Selten hat in letzter Zeit eine kirchengeschichtliche Arbeit solche Resonanz gefunden wie die Studie von Hubert Wolf: Die Nonnen von Sant‘Ambrogio. Eine wahre Geschichte, München 2013. Lutz Lemhöfer hat sie in imprimatur 4/5-2013 vorgestellt unter dem Titel „Crime Time real: Mordversuch und Verführung im römischen Kloster“. Das große Interesse an diesem Buch ist nicht verwunderlich. Es bietet in sprachlich gelungener Weise wilde Geschichten aus einem römischen Kloster, die - quellenreich belegt - im Kontext des religiös-kulturellen Milieus des bereits in der Agonie liegenden Kirchenstaates analysiert werden. Wolfs Darstellung bietet weit über die historischen Zusammenhänge eines „Klosterkrimis“ wichtige Aufschlüsse über das theologisch-kirchliche und spirituelle Klima im Rom der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert, in dem auch das Ersten Vatikanische Konzil (1869/70) gediehen war.
Schon die Tatsache, dass der Fall Sant’Ambrogio vor der Heiligen Inquisition, der Vorgängerin der Glaubenskongregation, verhandelt wurde, ist eine Geschichte für sich. Denn immerhin ging es hierbei neben Häresie auch um zweifachen Mord und einen Mordversuch, der der Novizenmeisterin und Mater Vicaria zur Last gelegt wurde, so dass diesbezüglich eigentlich das römische Kriminalgericht zuständig gewesen wäre. Da aber auch Bischöfe und Kurienkardinäle sowie die beiden geistlichen Leiter und Beichtväter aus dem Jesuitenorden in diesen Fall verwickelt waren, die ersteren durch mangelhafte Aufsicht, die letzteren durch Begünstigung und Mittäterschaft, überwies Pius IX. (1846–1878) das Verfahren ans Inquisitionsgericht, das für Mordfälle nicht zuständig ist. Aber für diesen Fall hatte der Papst das Inquisitionsgericht „auch zum Strafgericht für Kapitalverbrechen gemacht“[1]. Auf diese Weise sollte auch gewährleistet sein, dass der delikate Fall nicht an die Öffentlichkeit dringen konnte.
Kleutgen als Beichtvater in Sant‘Ambrogio
Der „Knüller“ dieser „Schmuddelgeschichte“, so Franz-Xaver Kaufmann in den Stimmen der Zeit (7/2013), kommt auf Seite 300: Der Beichtvater der Nonnen ist kein Geringerer als der Jesuit Joseph Kleutgen, Autor einschlägiger Werke zur neuscholastischen Theologie, Professor an der Päpstlichen Universität Gregoriana, Konsultor der Indexkongregation und schließlich Konzilsberater. Gänzlich unbekannt waren die Vorgänge in und um Sant’Ambrogio vor dem Erscheinen von Wolfs Studie nicht. Konrad Deufel hat sich in einem Exkurs seiner Dissertation „Kirche und Tradition – Geschichte der theologischen Wende im 19. Jahrhundert am Beispiel des kirchlich-theologischen Kampfprogramms P. Joseph Kleutgens S. J.“ (1976) damit auseinandergesetzt.
Doch erschlossen sich Deufel nur wenige verwertbare Fakten, die zudem auch noch Unsicherheiten und Widersprüche enthielten. Dazu zählt Kleutgens eigene Aussage, dass er vom Inquisitionsgericht wegen formaler Häresie verurteilt worden sei. Bekannt war auch, dass er mehrere Jahre Haft erhielt, ein Urteil, das „die Kardinäle der Inquisition und zuletzt der Papst“ jedoch gemildert hätten. Pater Leziroli S.J., der Geistliche Direktor und erste Beichtvater der Klosterschwestern, erhielt lebenslanges Beichtverbot und Verbannung, die Hauptangeklagte, die Novizenmeisterin und Mater Vicaria, Maria Luisa Ridolfi, lebenslange Klosterhaft[2].
