Als Benedikt XV. nach seinem Amtsantritt im September 1914 den Abgrund des modernen Krieges verurteilte, standen die weltlichen und religiösen Oberhäupter der beteiligten Länder gegen ihn. Der Papst sprach von "Morden", "Schlächterei", "Wahnsinn" und "Selbstmord des zivilisierten Europas". Zur Lösung von Konflikten sei ein für alle Staaten verbindliches internationales Schiedsgericht zu schaffen. Das von Benedikt XV. 1917 vorgelegte Prinzip war wegweisend für die nachfolgende katholische Sozial- und Friedensethik: Waffengewalt muss durch die Geltung des Rechts in der Völkerwelt ersetzt werden.
Auf den für das Völkerrecht bahnbrechenden Briand-Kellog-Pakt von 1928 reagierte die Kirche dann leider erst mit sechzehnjähriger Verspätung. Pius XII. forderte am 24.12.1944, ohne Aufschub "alles zu tun, was möglich ist, um ein für allemal den Angriffskrieg als erlaubte Lösung internationaler Spannungen und als Werkzeug nationaler Bestrebungen in Acht und Bann zu bringen". Erst Johannes XXIII. wird am 11. April 1963 in seiner Enzyklika "Pacem in terris" (Frieden auf Erde, Lukas 2,14) die Charta der Vereinten Nationen (1945), welche zwischenstaatliche Gewalt überhaupt ächtet, theologisch als "Zeichen der Zeit" würdigen. Ebenso gilt ihm die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) als "ein Akt von höchster Bedeutung".
Die Enzyklika enthält ein nachdrückliches Bekenntnis gerade auch zu den sozialen Menschenrechten, welche die neoliberalen Ideologen heute als einen "Brief an den Weihnachtsmann" abtun: Denn "der Mensch hat das Recht auf Leben, auf die Unversehrtheit des Leibes sowie auf die geeigneten Mittel zu angemessener Lebensführung. Dazu gehören Nahrung, Kleidung, Wohnung, Erholung, ärztliche Behandlung und die notwendigen Dienste, um die sich der Staat gegenüber den einzelnen kümmern muss." Die Option für den Frieden soll "vor allem den Schwächsten unter den Menschen" dienen. Die Menschenwürde der Frauen, Minderheiten, Arbeiter, Flüchtlinge, Migranten oder "rassisch" Diskriminierten ist von ihr nicht zu trennen.
Der 2002 heiliggesprochene "Opus Dei"-Gründer Josemaria Escrivá betrachtete Johannes XXIII. geringschätzig als einen "Bauern mit Körpergeruch". Für die meisten Menschen war Johannes hingegen einfach der "Papst des Friedens". Er sprach vom Krieg nicht als ein Theoretiker. Bereits als junger Rekrut in Bergamo schrieb Roncalli in sein Tagebuch: "Das Militär ist eine Quelle, aus der Fäulnis aufsteigt, um die Städte zu überschwemmen." Am 21. August 1914 stand er Bischof Radini Tedeschi, seinem väterlichen Lehrer, in der Sterbestunde bei. Mit seinen letzten Worten ergänzte der Bischof das Gebet des Sekretärs und gab diesem einen Lebensauftrag: "… und für den Frieden, für den Frieden." Über den 1. Weltkrieg, in dem er als Sanitäter die zerfetzten und sterbenden Soldaten versorgte, urteilte Roncalli so: "Der gegenwärtige Krieg ist der Krieg des Reichen gegen den Armen, des Wohlgenährten gegen den, der Mühe hat zu leben, des Kapitalisten gegen den Arbeiter, und umgekehrt". (Als Papst wird er in seiner allerersten Enzyklika den Satz schreiben: "Zu viele Soldatenfriedhöfe bedecken die Erde.") Der französische Außenminister Robert Schuman bescheinigte nach dem 2. Weltkrieg dem Nuntius Roncalli: "Er ist der einzige Mann in Paris, in dessen Gesellschaft man die physische Empfindung von Frieden hat." Am Beginn des Roncalli-Pontifikates stand das Wort: "Das Wichtigste ist der Friede."
