Dreieinhalb Jahre ist es her, dass der Jesuitenpater Klaus Mertes den sexuellen Missbrauch am Canisius-Kolleg in Berlin publik machte und einen der größten Skandale der katholischen Kirche ans Licht brachte. In seinem neuen Buch "Verlorenes Vertrauen" zieht Mertes Bilanz. Er kritisert das Versagen kirchlicher Vertreter gegenüber den Opfern und diagnostiziert eine Vertrauenskrise, die für ihn vor allem mit einem falschen Verständnis von Macht in der katholischen Kirche zusammenhängt. Im Interview mit katholisch.de erklärt Mertes auch, warum die Krise ihn in seinem Glauben bestärkt hat.
Frage: Pater Mertes, wie bewerten Sie die bisher erfolgte Aufarbeitung
des Missbrauchsskandals?
Mertes: Wir sind zwar noch nicht am Ende, aber es ist bereits viel an Aufarbeitungsarbeit
geleistet worden. Die Jesuitenschulen, das Koster Ettal, die Erzdiözese
München und manche andere kirchlichen Institutionen haben Berichte vorgelegt.
Die Kirche ist bei den Anerkennungszahlungen und auch bei Entschädigungsleistungen
vorangeschritten. Auch bei der Prävention haben wir wichtige Schritte getan:
Unabhängige Ombudsstellen, besseres Beschwerdemanagement, regelmäßige
Fortbildungsmaßnahmen, neue Sprache und Offenheit für das Thema Gewalt,
und vieles andere mehr.
Frage: Was halten Sie davon, dass die Zusammenarbeit mit dem Kriminologen
Christian Pfeiffer bei der geplanten Studie zum sexuellen Missbrauch beendet
wurde?
Mertes: Das war von Anfang an absehbar. Professor Pfeiffer ist kein Spezialist
für Fragen sexualisierter Gewalt. Er regte im Frühjahr 2010 diese
Studie an, weil er wie die Deutsche Bischofskonferenz der Meinung war, die Kirche
müsse ein Zeichen setzen für ihren Aufklärungswillen. Es ging
und geht aber nicht darum, ein Zeichen gegenüber der Öffentlichkeit
zu setzen, sondern in Kommunikation mit den Opfern zu treten. Die Qualität
der Aufklärung hängt von der Qualität der Kommunikation mit den
Opfern ab. Sie hat Vorrang. Das wurde im Frühjahr 2010 nicht genug gesehen.
Frage: Sie diagnostizieren in Ihrem Buch ein "Problem mit der
Macht“ in der Kirche. Was heißt das?
Mertes: Sexueller Missbrauch ist im Kern Machtmissbrauch, aber es gibt auch
andere Formen von Machtmissbrauch in der Kirche. Auf diese bin ich in den letzten
Jahren durch viele Berichte gestoßen. Zum Beispiel gibt es den Missbrauch
von geistlicher Macht in sektiererischen, autoritären Gruppen. Um so etwas
zu verhindern, muss man sich die Frage stellen, wie Macht in der katholischen
Kirche ausgeübt wird. Das fängt bei der Spitze an: Wie werden Bischöfe
ernannt? Wie gehen sie mit ihrer Macht um? Oder: Wie wird mit Denunziationen
umgegangen? Oft ist es ja so: Denunzianten finden Gehör, Opfer kirchlichen
Machtmissbrauchs aber nicht.
Frage: Gibt es aus Ihrer Sicht weitere Faktoren, die dem Machtmissbrauch
den Nährboden bereiten?
Mertes: Die Überhöhung priesterlicher Macht – wie sie im Übrigen
von der kirchlichen Lehre keineswegs gedeckt wird. Priester werden zum Teil
als eine Art 'Schamane' gesehen, die eine besondere Nähe zu Gott haben,
und verstehen sich dann auch selbst so. Manche maßen sich an, Vermittler
des Willens Gottes für andere zu sein. Sie sind dann sakrosankt gegenüber
Kritik. Es gibt Missbrauchsopfer, denen, als sie zu sprechen versuchten, entgegnet
wurde: 'So redet man nicht über einen Priester'. Opfer berichten auch,
dass die katholische Sexualmoral es ihnen schwierig, ja unmöglich machte,
überhaupt über Missbrauch zu sprechen, weil Schuld- und Schamgefühle
so stark waren.
Frage: Fühlen Sie sich als derjenige, der den Stein ins Rollen
gebracht hat, von der Bischofskonferenz genug in die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals
eingebunden?
