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Der verlorene Himmel
Mordversuch und Verführung im römischen Kloster


Paul M. Müller
Thomas Großbölting: Der verlorene Himmel
Glaube in Deutschland seit 1945
(Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, 320 S.)

„Während auf vier von fünf Kontinenten religiöses Leben in den unterschiedlichsten Formen floriert, sind es vor allem die Gesellschaften Westeuropas, in denen das Gegenteil der Fall ist. Die Religion, in der Regel das Christentum, verliert auf diesem Kontinent an Bedeutung. Sinnfällig wird diese Entwicklung darin, dass kaum noch europäische Missionare nach Übersee aufbrechen, sondern umgekehrt insbesondere die katholische Kirche, ihren Priestermangel durch den Import von Geistlichen aus Afrika und Asien zu kompensieren versucht. Europa, das einstige Zentrum der Christenheit, ist längst selbst zum Objekt der Mission geworden“. (9)

Wie eigentlich präsentiert sich einem Nicht-Europäer diese aktuelle Situation der Kirchen in Deutschland? Anhand einer imaginären Visite eines religiös interessierten Nicht-Europäers und seiner unterschiedlichen und befremdlichen Eindrücke in Europa führt der Autor seine Leser in das Thema des Buches ein. Es geht um den „verlorenen Himmel“, wobei die Metapher „Himmel“ für viele Formen religiöser Transzendenz“ stehen kann. Was dem fremden Besucher unübersehbar in die Augen fällt, sind die vielen kleinen und großen Kirchen in Stadt und Land. Nach diesen ersten Eindrücken aber muss er feststellen, dass die Kirchen nur von wenigen genutzt werden. Zudem bemerkt er in Gesprächen mit Gottesdienstbesuchern, dass ihr religiöses Wissen spärlich ist. Die Begründungen für Glaube und Gottesdienst bleiben vielfach klischeehaft. Nur eine Minderheit unter ihnen „will mit Hilfe des Glaubens ein sinnvolles Leben führen“ oder auch „den Willen Gottes erfüllen, um in den Himmel zu kommen“. Darüber hinaus muss der Fremde feststellen, dass christliche Glaubensinhalte sich nicht selten mit asiatischen Meditationstechniken und allerlei Aberglauben vermischen. Und in Buchhandlungen findet er kaum theologische Fachliteratur, aber Publikationen von Margot Käßmann, Anselm Grün und Notger Wolf stapeln sich zwischen Wellness, Esoterik und Lebenshilfen aller Art.

Thomas Großbölting schließt hier an und formuliert eine Art von Grundthese, in der er übergreifende und exemplarische Beobachtungen der religiösen Veränderungen der letzten Jahrzehnte versammelt: „Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte war das soziale Leben von Religion durchtränkt; in vielen Gemeinschaften und Sozialräumen dieser Welt ist sie es noch. Für West- und Mitteleuropa war über eineinhalb Jahrtausende das Christentum das Religionssystem, welches diese Funktion erfüllte und eine wichtige Stellung in der Gesellschaft einnahm. Heute besitzt es diese Bedeutung nicht mehr und ist in vielerlei Hinsicht an den Rand gerückt, ohne
aber - das ist wichtig zu betonen – zur Bedeutungslosigkeit abgesunken zu sein“. (12)

Der Autor hebt in diesem Zusammenhang eigens hervor, dass ungeachtet der massiven Entkirchlichung das Christentum nach wie vor der wichtigste Anbieter religiöser Deutung und Praxis ist. Allerdings ist er sich bewusst, dass die Kirchen sich in einem schrumpfenden und pluralisierenden religiösen Feld bewegen, in dem sich das Beziehungsgefüge von Religion, Kirche und Gesellschaft stark gewandelt hat. Darüber hinaus ist für ihn unübersehbar, dass der gesellschaftliche Umbruch des Christentums sich im Besonderen in der „individuellen Kirchenmitgliedschaft und Frömmigkeitspraxis“ niederschlägt. Er betont mit Michael Ebertz, dass sich die christlichen Kirchen nicht erst heute, sondern seit längerem schon im „Gegenwind“ befinden. Dabei ist gerade auch die religiöse Praxis des Einzelnen, wie sie jahrhundertelang in den vorgegebenen Formen gelebt wurde, rückläufig. Die Großkonfessionen, die evangelische und die katholische Kirche, befinden sich mitten in einem für das religiöse Feld bisher beispiellosen „Traditionsbruch“. Die Kirchen werden leerer, die Zahl der Getauften nimmt kontinuierlich ab und immer weniger Personen sind bereit, sich als Pfarrer in den Dienst der Kirchen zu stellen.