Im Oktober 1962 führte die Kuba-Krise die Welt an den Rand eines Atomkrieges. Ein päpstlicher Friedensappell bot den beiden Supermächten die Möglichkeit, öffentlich das Gesicht zu wahren und nachzugeben. Am 25. Oktober bat Johannes XXIII. die Mächtigen über eine Rundfunkansprache: "Mit der Hand auf dem Herzen mögen sie den Angstschrei hören, der aus allen Teilen der Welt, von den unschuldigen Kindern bis zu den Alten … zum Himmel aufsteigt: Friede, Friede!" Der Papst wurde weltweit als Botschafter des Friedens anerkannt. In seiner Ostpolitik folgte er nicht den Pius-Päpsten, sondern zog es vor, "mehr Wärmespender als Kälteträger zu sein".
Als sein Vermächtnis betrachtete Johannes XXIII. die Enzyklika "Pacem in terris", bei deren Erscheinen am 11. April 1963 er schon vom Tod gezeichnet war. Sie ist, wie Christian Feldmann betont, "als erste Enzyklika der Kirchengeschichte nicht nur an Bischöfe, Kleriker und Katholiken gerichtet, sondern ausdrücklich ‚an alle Menschen guten Willens’." Nach dem Tod des Papstes tauften die Brüder von Taizé ihre größte Glocke "Pacem in terris". Der jüdische Musiker Darius Milhaud komponierte zur Einweihung des Pariser Rundfunkgebäudes eine Chorsinfonie zu "Pacem in terris", die damit als die einzige vertonte Enzyklika in die Geschichte eingehen sollte.
In "Pacem in terris" klagt Johannes XXIII. - beiden Supermächten nach der Kuba-Krise wenig vertrauend - über die nicht annehmbaren Folgen von Kernwaffenexperimenten und fordert generell, "dass Atomwaffen verboten werden". Aus der "schrecklichen Zerstörungsgewalt der modernen Waffen" schließt er: "Darum ist es in unserer Zeit, die sich des Besitzes der Atomkraft rühmt, vernunftwidrig [alienum est a ratione; d.h. wahnsinnig], den Krieg noch als das geeignete Mittel zur Wiederherstellung verletzter Rechte zu betrachten." Die Bedeutsamkeit dieses Satzes erkennt auf dem II. Vatikanischen Konzil eine die Interessen der USA vertretende Gruppe um Kardinal Spellman. Sie verlangt kurz vor der Abstimmung in einer "theatralischen Kollektiverklärung" seine Streichung aus dem Konzilstext "Gaudium et spes". Sie will verhindern, dass jeglicher Atomwaffeneinsatz als unsittlich verurteilt wird. Die Konzilsmehrheit gesteht jedoch lediglich zu, das - durch den Protest erheblich aufgewertete - Zitat von Johannes XXIII. redaktionell in die Anmerkungen zu verschieben. Allerdings erringt die Spellman-Clique einen Teilsieg: Eine frühere Fassung hatte nämlich bereits den bloßen Besitz moderner Massenvernichtungswaffen klar verurteilt. (Auch zu einer ausdrücklichen Hochschätzung der christlichen Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten kommt es nicht, was im Grunde bis heute die Kirchenwirklichkeit bestimmt.)