Erste Quellen des Falles Sant‘Ambrogio
Wenngleich die Quellen in den 1970er Jahren spärlich waren und der Jesuitenorden
seinerzeit bestrebt war, Kleutgens Verwicklung in den Fall zu verschleiern,
um „den Orden zu entlasten“ [3], musste Deufel doch erkennen, dass
die Involvierung des Jesuiten in das Klostergeschehen in unmittelbarem Zusammenhang
mit der unerlaubter Heiligenverehrung stand, in die in abstruser Weise die 27jährige
Mater Vicaria, Maria Luisa Ridolfi, selbst einbezogen war. Sie nutzte diesen
verbotenen Kult um die ehemalige Äbtissin Maria Agnese Firrao, den sie
dann auch um sich selbst errichtete, als Herrschaftsinstrument, um das Klosterleben
ganz in ihrem Sinne zu diktieren.
Gemäß den Aufzeichnungen einer Klosterschwester und Zeugin der Geschehnisse
in Sant‘Ambrogio, Katharina von Hohenzollern-Sigmaringen, die nur aufgrund
ihrer Prominenz als preußische Fürstin den Inquisitionsprozess überhaupt
erst in Gang bringen konnte, war Kleutgen als Beichtvater durchaus in die obskuren
Ereignisse, so etwa die Erscheinung jenseitiger diabolischer Mächte, verwickelt.
Die Verdachtsmomente bezüglich einer Beteiligung am verbotenen Heiligenkult
versucht Deufels Buch erstaunlicher Weise mit dem Hinweis zu entkräften,
dass „der Glaube Kleutgens an direkte Begegnung mit dem Teufel“
bereits für seine Zeit als Theologiestudent des Jesuitenkollegs in Fribourg
(Schweiz) belegt sei. Allerdings habe der Jesuit eingeräumt, dass es „Fälle
(gebe), in welchen der Satan durch Nachäffung himmlischer Gnaden zu täuschen“
suche[4]. War vielleicht doch der Heiligen- und Wunderglaube die Ursache von Kleutgens
„Scheitern“ im Häresieprozess und seinem psychischen und körperlichen
Zusammenbruch?
Wolfs Studie bringt Licht ins Dunkel
Deufel möchte in seinem Exkurs jedenfalls beide Möglichkeiten, das Ja und das Nein, nicht ausschließen. Doch durch Wolfs Studie erweist sich die schlimmere Variante als Gewissheit. Mit seiner Analyse des Falles Sant’Ambrogio bringt Wolf Licht in die Ereignisse und die Motivlage der beteiligten Personen. Dabei zeigen sich wichtige Konturen des neuscholastischen Systems, näherhin dessen problematische theologisch-ethische und kirchlich-politische Seite, indem die Studie die Geschehnisse in Sant’Ambrogio im Rahmen einer Auseinandersetzung zwischen den Vertretern der Neuscholastik und ihrer mystischen Neigungen, zu denen große Teile der Kurie und der Papst selbst zu rechnen sind, und einem Personenkreis mit liberalerer und - so kann man sagen - vernünftiger religiös-ethischer und theologisch-kirchlicher Einstellung spiegelt. Die Neuscholastik (ca. 1845–1958), die die sogenannte „Pianische Epoche“ der neueren Kirchengeschichte prägte[5], verband sich in beträchtlichem Maße mit ultramontan-papalistischen Ideen.
Kurienkardinal von Reisach, früherer Bischof von Eichstätt sowie Erzbischof von München und Freising, der ebenso wie Pius IX. eine ausgesprochene Schwäche für Wunderglauben und Marienerscheinungen hatte, hatte Katharina von Hohenzollern zum Eintritt in das Kloster Sant’Ambrogio geraten. Dabei verwies er auf die sich vom nüchterneren deutschen Glaubensverständnis wesentlich unterscheidende religiöse Haltung der Südeuropäer und insbesondere Italiens. Offenbar haben die Eindrücke, die Katharina vom Klosterleben mitnehmen musste (angemaßte Heiligkeit und Heiligenverehrung, an ihr von der Novizenmeisterin verübter Mordversuch u.a.), ihre religiöse Vorstellungskraft gesprengt. Dabei waren der Fürstin die Qualität der intimen Beziehungen der Mater Vicaria zu den ihr untergebenen Nonnen sowie zu beiden Beichtvätern (wie deren Lossprechung bei der Beichte per Zungenkuss u.a.m.) nicht einmal bekannt.