Aber Großbölting warnt in diesem Zusammenhang und rückt zurecht. Es ist keineswegs primär die Konkurrenz von außen, die diese Entwicklung angestoßen und befördert hat: „Keine Kirche, kein neuer Glaube, nicht einmal ein staatlich geförderter Säkularismus waren im Westen Deutschlands vorhanden, um das Christentum zurückzudrängen oder gar zu ersetzen“ (12)

Offensichtlich aber haben sich die Kirchen seit 1945 allzu lange als „Siegerin in den Trümmern“ und auf lange Sicht als „Garant eines neuen Deutschland“ feiern lassen und sich entsprechend auf den ihnen eingeräumten Privilegien ausgeruht. Der Anfang seit 1945 war in vielem ein „Trugbild“, das sich im bisherigen Verlauf der „Verfallskurve“ der Kirchen und ihrer demographischen Entwicklung niedergeschlagen hat. Bemerkenswert ist die kurze Zeitspanne, in der sich seit 1945 dieser Wandel vollzogen hat. Die Christianisierung Deutschlands hat sich über Jahrhunderte erstreckt, der Prozess der Entkirchlichung nur über wenige Jahrzehnte. Hatte man 1945 von einer „Rechristianisierung“ des Landes gesprochen, so zeigte sich bald, dass die Kirchen diese gesellschaftlichen Erwartungen nicht erfüllen konnten. Die gesamte, auch statistisch feststellbare Entwicklung, hat die Position der Kirche im öffentlichen Leben verändert. Dieser Trend gilt sowohl für die Selbsteinschätzung der Kirchen als auch für die Wahrnehmung von außen.

Der Autor kann sein Staunen über diese „grundstürzende Entwicklung“ nicht unterdrücken und versteht seine Arbeit im Ganzen als Erkundung des religiösen Feldes in Deutschland. Er bleibt sich dabei bewusst, dass Religion immer ein Stück Deutungskultur ist, die die Lebenswelt der Menschen konstituiert, ihren Lebenshorizont sowie das Verhalten des Menschen. In Deutschland aber - so beobachtet er - ist diese Deutungskraft der Religion bei größeren Teilen der Bevölkerung verloren gegangen und das in einer erstaunlich kurzen Zeitspanne. Dabei definieren sich religiöse Bedürfnisse und Bewegungen - auch die Kirchen - immer stärker funktional, denn als religiösen Bezug zum Unterschied von Himmel und Erde, Gott und Welt, Transzendenz und Immanenz. Der Himmel, das Unverfügbare, wird durch das Verfügbare abgelöst.

Vor diesem Hintergrund schildert der Historiker Großbölting, auf welche Weise sich die Stellung der Religion und die Bedeutung der Frömmigkeit in Deutschland von 1945 bis heute entwickelt haben. Er durchschreitet dieses religiöse Feld in drei Wegstrecken, den fünfziger und sechziger, den siebziger und den letzten 40 Jahren, wobei er seinen Schwerpunkt auf die Geschichte der Kirchen, insbesondere der katholischen, legt. Der Leser erfährt bald, dass die kirchlichen Auflösungserscheinungen sich nicht erst nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil einstellten.

Die Fassaden religiöser Eindeutigkeit und Geschlossenheit bröckeln schon in den fünfziger Jahren. Mit einer Fülle von Beobachtungen zerstört der Autor nach und nach den einen oder anderen Mythos. Inzwischen wird Religion immer weniger als etwas schlechthin Gegebenes hingenommen, sondern diskutiert und verhandelt. Wo Religion war, entsteht der Runde Tisch. Allerdings ist Religion in der Sicht des Autors damit nicht am Ende, aber bestimmte Modelle von ihr werden innerkirchlich und gesamtgesellschaftlich zur Diskussion gestellt. Während sich 1945 Politiker für die Rechristianisierung von Staat und Gesellschaft stark machten, ist heute ein erheblicher gesellschaftlicher Deutungsverlust der Kirchen zu konstatieren. Die Kirchen aber, insbesondere die katholische, halten nach wie vor an ihrem überkommenen „Geschlossenheitsprinzip“ in Lehre und Praxis fest.

