Karl-Heinz Ohlig
Wider die Mythen
Zu den Zäsuren der Papstgeschichte

Mit dem Rücktritt Benedikts XVI. von seinem Amt und der Wahl seines Nachfolgers Franziskus ist das Papsttum wieder einmal in den Mittelpunkt des medialen Interesses gerückt. Es scheint so, dass auch innerhalb der Katholischen Kirche die Mittelpunktstellung des Papsttums dadurch – trotz aller Kritik – befestigt wurde. Immer wieder kann man die gleichen Narrative hören: Jesus hat Petrus zum Leiter der Kirche eingesetzt, Petrus war Bischof von Rom und fand von Anfang an Nachfolger, so dass die Auflistung der Päpste mit Petrus beginnt und alle späteren Päpste in dieser Kontinuität stehen. So erscheint der Primat der römischen Bischöfe als eine – jedenfalls in den Augen vieler Katholiken – biblisch und historisch begründete und deswegen notwendige Einrichtung.
Die Betrachtung der Geschichte zeigt aber, dass Entstehung und Entwicklung des Papsttums anders verlaufen sind und Letzteres dabei verschiedene Zäsuren mit immer neuen Entwicklungsstufen durchlaufen hat. Die wichtigsten sollen im Folgenden kurz vorgestellt werden, ohne auf Details und differenzierte Begründungszusammenhänge einzugehen.[1]

1. Jesus selbst hat nicht die Gründung einer Kirche, sondern eine Reform Israels angestrebt. Auch nach seinem Tod verstanden sich seine Jünger als eine solche Reformgruppe innerhalb der jüdischen Religion, praktizierten die Beschneidung, hielten die Thora ein, nahmen an Synagogengottesdiensten und Tempelkult teil. Erst allmählich – und doch recht bald – realisierten sie, dass die Orientierung an Jesus diese Traditionen in Frage stellt und seine Sache für „alle“ Menschen wichtig war: es kam zur Taufe von „Heiden“. Die Trennung der neu entstehenden Kirche aus Juden und Heiden von der jüdischen Religion war ein längerer Prozess, der sich durch die ganze neutestamentliche Zeit hindurch zog.

Deswegen gibt es auch keine Einrichtung kirchlicher Ämter durch Jesus, auch nicht eines sogn. Petrusamtes. Die Ämter haben sich erst allmählich, weil sie für das Funktionieren der Gemeinden notwendig wurden, herausgebildet, zunächst in Anlehnung an die Struktur der Synagogengemeinden. Ein Bischofsamt ist erst im 2. Jahrhundert n. Chr. entstanden. Die Petrusstellen im Neuen Testament, auch das Felsenwort Mt 16,18, sind laut exegetischen Erkenntnissen nicht im Sinne einer Betrauung mit einem Leitungsamt zu verstehen, sondern im Prinzip so, wie sie auch im griechischen Christentum der Antike aufgefasst wurden: Die Kirche ist auferbaut auf dem Glauben an Jesus, wie ihn Petrus in Cäsarea Philippi bekannt hat (vgl. Mt 16,16).

In der Jerusalemer Urgemeinde hatte Petrus zunächst, vielleicht bis zum Apostelkonzil im Jahre 48 n.Chr. – danach schweigt das Neue Testament zu Petrus – eine führende Stellung, wurde dann aber vom Herrenbruder Jakobus abgelöst. Sein weiteres Schicksal ist nicht bekannt.

2. Ein Romaufenthalt des Petrus wurde in der Vergangenheit aus vagen Andeutungen erschlossen, ist aber – angesichts der Quellenlage – äußerst unwahrscheinlich bzw. nach neueren Forschungen sogar auszuschließen.[2] Zwar hat Kaiser Konstantin rund 250 Jahre nach der möglichen Lebenszeit des Petrus eine Basilika, die Vorläuferkirche des heutigen Petersdoms, an der Stelle errichten lassen, an der er das Petrusgrab vermutete. Aber archäologisch lässt sich dieses Grab, anders als frommen Pilgern gegenüber behauptet wird, nicht verifizieren.