Inspiriert durch "Pacem in terris" spricht das II. Vatikanische Konzil nur eine einzige feierliche Verurteilung aus: "Darum erklärt diese Synode, indem sie sich die schon von den letzten Päpsten ausgesprochene Verdammung des totalen Krieges zu eigen macht: Jede Kriegshandlung, die unterschiedslos auf die Zerstörung ganzer Städte oder weiterer Gebiete und ihrer Einwohner ausgerichtet ist, ist ein Verbrechen gegen Gott und die Menschen, das eindeutig und ohne Zögern zu verwerfen ist." (Gaudium et spes Nr. 80) Hier sind selbstredend auch so genannte konventionelle Waffen des modernen Krieges (Napalm, Streubomben etc.) angesprochen. Speziell bezogen auf die ABC-Waffen zur Massenvernichtung wird das sog. "Recht zur Verteidigung" eingeschränkt: "Kriegshandlungen unter Verwendung dieser Waffen können ungeheure und unterschiedslose Zerstörung anrichten, die infolgedessen alle Grenzen gerechter Verteidigung weit überschreiten." Eine "durch den Schrecken der Waffen" auferlegte Weltordnung wird abgelehnt und stattdessen ein aus internationalen Vertrauensbeziehungen erwachsender Friede gefordert: "Es ist also deutlich, dass wir mit all unseren Kräften jene Zeit vorbereiten müssen, in der auf der Basis einer Übereinkunft zwischen allen Nationen jeglicher Krieg absolut geächtet werden kann." (Nr. 82)
Sehr deutlich verweist dann Paul VI. auf aktive gewaltfreie Methoden des Widerstandes und eine Umwandlung der militärischen Beziehungen zwischen den Nationen in zivile. Er lehnt eine Beschäftigungspolitik ab, die "Hunderttausende von Arbeitern […] für die Produktion von Mordwaffen einsetzt", brandmarkt - deutlicher als "Pacem in terris" (Nr. 109) - die Hochrüstung als Mord an den Armen und begegnet mit seiner Forderung nach Gerechtigkeit für die Völkerwelt dem Missverständnis, Friede sei die Abwesenheit von Kriegshandlungen. 1976 lässt er durch eine von der päpstlichen Kommission Justitia et Pax veröffentlichte Stellungnahme von Msgr. Giovanni Cheli, dem Ständigen Vatikanvertreter bei der UNO, die Aussagen des II. Vatikanums über die militärische Praxis der Massenvernichtung als faktische Exkommunikation auslegen: "Das Konzil ist in diesem Punkt kategorisch. Es verurteilt rückhaltlos die Verwendung der alles zerstörenden Mordwaffen und hat diese Ver urteilung als einzige ausgesprochen."
Heute, ein halbes Jahrhundert nach dem Konzil, hat sich die Gesamtkirche immer noch nicht jenen 75 Pax-Christi-Bischöfen aus den Vereinigten Staaten angeschlossen, die im Sommer 1998 die Duldungsfrist für atomaren Waffenbesitz für abgelaufen erklärten!
In "Pacem in terris" hat Johannes XXIII. klargestellt, dass die zivilisatorische Errungenschaft des kodifizierten Menschen- und Völkerrechtes uns als Kirche zutiefst angeht. Alle Menschen sind gleichberechtigte Mitglieder der universalen Menschheitsfamilie (Nr. 25). Es darf "keine Völker mehr geben, die über andere herrschen" (Nr. 25). Alle Staaten sind gleichgestellt (Nr. 86). Kein Überlegener hat das Recht, andere "irgendwie von sich abhängig zu machen" (Nr. 87; vgl. Nr. 124 und 125). Wer andere ungerecht bedrückt, zählt zu jenen Staatsgebilden, die mit Augustinus als "große Räuberbanden" zu bezeichnen sind (Nr. 92). Der "Einheit der menschlichen Schicksalsgemeinschaft" entspricht das universale Gemeinwohl, "welches die gesamte Menschheitsfamilie angeht." (Nr. 132) Technologische Fortschritte können "die Menschen der ganzen Erde zu immer größerer Zusammenarbeit und innerer Verbundenheit" führen (Nr. 130; vgl. Gaudium et spes Nr. 23,1).
Aktueller geht es heute - im Zeitalter der globalen Kommunikationsgesellschaft - wirklich nicht mehr. Katholisch sind nicht Antimodernismus oder Fundamentalismus. Katholisch ist - ganz auf der Höhe der Zeit - der Blick auf das Ganze und den zivilisatorischen Ernstfall, der die ganze Menschenfamilie betrifft. Gerade auch in unserem Land, das in der Geschichte so schlimme nationalkirchliche Sündenfälle zu verzeichnen hat, sollten die kirchlichen Vollzüge die Verheißung von Gerechtigkeit und Frieden für die Völkerwelt spürbar in den Mittelpunkt stellen (Jesaja 9,6; Pacem in terris Nr. 167). Ohne Widerspruch zur herrschenden Politik und zu mächtigen Wirtschaftsinteressen wird das freilich kaum zu bewerkstelligen sein.
Gekürzt zuerst erschienen in: pax_zeit 1-2013 - Zeitschrift der Internationalen katholische Friedensbewegung - deutsche Sektion.
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