Im Hauptteil seines Buches konkretisiert Großbölting in einer Tour d´Horizon durch das weite religiöse Feld „zwischen Rechristianisierung und Erosion des Christlichen seit 1945. Er entmythologisiert den „religiösen Frühling“ der vierziger und fünfziger Jahre als „Chimäre“, wenn auch das religiöse Feld sich in den fünfziger Jahren noch relativ geschlossen darstellte. Die Mehrheit der Bevölkerung gehörte der evangelischen und katholischen Kirche an und die Zahl derer, die sich öffentlich als Agnostiker oder Atheisten darstellten, war gering. Dieser Zustand aber änderte sich in den sechziger und siebziger Jahren. Die Mitgliedschaft zu einer christlichen Kirche wurde offen diskutiert und die Sinnsuche der Menschen fand immer häufiger außerhalb des religiösen Feldes statt. Die Sorge um die eigene Identität sowie das eigene Wohlergehen rückten in den Vordergrund und die Lebensstile wurden pluraler. „Diese Ausprägung von Pluralisierung und Individualisierung im religiösen Feld, wie sie für die siebziger und achtziger Jahre kennzeichnend waren, bedeuteten den endgültigen Abschied von der historisch kulturell exzeptionellen Stellung, wie sie die Kirchen in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den fünfziger Jahren innehatten“. (179) Die Folge, die Stellung von Religionsgemeinschaften in der Gesellschaft haben sich ebenso verändert wie die Formen, in denen Religiosität individuell und kollektiv gelebt wird. Damit wurde eine Epochenschwelle überschritten und eine bestimmte Sozialform der Religion abgelöst. In den langen sechziger Jahren hat sich das religiöse Feld in Deutschland dramatisch verändert und es entwickelte sich eine offene, plurale und nur lose an den Großkonfessionen orientierte Form religiösen Lebens. Dazu kommt der nicht mehr zu übersehende Rückgang der Kirchenmitglieder in beiden Großkirchen. Nur ein Hinweis u.a.: „Insgesamt zählte die katholische Kirche 2008 3,1 Millionen Mitglieder weniger als 1990. 5,2 Millionen Sterbefälle trugen hierzulande ebenso dazu bei wie 2,3 Millionen Austritte. Dem standen 4,5 Millionen Taufen und Aufnahmen gegenüber, sodass circa 60% der Verluste kompensiert werden konnten. Aber die Zahl der Täuflinge ging und geht kontinuierlich zurück. Waren es 1980 310.000 neue Mitglieder, die in die Kirche aufgenommen wurden, so gab es in den vergangenen Jahren nur noch circa 200.000 Täuflinge“. (185)

„Wenn wir heute dennoch von einer (neuen) Präsenz des Religiösen in den modernen westlichen Gesellschaften sprechen, dann handelt es sich nicht um die Wiederkehr des Alten, sondern allenfalls um Formen einer Religion, die gegenüber früheren religionsgeschichtlichen Mustern durch starke Pluralisierung und Individualisierung der persönlichen Glaubensinhalte sowie eine nicht minder starke Fragmentierung und Amalgamierung der unterschiedlichen Traditionsbezüge gekennzeichnet ist… Auch wenn die Marktmetapher für die Beschreibung des religiösen Feldes in Deutschland nur sehr bedingt taugt, so ist auch hier die Zahl der Anbieter religiöser Sinn- und Deutungssysteme enorm gewachsen“. (183)

Im letzten Kapitel „Gott in Deutschland - Rückblick und Ausblick“ schränkt der Autor ganz bewusst die Erkenntnisse seines Rückblicks auf das religiöse Feld der letzten Jahrzehnte ein. Er weiß, dass die historischen Beobachtungen nicht ausreichen, um eine gültige Prognose für die Zukunft des Religiösen zu gewinnen; eine lineare Fortschreibung des religiösen Feldes in der Vergangenheit, das sich als uneinheitlich und komplex erwiesen hat, ist nur sehr begrenzt möglich. Nicht zuletzt auch deshalb grenzt sich der Autor von Säkularisierungstheorien ab, die einen Automatismus zwischen Modernisierung und Religionsverlust behaupten. Er weiß zu unterscheiden zwischen dem Glauben an sich und seinen geschichtlich bedingen Ausprägungen; viele dieser Sozialformen des Glaubens sind an ihr Ende gekommen. Für das Scheitern der „Anstaltskirche“, die Max Weber schon vor Jahrzehnten im Katholizismus identifiziert hat, steht vor allem die massive Entkirchlichung, die zwischen 1945 und heute zu beobachten ist.