3. Petrus, der angeblich erste Bischof von Rom, soll in der Folgezeit in den Bischöfen von Rom Nachfolger gefunden haben. Aber es dauerte noch mehr als hundert Jahre, bis ins letzte Drittel des 2. Jahrhunderts, bis die römische Gemeinde ein Bischofsamt einführte. Petrus war also nicht Bischof von Rom und es gab über lange Zeit, mehr als hundert Jahre, keine Nachfolger.[3]

4. Die römische Gemeinde und ihre Bischöfe gewannen in der Folgezeit eine gewisse überregionale Bedeutung als Gemeinde in der Hauptstadt des Römischen Reichs, als – wie man meinte – apostolische Gemeinde, gegründet von Petrus und Paulus, und als Kommunikationszentrum auf Grund der Besucher aus den Provinzen. Als Konstantin die Hauptstadt nach Konstantinopel / Byzanz verlegte, verlor Rom dieses Ansehen nicht gänzlich, trotz der Ausbildung von Patriarchaten in den östlichen Reichsteilen und auch der neuen Hauptstadt Konstantinopel; Rom blieb immer noch das alte Zentrum des Reichs. Gewisse jurisdiktionelle Möglichkeiten eines Eingreifens Roms in kirchliche Belange ergaben sich aber nur im lateinischen Westteil des Reichs, in dem Rom als einziges Patriarchat von Bedeutung war.

Bis kurz vor Ende des 4. Jahrhunderts kann von einem (noch so anfanghaften) Primat der römischen Bischöfe bzw. von einem Papsttum historisch nicht die Rede sein.

5. In der Geschichte begegnet erstmals ein Anspruch auf eine gesamtkirchliche Sonderrolle der römischen Bischöfe, mit Verweis auf Mt 16,18, im Jahre 382 bei Bischof (Papst?) Damasus I. Er lehnte damit die zuvor vom Ersten Ökumenischen Konzil von Konstantinopel im Jahre 381 aufgestellte Rangliste ab, die Rom nur einen Ehrenprimat, Byzanz den zweiten Platz zuerkannt hatte und also – wenn man so will – „politisch“ argumentierte (die alte und die neue Hauptstadt).

Dieser römische Anspruch auf eine gesamtkirchliche Kompetenz fand im Ostteil der Kirche, damals die Majorität der Christen, keine Zustimmung, und auch im Westen sah es nicht viel besser aus. Immerhin war ein solcher Anspruch jetzt erstmals überhaupt einmal erhoben worden, und man könnte die Geschichte der Rolle der römischen Bischöfe als Päpste, wenn auch zunächst noch unwirksam, hier beginnen lassen. Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts bürgerte sich auch der Titel „Papst“ (von griechisch: pappas = Vater) als Bezeichnung der römischen Bischöfe ein.

6. Im 5. Jahrhundert konnte das weströmische Kaisertum seine Schwäche nicht mehr überwinden, was im Jahre 476 zu seinem Ende führte. In dieser Zeit traten die Bischöfe von Rom zunehmend, ersatzweise, als politischer Ordnungsfaktor auf und übernahmen Aufgaben, die vorher von den Kaisern wahrgenommen worden waren. Sie sahen sich als religiös-politische Erben der früheren imperialen Bedeutung Roms, so ganz profiliert Leo I., der Große (440-461). Sie formulierten ihren innerkirchlichen Führungsanspruch, obwohl er weithin regional begrenzt war, immer stärker mit imperialen Begriffen.

7. Diese neuen Ansprüche sind aus der Situation in Rom und in der näheren Nachbarschaft erwachsen, wurden aber der römischen Reichstradition gemäß recht „universal“ formuliert – zunächst eine Selbstüberschätzung, weil sie im Osten keine Resonanz fand und auch im Westen nur gelegentlich eine Rolle spielte. Nach dem Untergang des Weströmischen Reiches ergaben sich auch im Westen mehr landeskirchlich geprägte Organisationsformen mit eigenständiger Verwaltung. Versuche der römischen Bischöfe, die eigene Rolle verbal noch zu steigern, so vor allem durch Papst Gregor I., den Großen (590-604), brachten kaum Erfolge.

8. Eine Wende von mehr oder weniger wirkungslosen Ansprüchen zu einer realen Leitungsfunktion haben erst neue Entwicklungen gebracht, die seit dem 8. Jahrhundert eintraten. Hier sind vor allem drei Aspekte wichtig geworden: Als erstes ist die wachsende Entfremdung zur Ostkirche zu nennen; im Gefolge des Bilderstreits wuchsen die Streitigkeiten. Deswegen wandten sich die Bischöfe von Rom jetzt vor allem den Franken, also dem Westen, zu, wo sie bald die Repräsentanten „der“ Kirche wurden. Dies wurde, zweitens, verstärkt durch die Neuorganisation des abendländischen Christentums seitens der sogn. Angelsächsischen Mission. Diese war stark – anders als die vorherige, grundlegende iroschottische Mission – romorientiert, weil sich die dortige Kirche auf eine Gründung von Rom aus zurückführte. Vor allem der wichtigste dieser Missionare, Bonifatius (gest.754), versuchte, die fränkische Kirche an Rom zu binden. Gegen Ende des 8. Jahrhunderts wurde die bisherige muttersprachliche fränkische Liturgie durch den römischen Ritus ersetzt; die westliche Kirche wurde zunehmend eine lateinische Kirche. Diese Tendenzen wurden, drittens, durch die Politik der Karolinger etabliert: Pippin, der Vater Karls des Großen, hatte den letzen Merowingerkönig gestürzt und ließ sich danach von Papst Zacharias im Jahr 751 zum König weihen, um seine fehlende Legitimität sakral zu sichern. Sein Sohn Karl wurde im Jahr 800 vom Papst in Rom zum ersten westlichen („römischen“) Kaiser gekrönt.

