Horst Hohmann
Krüppel - um des Himmelreiches Willen?

Kardinal Reinhard Marx war einer der ersten Ortsbischöfe Deutschlands, die 2010 in ihrem Bistum eine Untersuchung über die sexuelle Gewalt gegen Minderjährige in kirchlichen Einrichtungen anordneten. Den 250seitigen Schlussbericht, in dem pikanterweise auch von „schwulen Seilschaften“ im Münchner Ordinariat die Rede ist, ließ der Erzbischof rot einbinden und – vermutlich zwecks späterer Aufarbeitung des Skandals - in einem dicken Panzerschrank wegschließen.

Als nun vor kurzem Vertreter des Katholikenrates der Erzdiözese München und Freising wegen eines anderen schweren Skandals bei ihrem Oberhirten vorstellig wurden und eine anonyme Befragung aller Priester des Bistums darüber empfahlen, wie es die Geistlichen mit dem Sex im allgemeinen und mit dem Pflichtzölibat im besonderen halten, lehnte Marx kategorisch ab: „Nicht zielführend!“ ließ er den Laien mitteilen und gab uns allen indirekt zu verstehen, dass er in der Sache vorerst keinen Gesprächsbedarf sieht.

Angesichts der Verbrechen aber, die im weiten Umfeld des Pflichtzölibats begangen werden, haben wir – mit Verlaub gesagt – die Reaktion des Erzbischofs doch als einen sehr üblen Schlag ins Gesicht der Opfer dieses obsoleten Kirchengesetzes empfunden. Schließlich sprechen wir hier nicht von irgendeiner Lappalie, sondern von einer „Zeitbombe“, die dringend entschärft werden muss, bevor sie mit furchtbarem Knall in unseren Händen explodiert! Tiefgreifende Reformen sind angesagt und es wäre gut, wenn sich Reinhard Marx schon sehr bald mit einigen ganz konkreten Vorschlägen zum Thema nach Rom auf den Weg macht.

Für die Beratungen mit Papst Franziskus über den Pflichtzölibat und darüber, wie dieses Kirchengesetz Hunderttausenden von Menschen bereits hier auf Erden das Leben zur Hölle macht, sollte sich unser Freund in München unter allen Umständen folgende Fakten notieren:

Erstens: Von den 413.000 Priestern, die derzeit weltweit tätig sind, kommen mindestens die Hälfte, d.h. rund 210.000 (nach sehr vorsichtigen Schätzungen) mit dem Zölibat und den damit verbundenen Auflagen nicht zu Rande! Sie pflegen geheime Liebschaften, leben in eheähnlichen Verhältnissen (oft direkt unter der Nase der kirchlichen Ordnungshüter!) und gehen regelmäßig ins Pornokino oder ins Puff – alles im Verborgenen, abgetaucht ins Halbdunkel eines Doppellebens! Sie heucheln und lügen, weil existenziell so enorm viel auf dem Spiel steht. Sie geraten meist sehr schnell unter derart gewaltigen seelischen Druck, dass sie nicht mehr Herr ihrer selbst sind und sich fast ständig an einem Abgrund entlang bewegen! Die Kirche und der Dienst, den sie dort verrichten, werden zum Albtraum.

Zweitens: Die knapp über 80.000 Ex-Priester, die es rund um den Erdball derzeit gibt, wollten irgendwann dem entwürdigenden Versteckspiel ein Ende setzen und baten um Rückversetzung in den Laienstand. Für die meisten von ihnen begann ein Spießrutenlauf: „Auch so ein Abgefallener!“ bekamen sie zu hören. „Verräter!“ schrie man hinter ihnen her. Als „charakterlose Dreckskerle“ wurden sie beschimpft. Man strich sie unbarmherzig von allen Listen ihrer ehemaligen Bistümer und Orden. Man beförderte sie samt ihrer ganzen Lebenserfahrung und Talente auf den Müll. Ließ sie hoch und heilig schwören, nie wieder das „Wort Gottes“ in den Mund zu nehmen. Viele der Ex-Priester wurden praktisch gezwungen („Sonst hast du absolut keine Chance!“), ohne viel Wenn und Aber in ihren Gesuchen zu erklären, dass sie zum Zeitpunkt der Priesterweihe und eigentlich schon davor „geistig und psychisch unzurechnungsfähig“ gewesen seien und folglich nicht gewusst hätten, auf was sie sich einlassen.

Unter dem Pontifikat Johannes Paul II. erlebten Tausende und Abertausende von Ex-Priestern eine fürchterliche Zeit der Demütigungen und des qualvollen Wartens. Viele der Antragsteller wurden damals auf ausdrücklichen Befehl des polnischen Papstes 10 und manchmal gar 15 lange Jahre von kurialen Schreibtischtätern vertröstet und derweil absichtlich daran gehindert, mit Frau und Kindern ein normales Leben zu planen und baldmöglichst in den Genuss von Lebensversicherungen zu kommen. Ein Verbrechen von Papst und Kurie, das an Abscheulichkeit kaum zu überbieten ist.

