-Prinzip verwandt zu sein scheint. Als Beispiele aus omaiyadischer Zeit seien erwähnt etwa die arabo-sassanidischen Münzen, die neben einem Bild des vorislamischen Perserkönigs Khosrau II das Heterogramm „MHMD“ führen, vor allem aber die frühen Bauwerke. Der Felsendom zu Jerusalem, zu dessen Inschrift im Oktogon bereits oben einige Hinweise gegeben wurden, und der als erstes islamisches Heiligtum verehrt wird, orientiert sich architektonisch an der Anastasis-Rotunde der Jerusalemer Grabeskirche sowie an San Vitale in Ravenna. Im Inneren greift die Verteilung der Pfeiler und Säulen das Muster der iranischen Feuertempel auf. Die Innendekoration durch Mosaike zeigt in erster Linie byzantinisch-hellenistische und in zweiter Linie auch persische Motive. Ein noch bunteres Nebeneinander verschiedener kultureller und auch religiöser Traditionen zeigen die omaiyadischen Wüstenpaläste aus der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts. In Qusayr Amra etwa sind Fresken und Skulpturen ganz in der hellenistischen Tradition zu bewundern. Sie zeigen Weinreben, Weintrinker, Tänzer, Jagdszenen, nackte Frauen im Bad oder Musikanten mit persischen Instrumenten, im Hauptsaal überdies eine Herrschergestalt, die als „Christus pantokrator“ zu deuten ist. Diese Tradition des Nebeneinander hört nach den Omaiyaden nicht gleich auf. Noch Ende des 8., Anfang des 9. Jahrhunderts sind in der von den Abbasiden erbauten Residenzstadt Samarra neben einem heute als spiralförmigen Minarett missverstandenen, auf die babylonischen Sterndeuter verweisenden Zikkurat ebenfalls Bilder von Tänzern, Trinkern, oder auch von spärlich bekleideten Frauen hellenistischer Machart zu bewundern, die allerdings nun eine deutlich iranische Prägung aufweisen. Das ist insofern nicht erstaunlich, als Khalif Amîn dafür berühmt war, in seinem Palast Darstellungen von allen Zeugnissen der glanzvollen vorislamischen, sassanidischen Epoche zu zeigen.

Für ein derart buntes Nebeneinander haben wir in al-Andalus zwar keine Belege, aber das unverbundene Nebeneinander einer streng monotheistischen Gottesdeutung und eines „Muhammedanismus“, der irgendwann seinen Ursprung in der Jesus-Verehrung vergisst und sich zur Verehrung eines Propheten Mohammed wandelt, ist ein die Kultur von al-Andalus noch lange prägendes Thema. Die Mohammed-Formel selbst taucht in al-Andalus, abgesehen von den Münzen, erst in einer Inschrift vom Ende des 9. Jahrhunderts auf. Bei Ibn Masarra wird ein Prophet Mohammed, jedenfalls in den bisher bekannten Texten, gar nicht erwähnt. Als neuplonisch-neupythagoreischer Gnostiker konnte Ibn Masarra ihn auch gar nicht als Siegel der Propheten im Sinne der Traditionsliteratur gesehen haben, also als den letzten Träger einer definitiven Offenbarung. Ihm und seinen Schülern wurde denn auch nachgesagt, sie hätten den Koran nicht für ewig, sondern für einen Text gehalten, der offen war für immer neue Interpretationen. Jede Epoche, jede Generation sollte so ihre je eigene Korandeutung entwickeln unter Anleitung eines geistlichen Führers oder Propheten. Darin war der Masarrismus den Mutaziliten verwandt, die damals in al-Andalus ebenfalls über viele Anhänger verfügten.

Dass Gott immer wieder neue Propheten schickt, ist im Übrigen ebenso aus dem Alten Testament bekannt wie aus dem iranischen Mazdaismus. Im Neuen Testament tröstet Jesus seine Jünger mit dem Versprechen, dass ihnen der Paraklet geschickt werde, der ihnen alles erklären werde, was er ihnen noch nicht habe erklären können. Auch für die Schia hat seit frühester Zeit die Überzeugung gegolten, dass Gott die Menschheit nach dem Tod Mohammeds nicht ohne Führung lassen könne. Das galt umso mehr, je mehr man unter dem Einfluss der griechischen Philosophie die absolute Transzendenz Gottes betonte, der seinen Willen den Menschen nur vermittelt durch verschiedene Personen[9]. Dass es nach einem Propheten Mohammed keinen weiteren sollte geben können, war aus dieser Perspektive völlig undenkbar.