Von dieser Zeit an wurden die Päpste – in Konkurrenz und in Streitigkeiten mit den Kaisern – zu Leitern der abendländischen Christenheit. Der sich damals bildende Kirchenstaat bot ihnen – trotz aller Kollateralschäden für Ethik und frommes Leben – die Möglichkeit, von staatlichen Instanzen weithin unabhängig zu sein.

9. Im weiteren Mittelalter konnten die Päpste ihre Stellung noch befestigen und ausbauen. Die formelle Trennung von der Ostkirche im Jahre 1054 beendete endgültig den Blick auf alternative und altehrwürdige Organisationsformen des Christentums; „Kirche“ war jetzt die lateinische Kirche in Verbindung mit dem Papst in Rom. Trotz vieler Verwerfungen, z.B. durch das Exil der Päpste in Avignon (1309-1377) oder das auf dem Konzil von Konstanz im Jahre 1415 beendete sogn. Abendländische Schisma, wurden der kuriale Zentralimus und die Eingriffsmöglichkeiten der Päpste in der ganzen lateinischen Kirche verstärkt. Allerdings wurden diese Kompetenzen vor allem juridisch aufgefasst und bezogen sich nicht – oder nur indirekt und am Rande – auf eine Lehrkompetenz („Unfehlbarkeit“).

10. Die theologische Bestreitung des päpstlichen Primats durch die Reformation führte in der sich jetzt bildenden neuzeitlichen katholischen Konfession im Gegenzug dazu, den Primat des Papstes als Element des theologischen Bekenntnisses aufzufassen. Zwar waren die landeskirchlichen und
episkopalistischen Traditionen noch zu stark, um diesen Primat theologisch zu definieren; das Konzil von Trient klammerte diese Frage aus. Aber fortan galt als Katholik, wer den Papst in Rom anerkannte.

11. Die landeskirchlichen Traditionen blieben auch in der Folgezeit sehr stark; Gallikanismus, Episkopalismus, Febronianismus und Josephinismus verhinderten, dass der Einfluss Roms sich wirklich durchsetzen konnte. Dies änderte sich im Gefolge der Französischen Revolution und der Aktivitäten Napoleons: Die selbstbewussten und starken Landeskirchen wurden zerschlagen. Die bedrängten Kirchen in Europa suchten Halt und Schutz beim Papst in Rom. So kam es im 19. Jahrhundert zu einer gänzlich neuen, bisher nicht denkbaren Ausweitung der päpstlichen Macht innerhalb der Kirche, eine Entwicklung, die schließlich auf dem Ersten Vatikanischen Konzil zur Definition des päpstlichen Universalprimats und – eine Vorstellung ohne alte Tradition – der Unfehlbarkeit kam.

Diese theologische Definition eines exzessiven päpstlichen Absolutismus konnte in der Folgezeit, bis heute, auch zu einem real praktizierten Absolutismus führen, weil die Umbrüche in Technik und Kommunikationswesen die Möglichkeiten der Zentrale, immer zeitnah informiert zu sein und entscheiden zu können, die kuriale Macht auf die Spitze trieben. Die zaghaften Versuche des Zweiten Vatikanischen Konzils, diesen Zentralismus ein wenig abzumildern, sind gründlich gescheitert.

12. Das Papsttum hat sich seit rund 400 n. Chr. entwickelt durch den Anspruch der römischen Bischöfe, Nachfolger des Petrus in seinem vermeintlichen Leitungsamt für die Kirche zu sein. Dieser Anspruch hat sich in der westlichen Kirche, also im Abendland, durch eine Reihe von geschichtlichen Zusammenhängen etablieren können und wurde im 19. Jahrhundert auf die Spitze getrieben. Immer aber war das Papstamt rückgebunden an das Bischofsamt in Rom.

Diese Rückbindung war auch im Mittelalter immer gegeben, auch wenn es einige Nicht-Italiener auf den Papstthron gebracht haben. Die kulturelle Einheit Europas war damals so stark und die Rücksichten auf die Bevölkerung so schwach ausgeprägt, dass im Grunde jeder aus der lateinischen Elite überall Bischof werden konnte; so auch in Rom.

