Es sind jetzt 1700 Jahre vergangen, seit im Januar/Februar 313 Kaiser Konstantin d. Gr. (reg. 306 bis 337) und sein Kollege Licinius (reg. 308 bis 324) in Mailand zu einer Konferenz zusammengetroffen sind, auf der u. a. die Christenfrage verhandelt wurde. Maßgebliche Teile der historischen Forschung vertraten und vertreten die Ansicht, bei dieser Gelegenheit habe Konstantin ein Religionsedikt erlassen, durch welches das Christentum erstmals reichsweit anerkannt und den übrigen Kulten im römischen Imperium gleichgestellt wurde. Wenn auch hier und da etwas modifiziert, hat sich an dieser Einschätzung der Konferenz und ihres Ergebnisses bis heute nichts Wesentliches verändert; nur wenige Autoren haben - vergeblich - seit Ende des 19. Jahrhunderts Einspruch erhoben. Vor hundert Jahren rief daher Pius X. in Rom für die katholische Welt eine 1600-Jahr-Feier aus (Acta apostolicae sedis, 18. März 1913, Bd. V Nr. 4, 89–93). Auch im gegenwärtigen Jahr 2013 werden in Mailand und in verschiedenen anderen Städten und Staaten - wie Bulgarien, Rumänien, Serbien - entsprechend begründete Feiern veranstaltet. Eine konsequente Auswertung aller antiken Quellen zum Jahr 313 und seiner Vorgeschichte führt jedoch zu einem erheblich differenzierteren Bild der Dinge.
Das Christentum besaß seit Kaiser Gallienus[1] von 260 bis zum Jahr 303 staatliche Anerkennung und Kultfreiheit, es war religio licita. Die einzelne Ortsgemeinde galt in diesen Jahrzehnten als corpus, als Körperschaft des öffentlichen Rechts, die Eigentum (z. B. an Kirchen und Grundstücken) besitzen durfte. Doch im Jahr 303 begann eine systematische, von Diokletian und seinen drei Mitherrschern[2] durch ein Edikt reichsweit angeordnete Christenverfolgung: Christsein als solches war nun ein Kapitaldelikt, mit den entsprechenden Folgen in Form von zahlreichen Martyrien und anderen Schrecklichkeiten. Die Verfolgung hatte jedoch das Christentum nicht vernichten können. Sie wurde in verschiedenen Teilen des Reiches zu verschiedenen Zeiten wieder beendet. Den Anfang machte im Jahr 306 der damals noch pagane Kaiser Konstantin, indem er den Christen in seinem westlichen Reichsteil (Britannien, Gallien, Hispanien) vermutlich durch Edikt Kultfreiheit gewährte[3] . Gleiches verfügte im gleichen Jahr oder etwas später, vielleicht 308, der pagane Usurpator Maxentius (reg. 306 bis 312) für seinen Herrschaftsbereich Africa und Italien, und er ordnete zudem die Restituierung des kirchlichen Gemeindebesitzes an [4]. Damit war durch die beiden Kaiser im Westen des Imperiums der Religionsfriede wiederhergestellt, wie er bis 303 geherrscht hatte: das Christentum war hier seit 306 bzw. 308 wieder religio licita. Im Jahr 311 gab schließlich Kaiser Galerius den Christen auf dem Balkan und im Nahen Osten durch ein Duldungsedikt ebenfalls die Kultfreiheit zurück [5]. Sein Kollege Maximinus Daia (reg. 305 bis 313) jedoch, der über Syrien und Ägypten herrschte, erneuerte die Verfolgung wenig später.
Im gleichen Jahr 311 hat Konstantin sich von den paganen Göttern abgewendet und ist zum Christen geworden [6]. Unmittelbar nach seinem Sieg am 28. Oktober 312 über den Usurpator Maxentius an der Milvischen Brücke bei Rom wurde er vom römischen Senat an der Stelle des Maximinus Daia zum ranghöchsten der zu dieser Zeit regierenden drei Kaiser deklariert [7]. Noch vor Ende 312, wohl im November, schickte Konstantin, jetzt als maximus Augustus im Besitz des Rechts zu reichsweiter Gesetzgebung, von Rom aus eine umfassende Grundsatzerklärung zur Religionspolitik an seine Kollegen: für alle Menschen und darum auch für die Christen [8], wo sie, im Osten, noch verfolgt wurden, solle Religionsfreiheit gelten. Der Wortlaut dieser Erklärung ist nicht erhalten [9]. Aber ein anderes, gut ein halbes Jahr später entstandenes Dokument der Religionspolitik des Licinius nahm in griechischer Sprache Bezug darauf. Wörtlich heißt es hier [10]:
„In der Einsicht, daß die Freiheit der Religion (lat.: libertas religionis) nicht verweigert werden darf, daß vielmehr dem Denken und dem Willen eines jeden Menschen anheimgestellt sein sollte, sich jeweils nach seinem eigenen Gutdünken um das Göttliche zu kümmern, haben wir schon vor längerem (sc. Ende 312) den Befehl gegeben, auch gegenüber den Christen bezüglich ihres Glaubens und ihrer Religion diese Zusicherung einzuhalten“.