Katharina von Hohenzollern suchte, nachdem sie im Juli 1859 von ihrem Cousin, Erzbischof Gustav Adolf von Hohenlohe-Schillingsfürst, der dem liberalen Flügel der Kurienbischöfe und Kardinäle angehörte, aus dem strengen Klausurkloster Sant’Ambrogio „gerettet“ wurde, eine neue seelsorgliche Betreuung. Sie fand diese bei dem Benediktinerpater Maurus Wolter aus der römischen Abtei Sankt Paul vor den Mauern, der ihr dringend empfahl, den Fall Sant’Ambrogio bei der Inquisition anzuzeigen. Kurz darauf machte Katharina ihre Aussage vor der Inquisition.
Die Unbestechlichkeit des Inquisitionsrichters
In Wolfs Studie avanciert der Untersuchungsrichter des Heiligen Officiums, der Dominikanerpater Vincenzo Leone Sullua, zum eigentlichen „Helden“ dieser Geschichte. Seine Normen als Richter sind allein die des Rechts und der Sittlichkeit. So wird der Leser, nachdem er mit all den Absurditäten, den moralischen Abirrungen und dem religiös abwegigen Wunderglauben konfrontiert worden war, wieder auf ein vernunftgemäßes moralisch-rechtliches Normengerüst zurückgeholt[6]. Sullua gelingt es durch seine souveräne Beweiserhebung, alle Angeklagten zu umfassenden Geständnissen zu bewegen.
Bemerkenswert ist dabei die Haltung Pater Kleutgens. Er gesteht nach anfänglichem Leugnen schließlich seine Taten, merkt jedoch an: „Ich habe während dieser Taten das innere Gebet niemals eingestellt.“ Deutlich ist hierbei die Doppelbödigkeit des neuscholastischen Moralsystems zu erkennen. Der Jesuit räumt sein moralisches Fehlverhalten ein, will aber doch die grundsätzlich rechte Gesinnung unterstreichen, so, als könne sein Bekenntnis zu den religiös wohl übergeordneten Leitideen die moralische Schuld mildern.
Das Protokoll von Kleutgens Verurteilung
Das Protokoll Sulluas jedenfalls hält an Verfehlungen Kleutgens, alias Pater Peters, Folgendes fest: „Wir (…) erklären, dass Wir Euch, Pater Guiseppe Peters, für das was Ihr (…) gestanden habt, verurteilen, und dass Ihr vom Heiligen Offizium für schuldig erklärt worden seid, die falsche Heiligkeit der verurteilten und verstorbenen Schwester Maria Agnese Firrao auf jedwede Art und Weise behauptet zu haben; die falsche Heiligkeit der verurteilten Schwester Maria Luisa auf verschiedene rechtswidrige und kriminelle Weise mit Worten, Schriften und Taten unterstützt und behauptet zu haben; wegen Verführungen durch Akte ihr gegenüber, während sie Eure Beichttochter war; die Klausur gebrochen zu haben, um derselben beizustehen; Ansichten und Maximen behauptet, geschrieben und offenbart zu haben, die ungesund sind und der gesunden Theologie nicht entsprechen; an einen mutmaßlichen himmlischen Briefwechsel geglaubt und ihn gefördert zu haben, und zwar wegen der oben erwähnten Zwecke (…).“[7]
Was Kleutgens Funktion als Beichtvater in Sant’Ambrogio besonders pikant macht, ist der Umstand, dass seine dortigen Fehlhaltungen in starkem Kontrast standen zu seiner Haltung und Bedeutung als Wissenschaftler und theologischer Berater der Kurie und des Konzils. Auch wenn Deufels Exkurs zu Sant’Ambrogio nun durch Wolfs Studie Makulatur geworden ist, so enthält die Dissertation Deufels, dessen Methode primär autobiografisch angelegt ist, trotz gewisser Einschränkungen[8] doch insgesamt bemerkenswerte Einsichten in die Person und das Werk Kleutgens.
Endzeitstimmung und Weiterarbeit am Unfehlbarkeitsdogma
Es sind seine ungeheure Ängstlichkeit und sein mangelhaftes Selbstwertgefühl, die ihn Halt und Sicherheit im Gegenbild der ins Göttliche und ins Wunderhafte erhobenen Autorität des Papstes suchen lassen, des „Felsenmannes“, von dessen autoritativem Handeln und Entscheiden er Sicherheit erwartet, für sich und die Kirche im Ganzen. Nach Deufel hegt der Jesuit, dessen Strafe vom Papst noch einmal abgemildert wurde, auch apokalyptische Gedanken. So wähnt er Kirche und säkulare Welt in einem Endkampf, der sich zwischen christlicher Gesamtlebensordnung und freisinniger, lüsterner und gefallener Welt abspiele[9]. Angesichts dieses Entscheidungskampfes zwischen Katholizismus und Atheismus, der keine vermittelnden Positionen zulasse, huldigt Kleutgen einem religiösen Fatalismus. Von der „göttliche(n) Vorsehung“ und dem Stellvertreter Gottes auf Erden, dem römischen Papst, erwartet er die Lenkung, Festigkeit und die Entscheidung im Kampfe.