Mittlerweile aber hat sich die Katholische Kirche weltweit etabliert – nur noch ein Viertel der Katholiken sind Europäer –. Das führt dazu, dass die weltweite Leitungsfunktion des Papstes mehr und mehr das römische Bischofsamt überlagert. Zwar bleibt es bis heute an dieses gebunden: ein neu gewählter Papst ist eben auch zugleich Bischof von Rom, nicht mehr aber wird ein Bischof von Rom gewählt, der zugleich auch weltweite Funktionen hat.

Diese Verselbständigung des Papstamtes wurde schon durch die Wahl der letzten beiden Päpste, eines Polen und eines Deutschen, eingeleitet, die nebenher – traditionsgemäß – auch Bischöfe von Rom waren. Mit der Wahl des jetzigen Papstes Franziskus ist erstmals ein Mann aus einem anderen Kontinent zum Leiter der Kirche geworden. Somit ist der Lage Rechnung getragen worden, dass die Kirche eine globale Größe ist.[4] Und es steht zu erwarten, dass auch zukünftig Kandidaten aus allen möglichen Erdteilen zum Papst gewählt werden. Das globalisierte Papstamt aber hat nur noch aus Gründen der Tradition etwas mit dem Bischofsamt in Rom zu tun. Wenn es den Römern oder auch – weiter gefasst – den Italienern um die Leitung ihres Bistums ginge und sie die Wahl hätten, würden sie wohl ganz anders entscheiden.
Diese neue Stufe in der Entwicklung des Papsttums wurde, wenn man so will, auf schonende Weise eingeleitet: Der neue Papst kommt aus Lateinamerika, das noch sehr stark von der europäischen Kultur geprägt ist, vor allem in Argentinien. Er ist spanischer Muttersprachler und beherrscht zugleich, auf Grund seiner familiären Herkunft, auch das Italienische. Und soweit ich das sehe, redet er erfreulicherweise von sich nicht so sehr als Papst, sondern als Bischof von Rom. Aber das kann nicht darüber hinweg täuschen, dass von jetzt an das Papstamt ein globales Amt ist und sich auch in dieser Richtung weiterentwickeln wird. Die Bindung an das Bischofssein in Rom wird noch stärker zurücktreten bzw. bloß noch formal aufrechterhalten. Das Papstamt hat nach allen bisherigen Zäsuren und Veränderungen wiederum eine neue qualitative Stufe erreicht.

Diese Anpassung an die neue weltweite Situation der Katholischen Kirche war wohl zwangsläufig und ist unumkehrbar. Welche Folgen sie hat, lässt sich noch nicht absehen. Der bisherige römische Zentralismus, der vor allem europäisch geprägt war, scheint nur funktioniert zu haben, weil viele Großregionen in anderen Kontinenten und erst recht die dortigen katholischen Kirchen immer noch weithin von der Westlichen Welt dominiert werden. Ob dies so bleiben wird, wenn ein Inder, Chinese oder Schwarzafrikaner zum Papst gewählt wird, lässt sich noch nicht einschätzen. Es sieht so aus, als könne das globale Papstamt nur noch dann die „Weltkirche“ repräsentieren, wenn es den kontinentalen Kirchen größere Freiräume lässt, ihr Christsein auf ihre Weise zu realisieren – vielleicht werden dann die Europäer die ersten sein, die das für sich beanspruchen. Vielleicht führt also gerade die globale Ausweitung des Papstamtes zu einer Rücknahme der bisher exzessiven Machtbefugnisse.


© imprimatur Juli 2013
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[1]Zur genaueren Schilderung und Begründung vgl. vom Verf. ‚Braucht die Kirche einen Papst? Umfang und Grenzen des päpstlichen Primats’ (Topos-Taschenbücher, Bd. 10), Düsseldorf 1973.
[2]Vgl. hierzu Otto Zwierlein, Petrus in Rom. Die literarischen Zeugnisse. Mit einer kritischen Edition der Martyrien des Petrus und Paulus auf neuer handschriftlicher Grundlage (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte, Bd. 96), Berlin, New York 2009 (vgl. die Rezension in: imprimatur 42, 2009, 325-327).
[3]Vgl hierzu Mario Stefan Ziegler, Successio. Die Vorsteher der stadtrömischen Christengemeinden in den ersten beiden Jahrhunderten (2006).
[4]Vgl. hierzu Christian Stoll, Abschied von Europa. Anmerkungen zur Globalisierung des Papsttums (wird in der Zeitschrift Communio publiziert).