Es sind Formen von christlichem Leben, die wir in Zentraleuropa fast noch gar nicht kennen: Charismatische Heilungsgottesdienste, Megachurches, direkte und aggressive Werbung und ein großer Zulauf. Neue geistliche Bewegungen, wie diese Entwicklungen zusammengefasst werden, sind seit Jahren ein wachsender Trend in der Welt.
Mit einer Konferenz in Rom ging ein jahrelanges Forschungsprojekt zu Ende, das sich diesem Phänomen widmete.
Das Projekt wurde vor zwanzig Jahren begonnen. Der Organisator der Konferenz, Pater Johannes Müller, Professor und Leiter des Instituts für Gesellschaftspolitik der Hochschule für Philosophie in München, erklärt:
„Das Anliegen war – mal abgesehen von der grundsätzlichen Wichtigkeit der Thematik – wie man das Phänomen der neuen religiösen Bewegungen multidisziplinär angehen kann. Nicht einfach nur theologisch, sondern auch empirisch und Forschung vor Ort.“
Herausforderungen für die Ökumene und die Pastoral
Beispielhaft nahm sich die Studie einzelne Länder vor: Costa Rica für Lateinamerika, Ungarn für Europa, die Republik Südafrika für den afrikanischen Kontinent und die Philippinen für Asien. Die Konferenz in Rom sollte nun noch einmal deutlich machen, dass die neuen geistlichen Bewegungen ein weltkirchliches sind, auch wenn die deutsche Bischofskonferenz das Projekt initiiert hatte. Der vatikanische Ökumenebeauftragte, Kardinal Kurt Koch, bedankte sich dann auch für dieses „Geschenk“ der deutschen Kirche an die Weltkirche. Deutlich wurde bei der Konferenz aber auch, dass über die Beispielländer hinaus viele Unterschiede bestehen, auch innerhalb der Kontinente und selbst in nächster Nachbarschaft.
Bei der Konferenz ging es aber nicht nur über die Ergebnisse der Studie an sich, sondern ganz bewusst darum, diese mit dem Theologischen und der Pastoral zu verbinden. Man begegne in diesen Bewegungen einer neuen Gestalt des Christentums, so Kardinal Kurt Koch.
„Wenn wir auf die fünfzig Jahre ökumenische Dialoge zurück schauen, müssen wir feststellen, dass die Situation der Ökumene nicht mehr die des Zweiten Vatikanischen Konzils ist, da hat sich unendlich viel geändert. Einer der wesentlichen Faktoren ist, dass das Ziel der ökumenischen Bewegung nicht mehr klar ist. Diese Frage wird durch diese neuen Bewegungen radikalisiert: Wir haben mit den Evangelikalen, mit den Charismatikern und den Pentekostalen eine ganz andere Fragestellung, als mit den Orthodoxen.“
Rein zahlenmäßig seien diese neuen Bewegungen die zweitgrößte christliche Realität nach der römisch katholischen Kirche, man könne von einer „Pentekostalisierung“ des Christentums sprechen, so Koch. Dass diese einzelnen Kirchen und Gemeinschaften untereinander so unendlich unterschiedlich seien, helfe da nicht.
„Vielfach geht es noch gar nicht um wirklich ökumenische Dialoge, sondern es ist im Grunde genommen eine pastorale Herausforderung: Wie begegnen Ortskirchen diesen Phänomenen, zumal man feststellen muss, dass nicht wenige Mitglieder der katholischen Kirche aber auch von protestantischen Kirchen, ihre Kirchen verlassen und den Weg in solche Gemeinschaften finden. Das ist natürlich die größte Herausforderung. Deshalb kann diese Frage nur in einer Selbstkritik angegangen werden. Die römisch katholische Kirche muss sich die Frage stellen, was sie falsch mache und was mit ihr los sei, dass Mitglieder ihre Kirche verlassen und Kontakt und Mitgliedschaft in solchen Bewegungen suchen.“
Neue Wirklichkeiten, neue Herausforderungen
Über diese Beschäftigung lerne man sich dann auch selber besser kennen und das, was die „eigenen Perlen“ seien und auch, wo noch Nachholbedarf sei - etwa bei der Bedeutung, die man dem Heiligen Geist im Leben der Kirche einräume. Weil das aber nie am Schreibtisch sondern immer nur konkret gelöst werden könne, sei er dankbar für die Studie und den Kongress, so Kardinal Koch.