Es ist diese, ins Metaphysische und Mystische ausgreifende Gedankenwelt, die Kleutgens neuscholastisches System und Kampfprogramm anreichert, das so kongenial mit den von Papst Pius IX. in seinen zahlreichen Enzykliken und Ansprachen geäußerten apokalyptischen Bildern übereinstimmt[10]. Ganz ähnlich spiegelt sich diese Polarisierung auch in den beiden Flügeln der Konzilsväter, den Befürwortern und Gegnern des Unfehlbarkeitsdogmas wider.
„Petrus selbst hat bereits in Sizilien die Unfehlbarkeit gepredigt“
August Bernhard Hasler[11] hat die gegensätzlichen Positionen der Gruppe
der Opportunisten und der Inopportunisten unter den Konzilsvätern zusammengefasst
und gegeneinandergestellt. Dabei zeigt sich ein beachtliches Ungleichgewicht
der Begründungen der Minderheitsfraktion, insbesondere der französischen,
deutschen und österreich-ungarischen Konzilsväter einerseits und der
Bischöfe der Mehrheitsfraktion, wobei auffällig ist, dass die mitteleuropäischen
über eine wesentlich bessere theologische Ausbildung verfügten, während
in der Gruppe der Befürworter meist sehr schlichte Begründungen für
die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit vorgetragen wurden, die
mit einem naiven Glaubensverständnis einhergingen. So schildert zum Beispiel
ein historisches Dokument, dass der Erzbischof von Messina, Luigi Natoli, in
einer Rede behauptet habe, dass „Petrus selbst in Sizilien, wo sich damals
schon Christen befanden“, bereits den Unfehlbarkeitsglauben gepredigt
habe[12].
Bemerkenswert ist nun, dass Joseph Kleutgen, so sehr er als Seelsorger empfänglich
war für mystisch-spirituelle Vorstellungen, in seinen theologisch-wissenschaftlichen
Begründungen der Kompetenzen des außerordentlichen Lehramtes
und der päpstlichen Unfehlbarkeit wie auch der Konzeption des ordentlichen
Lehramtes als notwendiger Ergänzung der päpstlichen Entscheidungsgewalt
durchaus rationale Begründungen anführte. Es mischen sich hierbei
offenbar seine Erfahrungen als Konsultor der Indexkongregation, zu dessen Aufgaben
das Aufspüren von Häresien und deren Begutachtung gehörten, mit
Strategien, um die von den Dogmen abweichenden Positionen effizient verfolgen
zu können. Bei allen Entscheidungsbefugnissen des Papstes stützt sich
Kleutgen wesentlich auf das berühmte Buch Joseph de Maistres „Vom
Papst“ (1819)[13]. Deufel geht allerdings nicht näher darauf ein, was
Kleutgen von de Maistre wirklich verdankt.
Kleutgens Rückgriff auf Ideen der Konterrevolution
Der Jesuit greift nämlich wesentliche Prämissen der politischen Theorie des französischen Laientheologen, so den Souveränitätsgedanken und den Dezisionismus auf und übernimmt diese, nur unwesentlich modifiziert, in sein Programm der Befugnisse des ordentlichen wie auch des außerordentlichen päpstlichen Lehramtes. De Maistres politische Theologie gilt sowohl für den Papst als geistlichen Herrscher wie auch für den König als weltlichen Herrscher. Insofern nun aber der Monarch keiner Person oder Instanz Rechenschaft schuldig ist und an keine Verfassung gebunden ist, seine regierende, gesetzgebende und richterliche Gewalt also allein in seiner Person konzentriert ist, hat er einen besonderen Anteil an Gottes Schöpfungsordnung. Mit seiner Verantwortung, die allein gegenüber Gott und seinen Geboten besteht, befindet sich der Regent in einem permanenten Ausnahmezustand, denn er hat im Rahmen dieser religiös begründeten Verantwortung gegenüber Gott Teilhabe an dessen schöpferischer Tätigkeit, als er – insoweit ungebunden – permanent das Recht schafft. Es sind theologisch-politisch gesprochen gottähnliche oder gar göttliche Befugnisse, die ihm mit seiner Entscheidungsgewalt über Leben und Tod, Krieg und Frieden, Recht oder Unrecht usw. zukommen. Diesem politisch-rechtlichen Phänomen monarchisch-schöpferisch-dezisionistischer Gewalt, dem Ausnahmezustand, entspricht in theologischer Hinsicht das Wunder[14]. Diese Parallelisierung von Wunder und politischem Ausnahmezustand ist eine modifizierte Form des klassischen Gedankens der Sakralität des Herrschers, theologisch gesprochen des im Römerbrief enthaltenen Diktums des Apostels Paulus: „Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt“ (Röm 13,1–7).
