Felix Wilfred
Zum Rücktritt Papst Benedikts XVI.

Der erste Rücktritt eines Papstes nach 600 Jahren hat Kirche und Welt überrascht. Als Gründe nannte Papst Benedikt XVI. die Gebrechen des fortgeschrittenen Alters und den Mangel an geistiger und körperlicher Spannkraft, um den Petrusdienst noch hinreichend auszuüben.

Wir Menschen haben alle dasselbe körperliche Grundgerüst; die Gesetzmäßigkeiten des Körpers und sein Rhythmus machen für niemanden eine Ausnahme. Die Erkenntnis der körperlichen Grenzen sollte uns alle weise machen und uns zur Einsicht verhelfen, dass keiner von uns unersetzlich ist; diejenigen, die dachten, sie seien es, liegen schon im Grabe! Das ist unsere Lage als Menschen. Dies einzusehen ist besonders wichtig für alle diejenigen, die in der Kirche oder in der Welt Machtpositionen innehaben. Die Sache, der der Pontifex Maximus diente – die Sache der Kirche und des Gottesreichs – ist größer als seine Person. Die Feierlichkeit und die Fallstricke, die die Ausübung der höchsten Macht und Autorität in der Kirche umgeben, könnten dazu führen, dass der Geist der Demut und des Dienstes, den Jesus seinen Jüngern auferlegt hatte, verdunkelt wird. „Wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“ (Mk 10,43f; vgl. Mt 20,25–28; Lk 22,24–27) Der revolutionäre Schritt, den Papst Benedikt tat, um sein Amt des Dienstes an der Kirche als Bischof von Rom und Papst der Gesamtkirche zu beenden, konnte darum nur Bewunderung hervorrufen, selbst bei den schärfsten Kritikern seines Pontifikats. Papst Benedikt ließ uns tatsächlich gewahr werden, dass „servus servorum Dei“ (Diener der Diener Gottes) keine leere Formel ist. Ob es hinter diesem mutigen Schritt andere Gründe gab, die mit der Zentralverwaltung der Kirche und ihrem Funktionieren zu tun haben, wissen wir nicht. Das gehört ins Reich der Mutmaßungen und Spekulationen, das wir hier nicht betreten wollen.

Der Rücktritt eines Papstes sollte indessen nicht als Ausnahme betrachtet werden. Wir würden uns wünschen, dass dies in der Zukunft eine normale Praxis wird, und zwar genau deshalb, weil es dabei um „das Wohl der Kirche“ geht, wie Benedikt anführte. Der Rücktritt ist ein Wagnis, das mit einer alteingeführten Tradition bricht. Seine Bedeutung ist jedoch noch viel größer, was die Art und Weise der Führung der Kirche anbelangt. Er hat, neben anderen Dingen, für viele Bischöfe und Amtsträger die Möglichkeit eröffnet, freiwillig abzutreten, wenn sie durch körperliche oder andere Umstände nicht mehr in der Lage sind, den Anforderungen und Aufgaben ihres Amtes angemessen zu begegnen. Um sicherzustellen, dass das Wohl der Kirche nicht darunter leidet, könnte dies in strukturelle Maßnahmen übersetzt werden, z.B. durch die Festlegung der Anzahl der Dienstjahre für Bischöfe und andere, auch dann, wenn sie körperlich noch fit sind. Das würde die Amtsträger in der Kirche von der Versuchung zu autoritärer und ausgedehnter Machtausübung befreien, für die die Gläubigen bislang kein Mittel der Abhilfe besitzen. Es könnte zu größerem Verantwortungsbewusstsein und zu mehr Transparenz in der Kirche und ihrer Leitung beitragen und auf diese Weise Gottes Macht in der menschlichen Schwäche bezeugen. Sollte es zu einer solchen Neuausrichtung kommen, dann könnte die Entscheidung des Papstes, sein Amt in Demut niederzulegen, als ein wahrhaft erlösender Akt für die Kirche von heute gesehen werden. „Er aber antwortete mir: Meine Gnade genügt dir; denn sie erweist ihre Kraft in der Schwachheit. Viel lieber also will ich mich meiner Schwachheit rühmen, damit die Kraft Christi auf mich herabkommt.“ (2 Kor 12,9)