Mertes: Ich habe mit der Aufklärungsarbeit in meinem Orden genug zu tun.
Ansonsten habe ich meinerseits keinen Anspruch, weiter eingebunden zu werden,
etwa von der Bischofskonferenz. Das habe ich ihr auch so mitgeteilt, als andere
sich darüber erregten, dass ich zu der einen oder anderen Veranstaltung
nicht eingeladen worden bin.
Frage: Wie kann die Kirche verlorenes Vertrauen wieder neu aufbauen?
Mertes: Nur wenn es ihr um mehr geht, als nur Vertrauen zu gewinnen.
Frage: Wie meinen Sie das?
Mertes: Die Kirche muss über ihre eigenen Interessen hinausdenken. Nur
wenn es ihr wirklich um Gerechtigkeit geht, wird sie Vertrauen gewinnen. Wenn
sie nur Gerechtigkeit will, um dadurch Vertrauen zu gewinnen, dann werden es
die Menschen merken - und gerade deswegen nicht vertrauen. Stichworte sind Gerechtigkeit
für die Opfer, Gerechtigkeit im Umgang mit Macht, Gerechtigkeit im Urteil
über Andersdenkende, Verfahrensgerechtigkeit. Es muss eine Art Zivilgerichtsbarkeit
geben, damit die Menschen in der Kirche nicht Denunzianten, anonymen Netzwerken
und willkürlichen Entscheidungen ausgeliefert sind. Priester müssen
ein reflektiertes Verhältnis zu ihrem eigenen Amt pflegen.
Frage: Wie stehen Sie nach den Erfahrungen der letzten drei Jahre
persönlich zur katholischen Kirche?
Mertes: Positiv. Die Begegnung mit vielen Opfern hat – bei allem Schmerzlichen,
was ich zu hören und sehen bekam – meinen Glauben und meine Kirchlichkeit
gestärkt. Viele haben mir erzählt, wie ihnen der christliche Glaube
und ihr Katholisch-Sein geholfen haben, mit den Erfahrungen des Machtmissbrauchs
konstruktiv umzugehen. Es gibt eben auch eine Kirche der Opfer – Papst
Franziskus würde sagen: Kirche der Armen. Sie ist mir näher gekommen,
und dafür bin ich sehr dankbar. Meine größte Sorge ist die Haltung
der Defensive in der Kirche gegenüber den Opfern - eine Haltung, die den
Opfern von Machtmissbrauch in der Kirche nicht zuhören will, weil sie Angst
vor dem hässlichen Bild von Kirche hat, das in den Opferberichten erscheint.
Das ist aber letztlich kleingläubig und unkirchlich.
Frage: In Ihrem Buch schreiben Sie, durch die Wahl von Papst Franziskus
habe sich einiges geändert. Was meinen Sie damit?
Mertes: Schon der Rücktritt von Benedikt war ein mutiger Schritt, der Perspektiven
eröffnet hat. Franziskus hat einige sehr wichtige Zeichen gesetzt gegen
die Arroganz der Macht in der Kirche. Gleich nach seiner Wahl hat er um den
Segen des Volkes gebeten, noch bevor er es selbst segnete. In dieser Geste zeigte
sich eine kommunikative, ja dialogische Dimension des Verhältnisses zwischen
Papst und Kirchenvolk. Außerdem stellt Franziskus die "Kirche der
Armen" in den Mittelpunkt. Die Opfer von Machtmissbrauch in der Kirche
gehören ja zu den Armen. Und schließlich hat er am Gründonnerstag
Strafgefangenen, darunter auch zwei Frauen, eine von ihnen Muslima, die Füße
gewaschen. Die Empörung aus krawallkatholischen Kreisen ließ nicht
lange auf sich warten – er hat also den rechten Punkt getroffen.
Das Interview führte Gabriele Höfling
Hinweis: Das Buch "Verlorenes Vertrauen - Katholisch sein in der Krise" ist im Juni 2013 im Herder-Verlag erschienen. Es umfasst 224 Seiten.
Zur Person
Klaus Mertes wurde 1954 in Bonn geboren; mit 23 Jahren trat er in den Jesuitenorden
ein. Von 2000 bis 2011 war er Rektor des Jesuitengymnasiums Canisius-Kolleg
Berlin, heute leitet er das Jesuitenkolleg St. Blasien im Schwarzwald. Er ist
Chefredakteur der Informationsschrift "Jesuiten".
Aus: © katholisch.de
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