Das Gewissen als Appendix autoritativer Weisungen
Da der Herrscher aber immer „im Amt ist“, er seinen Räten (Ständeversammlung, Senat, Konzil, Bischofskollegium, Parlament o.ä.) gegenüber aber nicht Rechenschaft schuldig ist und die ratgebenden Versammlungen aus sachlichen Gründen auch nicht permanent tagen können, bedarf es geeigneter Lenkungs-, Kontroll- und Sanktionierungsinstrumente. Kleutgen übernimmt de Maistres Ideen in sein Konzept des ordentlichen Lehramtes, das dieses und die Kurie als ihr ausführendes Organ in die Lage versetzt, Irrlehren, Häresien, Abweichungen und schismatische Positionen, die von der vom Lehramt in Fragen des Glaubens und der Sitten autoritativ verkündeten Wahrheit abweichen, möglichst effizient zu kontrollieren und zu sanktionieren.
Da der autoritativ geäußerte Wahrheitsanspruch hierarchisch organisiert ist, es also ein wirksames Durchgriffsrecht von oben nach unten gibt, wird in diesem dezisionistischen System, wie es die Neuscholastik als geschlossenes System entwickelt hat, das Gewissen des Gläubigen zwangsläufig zu einem passiv-rezeptiven Organ degradiert, das dem Typus der Gebotsethik zuzurechnen ist. Eine auf dem persönlichen Gewissen beruhende Tugendethik, wie sie Thomas von Aquin intendiert, ist dem heteronomen Moralverständnis diametral entgegengesetzt. Somit sind die Kompetenzen des Papstes und seines monarchischen Systems weit umfassender als etwa in der Theorie des Leviathan von Thomas Hobbes, der gerade Theologen oft als Inbegriff des Atheismus und der Widerchristlichkeit gilt[15]. Denn Hobbes unterscheidet immerhin zwischen der äußeren Gesetzeskonformität, die der Staat (legal) einfordern kann, und der inneren, moralischen Gesetzeskonformität, die Sache des einzelnen Christen bzw. Bürgers ist.
Das Unfehlbarkeitsdogma und die Folgen
Die Konstruktion des außerordentlichen und des ordentlichen Lehramtes und dessen Dogmatisierung durch das I. Vatikanums ist folgenreich. Zunächst werden durch die dogmatische Konstitution der Infallibilität des Papstes und die mit dieser korrelierenden Konzilsdekrete die bisher bestehenden Rechte der Bischöfe beseitigt und der Unfehlbarkeitsanspruch des Papstes in integralistischer Weise (Überordnung von Glaubensgrundsätzen über die allgemeine Moral und Ethik) auch auf die lehramtliche Interpretation reiner Vernunfterkenntnisse und Sittlichkeitsprinzipien ausgedehnt. Unter Rückgriff auf das vom Vatikanum ebenfalls beschlossene Dogma, dass Gott mit der natürlichen Vernunft sicher erkannt werden kann[16], werden folglich explizit in den Ehe- und Sexualenzykliken Casti connubii Papst Pius‘ XI. (1930), Humanae vitae Papst Pauls VI. (1968) und dem Apostolischen Schreiben Familiaris consortio Papst Johannes Pauls II. (1981) sowie einer Vielzahl weiterer lehramtlicher Dokumente die betreffenden sexualethischen Normen in den Rang unfehlbarer Lehren erhoben, denen der Katholik mit glaubensmäßigem Gehorsam zu folgen hat.