Die außerordentliche Entscheidung des Pontifex ist, wie er selbst erklärte, die Frucht der Einsicht und der Prüfung seines Gewissens vor Gott. Wir würden die Entscheidung des Papstes und seine Gewissensprüfung gerne als Muster ansehen, die auf die gesamte Kirche anwendbar sind. Die Kirche selbst ist gerufen, der Menschheit zu dienen, ihre Freuden, Sorgen und Hoffnungen zu teilen (Gaudium et Spes, 1). Ob die christliche Gemeinschaft diese von Gott verliehene Aufgabe erfüllt, wäre zu klären in einem Prozess der Einsicht vor Gott. Die Prüfung des Gewissens der Kirche wird ergeben, dass es heute keinen anderen Weg gibt, ihre Aufgabe zu erfüllen, als den des Dialogs – des Dialogs mit der Welt, mit den Kulturen, den Religionen, mit anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften und insbesondere mit den Armen, die selig genannt werden und denen das Himmelreich versprochen ist (Lk 6,20). Ein solcher Dialog wird der Kirche einen Sinn für die Realität schenken und ihr die eigenen Grenzen bewusst machen; er wird sie demütig machen und sie von allen Formen des Triumphalismus befreien. Im Dienst an der Menschheit benötigt die Kirche Stärkung und Unterstützung durch die Reichtümer, die Gott über der Welt ausgegossen hat, über Kulturen, religiösen Traditionen und humanistischen Bewegungen.

Der Dialog war vielleicht nicht die stärkste Seite des Pontifikats von Benedikt, wie er es hätte sein sollen. Das führte dazu, dass zahlreiche Probleme und Fragen sich angesammelt haben und ohne Antwort geblieben sind, und so entstand eine Situation, die viele als eine Krise innerhalb der Kirche wahrnehmen. Aber bekanntlich birgt eine Krise nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance. Deshalb ist es unsere inständige Hoffnung, dass die Probleme und Fragen, die Papst Benedikt zurücklässt, mit neuen Augen und aus neuen Blickwinkeln betrachtet werden; dass durch eine Erneuerung der Kirche im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils und gemäß seinen Lehren eine neue Zeit des Dialogs und des christlichen Zeugnisses anbricht.

Ein neuer Frühling des Dialogs und des Zeugnisses ist tatsächlich das, wonach wir aufrichtig suchen. Damit dies geschehen kann, braucht die Kirche die Inspiration einer Anthropologie und Theologie der Schöpfung. Wir finden sie wunderbar umrissen in dem Dokument des II. Vaticanums über Die Kirche in der Welt von heute. Der Schlüssel für die seelsorgliche Präsenz und das Engagement der Kirche in der Welt liegt hier in der Anerkennung der menschlichen Würde, die mit der Schöpfung verliehen wurde, im Eintreten für die Gemeinschaft und Solidarität aller Menschen und in der Bejahung des menschlichen Unternehmungsgeists in der Geschichte. Die Sache der Menschheit ist nicht zu trennen von der Sache Gottes, wie sie im Geheimnis der Inkarnation zum Ausdruck kommt (Joh 1,14). „Im Glauben daran, dass es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen und Wünschen, die es zusammen mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart oder der Absicht Gottes sind.“ (Gaudium et Spes, 11) In dieser Perspektive ist die Welt nicht das Böse, gegen das die Kirche kämpfen muss; der Kampf gegen das Böse und die Dämonen von heute muss vielmehr zusammen mit allen konstruktiven Kräften in der Welt ausgetragen werden. Das Ausmaß des Bösen heute ist von solcher Art, dass die Kirche nicht in der Lage ist, sich dem ganz allein zu stellen.