Dieser Prozess deutete sich schon in den fünfziger Jahren an den Rändern der Kirche an. Die vormals selbstverständliche Übernahme von Dogmen, Riten und Moralvorstellungen wandelte sich „ohne Ausnahme“. Und was sich entwickelte und dauerhaft blieb, war der Anspruch auf Selbstbestimmung, Selbstbestätigung und Selbstverwirklichung. „Um in der gesellschaftlichen Selbstverständigungsdebatte produktiv mitmischen zu können, müssen die Religionsgemeinschaften ihrerseits der Versuchung widerstehen, in eine fundamentale Selbstbeschränkung abzugleiten… Eine solche Haltung eröffnet ihnen beste Chancen dafür, ein wichtiger Bezugspunkt für die so vielfältigen religiösen Bedürfnisse der Menschen zu sein wie auch weiterhin einen wichtigen Beitrag zum Zusammenhalt der Gesellschaft zu leisten. (271)
Dieses Buch, mit Anmerkungen, Quellenangaben, Literaturverzeichnis, Personen und Ortsregister versehen, bietet eine Fülle von signifikanten Informationen über ein halbes Jahrhundert deutscher Kirchengeschichte. Thomas Großbölting berichtet über den „religiösen Frühling“ von 1945 und den sich anschließenden Wandlungsprozess des „religiösen Feldes“ bis heute. Ein lesenswertes Buch nicht nur für Fachtheologen, sondern für alle, die die Hintergründe der religiösen „Verfallserscheinungen“ der letzten Jahrzehnte verstehen wollen.

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Lutz Lemhöfer
Crime Time real: Mordversuch und Verführung im römischen Kloster
Ein Fall aus der Kriminalgeschichte des Katholizismus

Das hat man nicht alle Tage: Ein renommierter Kirchenhistoriker zeichnet aus den Akten der Inquisition einen Klosterskandal des 19. Jahrhunderts nach. Und beschreibt dabei eine Geschichte, die man einem Thriller-Autor wie Dan Brown wegen maßloser Übertreibungen nicht hätte durchgehen lassen. Aber so kann es gehen: die reale Historie erfüllt manchmal mehr Klischees als die Fiktion, und das unter den Augen des Papstes in Rom und mit Beteiligung hoher Kirchenleute.

St. Ambrogio in Rom ist ein Frauenkloster; dort sollen fromme Franziskanerinnen einer besonders strengen Observanz in der Abgeschiedenheit der Klausur ein gottgefälliges Leben führen. Tatsächlich dient es um 1850 herum einer jungen, schönen Novizenmeisterin als Spielplatz diverser homo- und heterosexueller Aktivitäten und brisanter Machtspiele. Dies wird von den Mitschwestern hingenommen, weil sich diese Nonne als Heilige und Dauerempfängerin von Privatoffenbarungen darzustellen versteht. Ob sie das Bett mit den Novizinnen teilt oder den jesuitischen Beichtvater zum außerordentlichen Segen durch Zungenkuss animiert: immer tut sie es in höherem Auftrag. Die Gottesmutter Maria spricht nicht nur ständig mit ihr, sie übermittelt ihr auch mit realen handgeschriebenen Briefen überaus konkrete Weisungen für die Gestaltung des Klosterlebens – zum Beispiel bestimmt sie, wer demnächst zur Äbtissin zu wählen sei. Die Mitschwestern glauben ihr, und die hochgebildeten jesuitischen Beichtväter des Klosters ebenso. Nur eine adlige Novizin aus Deutschland mit hochrangiger Verwandtschaft in der Kurie schöpft Verdacht. Als sie erste Zweifel und Kritik äußert, versucht die himmlisch so eng verbundene Novizenmeisterin sie mit sehr irdischen Mitteln umzubringen. Aber diverse Giftanschläge erreichen ihr Ziel nicht; die Novizin, eine Fürstin Hohenlohe, kann mit Hilfe der prominenten geistlichen Verwandtschaft das Kloster verlassen, und ihre formelle Anzeige bei der Inquisition bringt schließlich nicht nur ein Verfahren in Gang, sondern auch die Wahrheit ans Licht. Die viel gescholtene Inquisition, hier ausnahmsweise mal der Anwalt von Vernunft und gesundem Menschenverstand, erwirkt eine amtliche Verurteilung der Beteiligten.