Jeweils unterschiedlich akzentuierte Mischgebilde von masarritisch-mutazilitisch-kharidjitisch-asketisch-schiitischen, also von nicht-sunnitischen Strömungen sind mindestens bis weit in das 11. Jahrhundert hinein weit verbreitet. Die ersten Fatimiden, welche die auf das malikitisch-sunnitische Rechtssystem fixierten Omaiydenherrscher nicht nur politisch, sondern auch religiös als Vertreter eines gnostischen Imamismus und Mahdismus herausfordern, sind vereinzelt seit der 2. Hälfte des 8. Jahrhunderts, vermehrt dann gegen Ende des 9. Jahrhunderts belegt. Sie wurden u. a. beschuldigt, Mohammed die Gabe der Prophetie überhaupt abgesprochen zu haben. Bis zu ihrem Untergang durch Saladin im 12. Jahrhundert bilden sie ein Kalifat in Kairo, das bisweilen mächtiger zu sein scheint als das in Bagdad. Auch in al-Andalus tauchen sie immer wieder auf und scheinen eine ständige Versuchung gewesen zu sein, vor allem, wie es scheint, für Berber. Nahe mit ihnen verwandt waren die ebenfalls gnostisch-schiitischen Ismaeliten. Die berühmte Enzyklopädie in Briefform der ismaelitischen „Brüder der Reinheit“ war in al-Andalus so bekannt, dass in Gedichten auf sie angespielt wurde. Ein derart breite Tradition konnte den Bestrebungen der Sunniten, den Glauben an einen Propheten Mohammed als letzten Propheten, also als definitiven Ausdruck von Gottes Willen zur einzig rechtgläubige Lehre durchzusetzen, daher noch eine ganze Weile trotzen. So erklärt etwa der letzte Ziri-König von Granada, ?Abd Allah, als er nach seiner Ablösung durch die streng sunnitischen Almoraviden 1090 im marokkanischen Exil seine Regierungszeit in einer größeren Schrift rechtfertigte, er wisse, dass die Sunniten davon ausgingen, dass Mohammed der letzte Prophet gewesen sei, aber es habe doch auch nach Moses noch weitere Propheten gegeben, und das müsse ja auch so sein, denn keine Nation könne ohne einen Gesandten Gottes sein. Jeder werde ein Apostel geschickt. Damit entsprach er einem breiten Konsens nicht-sunnitischer Auffassungen vom Prophetentum.

Die Almoraviden konnten im Übrigen ihre streng sunnitische Position nicht für lange Zeit in Nordafrika und al-Andalus durchsetzen. 1148 wurden sie in al-Andalus durch die Almohaden besiegt, die gegen die sunnitische Fixierung auf die überlieferten Regeln des malikitischen Rechts allein die Bedeutung des Glaubens an den einen und einzigen Gott ganz in den Vordergrund stellten. Sie knüpften also wieder an die schon vorislamisch weit verbreitete Tradition eines strengen Monotheismus an. Damit konnten auch Christen etwas anfangen. Der Metropolit von Toledo, Rodrigo Jiménez de Rada, ließ die Schriften des als „mahdi“ auftretenden Begründers dieser „Eingottgläubigen“-Bewegung, Ibn Tûmart, ins Lateinische übersetzen. Der übersetzende Domherr, Petrus von Toledo, zeigte sich überaus beeindruckt von der rational und in keiner Weise islamisch-traditionalistisch geprägten Darlegung der Einheit Gottes bei Ibn Tûmart. Ibn Tûmart lehnte, gegen den traditionellen Islam gewandt, in Übereinstimmung mit den Mutaziliten die Anthropomorphisierung der Attribute Gottes entschieden ab.

Dieses Selbstverständnis eines Islams als streng monotheistische Religion, die neben der immer stärker sunnitisch geprägten Verehrung eines letzten Propheten offenbar noch im 12. Jahrhundert überaus lebendig ist, bezeugt, dass die Islamisierung von al-Andalus nicht einem einheitlichen, die Prophetenrolle Mohammeds in den Vordergrund stellenden Konzept folgte, sondern in unterschiedlicher Weise Akzente setzen konnte. Dass die unterschiedliche Akzentsetzung auch Konsequenzen für das Zusammenleben der Menschen unterschiedlicher religiöser Orientierung gehabt hat, belegen die kurz angesprochenen Beispiele. Auch aus diesem Grund sind solche Differenzierungen des Phänomens „Islam“ gegenüber der gängigen Rede von „dem“ Islam, der üblicherweise, aber unkorrekterweise mit einem als unveränderlich gedachten sunnitischen Islam gleichgesetzt wird, nicht trivial, sondern notwendig.

(Schluss)


© imprimatur Mai 2013
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[1]Crónicas asturianas. Crónica de Alfonso III (Rotense y „A Sebastian). Crónica Albeldense (y “Profética”). Introd. y edición crítica de Juan Gil Fernandez, Oviedo 1985, 144.
[2]Ibid. (“Albeldense”), 178.
[3]In dieser Charakterisierung der Quelle stimme ich mit Ann Christys überein: The Transformation of Hispania after 711, in: Walter Pohl (with the collaboration of Sören Kaschke) (Hg.), The Relationship between Late Antique and Early Medieval Peoples and Kingdoms in the Transformation of the Roman World, Leiden / Boston 2003, 219-241.
[4]Vgl. u. a. Anna M. Balaguer Prunes, Las emisiones transicionales árabe-musulmanas de Hispania, Barcelona 1976; George Miles, The Coinage of the Umayyads of Spain, vol. I / II, New York 1950; John Walker, A Catalogue of the Arab-Byzantine and Post-Reform Umaiyad Coins, London 1956; ferner die entsprechenden Erläuterungen von Volker Popp in den bisher erschienenen Inârah-Bänden.
[5]Hierzu und zum Folgenden vgl. Volker Popp, insbesondere den Beitrag: Theologische Umbrüche im Islam. Das Zeugnis der epigraphischen Tradition, in: Markus Groß / Karl-Heinz Ohlig (Hg.), Die Entstehung einer Weltreligion I, op. cit., 92-106.
[6]Friedrich Erich Dobberahn, op. cit., 26-28.
[7]John Walker, A Catalogue of the Arab-Byzantine and Post-Reform Umaiyad Coins London 1956, 37, Nr. 123; 38, Nr. 125.
[8]“The coins of North Africa and Spain, as already indicates, have certain distinctive Legends: a?mad – ‘Praise be to Allah’. This phrase occurs on coins of A?rabulus, Ifri?iya, and ?anja, as well as on the coins nos. 734 ff. without mint-name, which no doubt came from the same area.”, ibid., LXIX.
[9]Alessandro Bausani, Religion in Iran, ins Englische übesetzt von J. M. Marchesi, New York 2000, 124.