Drittens: Unser Münchner Freund sollte sodann auf jeden Fall in seinen Akten festhalten und später in Rom zur Sprache bringen, wie die offizielle Kirche seit undenkbaren Zeiten mit den Lebensgefährtinnen und Frauen von Priestern und Ex-Priestern umgeht. Sie werden fast ohne Ausnahme auf niederträchtigste Weise behandelt: Man beschimpft und verflucht sie als „Huren“, „Flittchen“ und „Miststücke“. Man nennt sie herablassend und verächtlich „Erntehelferinnen des Leibhaftigen“. Man verleumdet sie in Pfarreien und Dörfern, wo sie aufgewachsen sind und wo man sie kennt. Man hat nie aufgehört, ihnen „Knebelverträge“ vorzulegen, um sie zum Schweigen zu bringen. Man hat sie auf schamlose Art erpresst und genötigt, hat Zigtausenden von ihnen „einmalige finanzielle Abfindungen“ zugemutet mit der Maßgabe, künftig ihren „Angebeteten“ und „von ihnen ins Unglück gestürzten priesterlichen Freund“ in Ruhe zu lassen und den Vater ihrer Kinder nie wieder mit irgendwelchen geldlichen oder moralischen Einlassungen von der seelsorglichen Arbeit abzuhalten und bittschön ihr ganzes Augenmerk auf eine „christliche Erziehung“ ihrer Kinder zu richten. „Um des Himmelreiches willen“ haben die selbsternannten Gralshüter der „reinen Lehre“ Tausende dieser Frauen in den Wahnsinn bzw. sofort in den Selbstmord getrieben.

Viertens: Und die Priesterkinder? So werden wir ganz behutsam den „forschen Schützenbruder“ und saloppen Vorsitzenden der Bayerischen Bischofskonferenz fragen dürfen. Weltweit sind es bestimmt 400.000!

Wenn wir von den „Langzeitschäden“ sprechen, die der großen Mehrzahl dieser Kinder über die Jahre zugefügt wurden, kommen wir fast kaum umhin, an den Vietnamkrieg zu denken und an das in diesem Krieg versprühte Pflanzengift Dioxin TCDD („Agent Orange“)! Rund 4 Millionen vietnamesischer Kinder hat das Teufelszeug zu Krüppeln gemacht.

Wieviele der Priesterkinder für den Rest ihres Lebens nach unsäglichen Qualen zu körperlichen und seelischen Krüppeln gemacht wurden, können wir nur schätzen, weil die meisten Geschädigten – ähnlich wie die sexuell missbrauchten Kinder – entweder überhaupt nicht oder erst nach vielen leidvollen Jahren über ihr Schicksal reden. Zum Beispiel erzählen, wie sie sich dabei fühlten, wenn sie ihrem Vater, den sie kannten, nie mit lautem „Papa“ um den Hals fallen oder gar wagen durften, mit fremden Leuten über ihren Vater zu plaudern.

Können sich – so werden wir schließlich fragen müssen - die für „weißgetünchte Kirchenfassaden“ zuständigen Herren überhaupt vorstellen, was in Kindern vorgeht, die („um des Himmelreiches willen“?) vaterlos aufwachsen und ein Leben lang nach ihrem Vater suchen, um irgendwann vielleicht doch noch dieses hässliche „Vater unbekannt“ aus ihre Geburtsurkunde oder aus ihrem Pass streichen zu können?! Dürfen wir uns wundern, wenn solche Priesterkinder am „Fest der Heiligen Familie“ in Depressionen verfallen?! Muss mit dem Pflichtzölibat nicht vor allem deshalb aufgeräumt werden, weil es unverantwortlich und ein abscheuliches Verbrechen ist, wegen eines „hehren“ Kirchengesetzes, das Lebensglück Hunderttausender von Kindern zu zerstören?!

Fünftens: Bestimmt wird sich Reinhard Marx zusammen mit uns immer schon mal darüber gewundert haben, wieso selbst fromme Katholiken (an den Stammtischen in Rauschheim und Geseke!!) ständig neue Witze über Priester und Nonnen erfinden und wieso Tausende solcher Witze überall auf der Erde erzählt werden? Liegt es nicht ganz einfach daran, dass es Menschen noch nie mochten, „wenn ihnen Schlauberger die Taschen voll machen“ und wenn ihnen die ganze „Verlogenheit rund um den Pflichtzölibat“ auf den Geist geht?! Auch wenn bei der Pointe solcher Witze meist ausgiebig gelacht wird, wissen wir alle (laut Umfragen 90 Prozent des katholischen Kirchenvolkes!) im Grunde schon sehr lange, dass es beim Zölibat nichts mehr zu lachen gibt!

In Heft 3/2013 berichtete „imprimatur“ über den ugandischen Priester Anthony Musaala (55), der es vor Wochen gewagt hatte, in einem offenen Brief das heuchlerische Verhalten kirchlicher Zölibatärer zu geißeln – wenn u.a. Nonnen und Hausmädchen gezwungen werden, die von Priestern und Bischöfen gezeugten Föten abzutreiben (also das „corpus delicti“ zu beseitigen!) oder wenn Geistliche immer und immer wieder daran erinnert werden müssen, dass sie gegenüber Mutter und Kind (auch wenn das Kirchenrecht darüber kein einziges Wort verliert!!) unterhaltspflichtig sind.

Anthony Musaala wurde vom Erzbischof von Kampala, Cyprian K. Lwanga suspendiert, weil er (das steht im Kanon 1314 des Kirchenrechtes natürlich drin!) „zu Hass und Verachtung der katholischen Kirche“ aufgerufen habe. So einfach kann man es sich machen, wenn man an der Aufklärung von Verbrechen nicht interessiert ist.


© imprimatur Oktober 2013
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