Grundsätzlich darf also niemandem libertas religionis verwehrt werden, darum auch den im Augenblick noch verfolgten Christen des Ostens nicht. Es ist im konstantinischen Original von 312 zum ersten Mal in der Geschichte geschehen [11], dass dieses Prinzip, das über ,Duldung‘ weit hinausgeht, doch mit dem modernen Begriff ,Toleranz‘ nichts zu tun hat, formuliert und als politischer Maßstab proklamiert wurde. Außer der allgemeinen libertas religionis ordnete Konstantin mit Blick auf die verfolgten Christen auch die Restituierung des seit 303 im Osten beschlagnahmten Gemeindevermögens an; entsprechendes hatte der Usurpator Maxentius in Italien und Nordafrika schon 308 getan, während es in den anderen westlichen Reichsteilen nicht notwendig war, da dort keine Konfiskationen vorgenommen worden waren. Zugleich begann Konstantin noch 312 in seinem westlichen Verantwortungsbereich mit repräsentativem Kirchenbau und einer massiven Förderung des Christentums.
Das politische Motiv des zum Christen gewordenen Kaisers, allen Menschen und damit außer den Christen auch den Paganen Religionsfreiheit zu garantieren, ist nicht schwer zu erraten. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Einwohnerschaft des Imperiums – 90 bis 95 Prozent Nichtchristen, 5 bis 10 Prozent Christen – sollte die Proklamation von Ende 312 entgegen eventuellen oder sogar sehr wahrscheinlichen Befürchtungen und Verunsicherungen der Paganen klarstellen, dass die Existenz eines christlichen Kaisers und die neue Freiheit für die Christen und dass vor allem die Förderung des Christentums keine Bedrohung der Religionsfreiheit der Nichtchristen bedeutete. In dem für den Osten bestimmten Dokument des Licinius vom Sommer 313 wird deshalb nach Absprache mit Konstantin in Mailand (Frühjahr 313) gerade dieser ordnungs- und sicherheitspolitische Aspekt erneut mehrfach betont: die securitas publica, die quies temporis nostri, die quies publica, so heißt es wörtlich in dem lateinischen Brieftext bei Laktanz [12], sollen auch im Osten durch Religionsfreiheit für alle Menschen – für die Christen und darum auch für alle anderen – gewährleistet und bewahrt werden; es solle nicht einmal der Anschein entstehen, daß durch Konstantins neue, von Licinius übernommene Religionspolitik „irgendeinem Ehrenamt (sc. Priesteramt) und irgendeiner Religion“ – d. h. den Paganen – „etwas weggenommen worden“ sei [13].
Ein konstantinisches ,Toleranzedikt von Mailand‘ aus dem Frühjahr 313 existiert nicht und hat auch niemals existiert [14]. Insofern waren schon die berühmten 1600-Jahr-Feiern des Jahres 1913 und sind auch die des Jahres 2013 historisch verfehlt. Der Ausdruck ,Mailänder Edikt‘ wird in den antiken Quellen nie verwendet; er ist erst im 16. Jahrhundert von dem vatikanischen Bibliothekar und Autor der bekannten ,Annales ecclesiastici‘ Cesare Baronio erfunden worden [15]. Doch historisch steht folgendes fest: auf jener Kaiserkonferenz in Mailand im Januar/Februar 313 hat der pagane Kaiser Licinius nach Beratung mit seinem christlichen Kollegen Konstantin[16] dessen Ende 312 verkündetes Programm der allgemeinen libertas religionis und der Restituierung des christlichen Gemeindeeigentums übernommen, und er tat dies mit der vereinbarten Option, das Programm nach Beseitigung des östlichen Kaiserkollegen Maximinus Daia, der die Christenverfolgung fortsetzte, auch im Osten zu verwirklichen. Nach dem Sieg teilte Licinius im Sommer 313 den östlichen Provinzstatthaltern daher brieflich das neue religionspolitische Prinzip seines christlichen Kollegen von Ende 312 mit und verfügte zudem die im Westen längst realisierte Restituierung des Gemeindebesitzes der Kirchen.
Der Brief des Licinius an die Statthalter des Ostens, gemäß regierungsamtlichem Protokoll auch im Namen Konstantins verfasst, liegt mit Hinweis auf das Treffen in Mailand in lateinischer und griechischer Fassung vor [17]. Er betraf also, auf dem Rechtszustand der westlichen Reichshälfte basierend, ausschließlich den Osten des Imperiums. Insofern ist es historisch ebenfalls ganz verfehlt, den Text des Licinius von 313 als, wie es in der Forschung oft geschehen ist, „magna charta libertatum“ für die gesamte Christenheit [18], ja sogar als „una data fondamentale nella storia dell’Occidente”[19] und als den Beginn der „modernità“ zu bezeichnen [20].
Tatsächlich war Konstantins Religionsedikt von Ende 312 die, wenn man so will, magna charta libertatum, aber eben nicht nur für die Christen, sondern auch für alle anderen Religionen [21]. Dass es von Laktanz und Eusebius nicht im Wortlaut wiedergegeben worden ist, hängt wohl damit zusammen, dass der Kaiser allen Menschen und somit auch den Paganen die Religionsfreiheit garantiert hat, was aus Sicht der beiden Autoren offenbar nicht unbedingt wünschenswert war. Im Codex Theodosianus findet man das Edikt ebenfalls nicht; natürlich nicht: im Jahr 438, als der Codex das zu dieser Zeit unter Kaiser Theodosius II. geltende Recht zusammenstellte, existierte die konstantinische libertas religionis für alle Menschen schon seit mehr als 50 Jahren nicht mehr: Theodosius I. hatte das Christentum zur einzigen erlaubten Religion erklärt. Es sollte dann etwa 1500 Jahre dauern, bis das Prinzip der allgemeinen Religionsfreiheit begann, in der europäischen Kultur erneut zu politischer Realität zu werden.
Klaus M. Girardet war Professor für Alte Geschichte a. d. Universität des Saarlandes.
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