Unglücklicherweise waren die letzten Jahre gekennzeichnet durch einen wachsenden Riss, wenn nicht gar einen Gegensatz zwischen Kirche und Welt, zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung. Die Welt jedoch, alles andere als ein bloßes Objekt der Lehren und Handlungen der Kirche, sollte als Partner angesehen werden bei der Erfüllung der Mission des Gottesreichs, die für das Leben und die Verkündigung Jesu so zentral war. Die Fleischwerdung Gottes in der menschlichen Geschichte mit all ihren Zweideutigkeiten und Defiziten ist eine beständige Einladung an die Kirche, sich einzubringen in das Leben der Welt – inmitten ihrer Wechselfälle, Widersprüche und Schwächen. Aus diesem Grunde ziemt es sich nicht für die Kirche, sich einen Raum abseits der Welt und ihrer Entwicklungen zu schaffen, ein Abseits, das sie isolieren würde vom Puls des Lebens und von der Wahrnehmung des mannigfaltigen Waltens des Geistes Gottes in der Welt. Isolation erzeugt Heimlichkeiten und verursacht zahlreiche Ausfälle in puncto Transparenz und Rechenschaftspflicht. Ein freimütiges Eingeständnis eines „Vertrauensbruchs“ in der Kirche wie im Fall des sexuellen Missbrauchs durch Diener der Kirche – eine äußerst beunruhigende Frage während des Pontifikats von Benedikt XVI. – würde helfen, die Glaubwürdigkeitslücke zu überwinden, die zwischen der Kirche und der Welt der Gegenwart besteht, die so sensibel auf Menschenrechtsverletzungen und die Ausbeutung von Frauen und Kindern reagiert.

Heute die Gute Nachricht zu verkünden setzt voraus, dass die Kirche in die Welt der Menschen eintritt, der Menschen in ihrem gottgegebenen Subjektsein, in ihrer Freiheit und mit ihrem Gewissen – um ihnen zu helfen bei der Entdeckung der sittlichen Wahrheit im Lichte des Evangeliums. Das ist eine anspruchsvolle neue Pädagogik, die die Kirche lernen und anwenden muss. Die Hinwendung zu einigen der kritischen Fragen auf dem Feld der menschlichen Sexualität und der Gender-Thematik wird dabei einen Schritt zur Anerkennung der Handlungsfähigkeit und des Subjektseins von Personen und Gemeinschaften erforderlich machen. Nicht wenige haben den Eindruck, dass einige kritische Fragen, die von Frauen in der Kirche und in der Welt gestellt wurden, während des Pontifikats von Benedikt XVI. unbeantwortet geblieben sind. Das Bestehen auf dem „Vorgegebenen“ als Norm ohne Rücksicht auf die Würde der menschlichen Person, besonders der Frauen und ihres Subjektseins, wird sich als kontraproduktiv erweisen für die Sache der Guten Nachricht und ihrer Aufnahme bei den Menschen.

Zweifellos besitzen Tradition und Gedächtnis einen hohen Stellenwert im Leben der Menschen, Gemeinschaften und der Kirche. Allerdings wurde in den zurückliegenden Jahren des Pontifikats Benedikts XVI. die Tradition auf dem Feld der Lehre, des Gottesdienstes und der Moral so beharrlich in den Vordergrund gerückt, dass wir meinen, die Kirche müsse ihre Konzentration und ihre Aufmerksamkeit nun dringend auf die Zukunft richten. Sie sollte die Augen erheben und Hoffnung erwecken, zusammen mit der ganzen Menschheit, die die verschiedensten Formen der Moderne in einer sich rapide globalisierenden Welt durchmacht. Bislang bleiben unglücklicherweise viele der Anforderungen von Moderne und Globalisierung ohne Antwort – auch was die Ausübung von Macht, die Art des Regierens, die Teilhabe und Kommunikation in der Kirche betrifft. Wo immer Tradition zum ultimativen Kriterium erhoben wird, sollten wir uns daran erinnern, dass die Wahrheit des Evangeliums und seiner Ansprüche über der Tradition stehen. Die Geschichte geht weiter, und die Situationen der Vergangenheit werden sich kaum wiederholen. Der Versuch, das Zeitalter der Christenheit aus der Vergangenheit in die heutigen Verhältnisse zu holen, in der Absicht, damit auf den Säkularismus zu reagieren, mag darum wie ein Ausweichverhalten anmuten, das es vermeidet, sich den kritischen Konstellationen des heutigen Lebens und der Geschichte ehrlich zu stellen. In der Tat irrititert dies viele gutwillige Menschen, die nicht in einer Welt der Vergangenheit zu leben wünschen, sondern ein Wort der Hoffnung für ihre Zukunft erwarten.