Konkrete Beispiele aus seiner Heimat brachte unter anderen der Bischof von Chosica (einem Stadtteil von Lima in Peru), Bischof Norbert Strotmann MSC, zur Sprache. Lateinamerika blicke auf eine Geschichte zurück, die von einem „katholischen Monopol“ geprägt gewesen sei. „Wir stehen in Lateinamerika immer noch mit dem offenen Mund vor einer neuen Wirklichkeit, die wir so nicht kannten. Stellen Sie sich 500 Jahre vor, in denen sie geborener Katholik und gestorbener Katholik waren. Etwas anderes gab es nicht.“
Das Monopol ist weg
Als Folge war jahrzehntelang die katholische Position den neuen Bewegungen gegenüber negativ besetzt. Das Verstehen oder gar der Versuch eines Gesprächs habe nicht im Vordergrund gestanden, so Bischof Strotmann. Jetzt sei aber allen klar, dass auch in Lateinamerika der Pluralismus die Zukunft sei. Man müsse dabei aber genau beobachten, woher dieser komme und wo er stattfände.
„Das habe ich gelernt bei dieser Tagung: Das Phänomen der Evangelikalen hat vor allem mit Migration und Großstadtsituation zu tun. In meiner Diözese kann ich sagen, dass die Evangelikalen fast an 25% heran kommen. Wir hatten 500 Jahre Monopol einer Kirche und das wird aufgebrochen. Wir sind der Kontinent mit dem wenigsten kirchlichen Personal und jetzt kommen Bereiche auf uns zu, die wir so nicht abdecken können. Da braucht man dann sehr viel Phantasie und Vorstellungsvermögen, um die Dinge überhaupt auf den Weg bringen zu können. Wenn wir es in den nächsten zehn Jahren nicht schaffen, intensiv Laien einzubinden, dann können wir wirklich in dem Kontinent, auf dem 43% aller Katholiken leben, einige Einbrüche haben.“
Bischof Strotmann spricht davon, dass die neuen geistlichen Bewegungen die konkreten Probleme der Menschen ansprächen, auf der anderen Seite aber auch gut organisiert seien, etwas von Marketing und strategischer Planung verstehen. Das sieht auch Pater Müller mit seinen langjährigen Erfahrungen in Indonesien so:
Von den Bewegungen lernen
„Was die Evangelikalen besser können, ist sich zu inkulturieren. Sie können stärker auf die Probleme vor Ort eingehen und man findet dort Antworten, die besser sind. Das ist das Defizit auf unserer Seite.“
Das sei bei Liturgie der Fall und der Übersetzung von Texten der Fall,
aber auch in anderen Bereichen. Es brauche auch in der katholischen Kirche Pluralität:
„Wir müssen viel mehr die vielfältigen Formen möglich machen.
,Katholisch’ heißt eigentlich plural, aber da ist vieles neu zu
entdecken.“
Dazu müsse man als erstes einmal die Angst verlieren, auch die Berührungsängste vor den Anderen. Noch viel zu sehr sehe man die Gefahr oder die Herausforderung. Ein Wandel der Perspektive helfe nicht nur dabei, eigene Antworten auf neue Phänomene zu finden, sondern auch noch, sich selber besser kennen zu lernen.
Hier stehe Europa noch vor den Veränderungen, die im Rest der Welt schon Realität seien, und hier könne dann Europa vielleicht auch vom Rest der Kirche lernen, so Bischof Strotmann:
„Ich möchte zumindest herüberbringen, dass es schon interessant ist, heute so eine Tätigkeit zu haben und diesen Herausforderungen nicht klein beizugeben. Das ist vielleicht der große Unterschied zwischen den Psychologien der Pastoral etwa in Deutschland und Lateinamerika: Wir haben wesentlich größere Probleme, sind aber wesentlich weniger pessimistisch.“
(rv 12.04.2013 ord)
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