Auf den ersten Blick scheint das nicht mehr zu sein als die reale Kopie eines schlechten antiklerikalen Romans. Aber auf den zweiten Blick gewährt dieser Fall einen erschreckenden Einblick in die Untiefen des traditionellen Katholizismus – also gerade der Variante des Katholischen, die Traditionalisten bis heute als leuchtendes Gegenbild gegen die Dekadenz innerkirchlicher Aufgeklärtheit und Liberalität gilt. Es geht um mehr als um ein paar spinnerte Nonnen: Der pathologische, längst in den Bereich des Aberglaubens abgedriftete Katholizismus von St. Ambrogio hatte Verbündete bis in hohe und höchste Kirchenstellen hinein. Der Beichtvater, der an reale himmlische Briefe der Muttergottes glaubte und der schönen Novizenmeisterin und selbst ernannten Heiligen die Beichten ihrer Novizinnen brühwarm weitergab, war ein hochgebildeter Jesuit. Dieser Joseph Kleutgen, der sich hier gegen die Inquisition verteidigen musste, hat als gelehrter Theologe einer engherzigen und sterilen Neuscholastik zum Sieg gegen alle innerkatholischen Aufklärer verholfen. Obwohl er in diesem Prozess der Häresie und des Bruches des Zölibats wie des Beichtgeheimnisses überführt wurde, konnte Kleutgen später die Beschlüsse des Ersten Vatikanischen Konzils, darunter das Unfehlbarkeitsdogma von 1870, maßgeblich mit formulieren. - Lange erfreute sich St. Ambrogio der Protektion des deutschen Kardinals Reisach, wie Kleutgen ein erbitterter Feind aufklärerischer Regungen in der katholischen Theologie. Papst Pius IX. schließlich erlaubte zwar die Untersuchung durch die Inquisition, verzögerte und verwässerte sie aber nach Kräften. Ein strenges Urteil kam nur für die Novizenmeisterin und Giftmischerin zustande: zwanzig Jahre Klosterhaft bei strenger Isolation. Die beteiligten geweihten Männer, vor allem der Star-Antimodernist Joseph Kleutgen SJ, kamen, nachdem sie ihren Irrtümern abgeschworen hatten, mit zeitweiligem klösterlichem Hausarrest davon und konnten weiter Einfluss auf Theologie und Kirchenpolitik nehmen. Düpiert wurden liberale Katholiken wie Erzbischof Adolf zu Hohenlohe, der mit der Rettung seiner Nichte aus dem Kloster St. Ambrogio den Stein der Untersuchung letztlich ins Rollen gebracht hatte. Laut Hubert Wolf setzte er „auf eine schlichte und spätaufgeklärte Religiosität, der jeder Hang zum übersteigerten Mystizismus, pseudokatholischem Irrationalismus und zu exaltierten Frömmigkeitsformen suspekt war“ (410). Aber gerade er wurde, ungeachtet des ihn stützenden Urteils der Inquisition, in den Folgejahren als unkatholisch diffamiert. „In einer Kirche, in der – wie er spottete – ‚die Unfehlbarkeit … epidemisch geworden war‘, gab es keinen Platz mehr für einen wie ihn“ (ebd.).

Darin liegt die kirchenpolitische Brisanz des Falles St. Ambrogio: er gibt den Blick frei für den unappetitlichen Untergrund von Mystizismus und Aberglaube, in dem der militante Antimodernismus des 19. Jahrhunderts wurzelte. Wer diesen Geist als Muster des Katholischen verherrlicht, von den Piusbrüdern bis zum Büchner-Preisträger Martin Mosebach, der kann in diesem Buch nachlesen, auf welch glattes Eis er sich begibt.

Hubert Wolf, Die Nonnen von Sant‘ Ambrogio. C.H.Beck-Verlag. 544 Seiten, 24,95 €

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© imprimatur Oktober 2013


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