Pluralismus und Vielfalt kennzeichnen die Geburt der Kirche in besonderem Maße, wie das Pfingstereignis zeigt (Apg 2,1–13). Die Entwicklungen in der heutigen Welt lassen zunehmend die Bedeutung des Pluralismus für das Leben der Menschen und der Menschheit ingesamt, für Frieden und Eintracht erkennen. Eine Kirche, die nach größerer Zentralisierung und Vereinheitlichung strebt, wird ihre wahre Natur verraten und kaum in der Lage sein, eine Welt anzusprechen, die in allen Aspekten immer vielgestaltiger wird. Mit Recht ist darauf hingewiesen worden, dass sich die Achse des Christentums vom Westen in die Regionen des Südens verlagert hat: nach Lateinamerika, Afrika, Asien und Ozeanien. Darin zeigt sich die Tiefe und Breite der Katholizität, wie sie dem Leben der Menschen dieser Kontinente entnommen werden kann. Das Leben und das Zeugnis der Kirchen in diesen Teilen der Welt ist von großer Lebendigkeit; sie brauchen Bestätigung und Unterstützung ihrer Initiativen, sich den Realitäten ihrer Lebenszusammenhänge zu stellen. Das ist umso bedeutsamer, da die Armen der heutigen Welt vor allem auf diesen Kontinenten leben und leiden.

Das Zweite Vatikanische Konzil ist erst das zweite Konzil in der Geschichte der Kirche, das die Armen erwähnt – das erste war das Konzil von Jerusalem mit seinem Aufruf, „an die Armen zu denken“ (Gal 2,10). Am Ende eines Pontifikats und am Anfang eines neuen möchten wir betonen, wie wichtig es ist, das Vermächtnis des Konzils bezüglich der Armen am Leben zu erhalten: indem wir solidarisch sind mit dem Leben und den Kämpfen der Kirchen auf den Kontinenten des Südens, indem wir auf die einzigartigen Erfahrungen der „Kirchen der Armen“ hören und indem wir ihre legitime Freiheit als Ortskirchen respektieren.
Während wir die historische Entscheidung Benedikts XVI. begrüßen, möchten wir zuletzt der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass dieser bedeutsame Schritt katholische Gemeinschaften und ihre Leitungen inspiriert, daraus ihre Schlüsse für das Leben der Ortskirchen, für die ökumenischen und interreligiösen Beziehungen zu ziehen. Für diejenigen Gläubigen, denen es ernst ist mit einem christlichen Leben, denen aber angesichts einiger Entwicklungen in der Kirche unwohl ist, könnte diese Entscheidung Benedikts Ermutigung sein und Hoffnung auf Veränderung machen. Sie ist auch ein Aufruf und eine Gelegenheit für die zentrale Leitung der Kirche, sich ihrer eigenen Schwächen bewusst zu werden und sich zu erneuern im Lichte des Evangeliums. Wir wünschen uns, dass diese so mutige Entscheidung keine einsame Furche, gepflügt von einem einzelnen Pontifex, bleiben möge, sondern der Beginn einer reichen Ernte kühner Reformen in der Kirche.

Aus dem Englischen übersetzt von Norbert Reck

Prof. Dr. Felix Wilfred, geb. 1948 in Tamilnadu, Indien, Priester und Theologe, war über viele Jahre Professor an der State University in Madras und Vorsitzender der dortigen geisteswissenschaftlichen Fakultät. Er war Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission in Rom, als Joseph Ratzinger deren Vorsitzender war. Gastprofessuren in Frankfurt, Münster, Nijmegen, Boston, Manila und Schanghai. Die indische Regierung ernannte ihn 2010 zum ersten Lehrstuhlinhaber für Indienstudien am Trinity College in Dublin, Irland. Er ist Präsident des internationalen Direktoriums der Zeitschrift CONCILIUM. E-Mail: felixwilfred@gmail.com.


© imprimatur Juli 2013
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