Die Interpretation des Naturrechts im neuscholastischen System ist ein Privileg des kirchlichen Lehramts. Es ist demnach ein kirchlich angeleitetes, kontrolliertes und sanktioniertes „Naturrecht“, was ein Widerspruch in sich ist[17]. Johannes Paul II. hat schließlich in dem Motu proprio Ad tuendam fidem (1998) die Unfehlbarkeit auch der päpstlichen Verkündigungen gemäß den Regeln des ordentlichen Lehramtes ins Kirchenrecht aufgenommen. Kardinal Joseph Ratzinger hat als Präfekt der Glaubenskongregation das Motu proprio in seinem lehrmäßigen Kommentar zur Professio fidei (1998) erläutert[18]. Entgegen den Intentionen des Motu proprio und der Kommentierung durch Joseph Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation heißt es in einem seiner früheren wissenschaftlichen Artikel: „Das ,Naturrecht‘ sollte das positive Recht der Kirche decken, wurde aber seinerseits vom positiven Recht der Kirche gehalten. In dieser eigentümlichen Verquickung von Naturrecht und positivem Glaubensrecht liegt die Problematik der Situation der Kirche in der Neuzeit, in der Zeit der Umstellung von einer rein kirchlichen auf eine weltanschaulich gemischte Gesellschaft.“[19]
„Wegerklären“ des Dogmas
Zu den bedeutendsten Kritikern des päpstlichen Unfehlbarkeitsdogmas gehört der katholische englische Historiker Lord Acton (1834–1902)[20], ein Schüler Ignaz Döllingers, der als Konzilsbeobachter seinen Lehrer mit wichtigen Konzilsinterna versorgte, die dieser in seinen berühmten Artikeln in der Augsburger Allgemeinen Zeitung (1869) veröffentlichte[21]. Acton, der als Mitglied des Oberhauses für den britischen Premierminister William Ewart Gladstone das Vatikanische Konzil beobachtete, lehnte wie Döllinger das Unfehlbarkeitsdogma als willkürlich und theologisch-historisch unbegründet ab. Vor allen Dingen galt seine Kritik dem Umstand, dass durch das Unfehlbarkeitsdogma die kriminellen Machenschaften früherer Päpste legitimiert würden.
Die unsittliche Einstellung der Katholiken zur Religion, bestand für Acton darin, dass man glaubt, „die Sünde höre auf Sünde zu seyn, wenn sie für die Zwecke der Kirche begangen wird. Raub ist nicht Raub, Lüge nicht Lüge, Mord nicht Mord, wenn sie durch religiöse Interessen oder Autoritäten sanktionirt sind. […] Wir haben da einen viel schlimmern Gegner als den Protestantismus, weil Protestantismus mit der strengsten Moral sich verträgt und weil diese Richtung eben die Quelle der Wahrheit, die Heilmittel der Kirche vergiftet.“[22] Mit Döllinger stritt Acton sich in einem entscheidenden Punkt. Während der Kirchenhistoriker auf eine Rücknahme des Dogmas hoffte, war der Engländer der Ansicht, dass die Kirche zu einem solchen Schritt nie bereit sein werde, so das Dogma lediglich „wegerklärt“ werden könne. Beide stimmten jedoch „darin überein, dass unter Katholiken eine unmoralische Einstellung zur Religion existierte“.
In einem Artikel in der Zeitschrift Publik kommt Walter Kasper dem Gedanken des „Wegerklärens“ von Lord Acton nahe, wenn er schreibt: „Die Überwindung des Triumphalismus durch das Vatikanum II betrifft also auch das Wahrheitsverständnis der Kirche und fordert eine neue und tiefere Interpretation des Begriffs der Unfehlbarkeit. Dieser Begriff gehört zu der noch unbewältigten Vergangenheit des Vatikanum I.“[23]
„Zuerst das Gewissen, dann der Papst“
Auch der englische Kardinal John Henry Newman (1801–1890), hielt es für inopportun, das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes zu positivieren. Aber wie die anderen Bischöfe der Minderheitsfraktion unterwarf auch er sich dem päpstlichen Anspruch. In seinem berühmten Bonmot zum Verhältnis von Papst und persönlicher Verantwortung spielt er auf die klassische moraltheologische Norm der Gewissensfreiheit an, wenn er sagt: „Sicherlich werde ich, wenn ich im Nachtischstoaste die Religion bringen muss (was freilich nicht ganz unser Fall zu sein scheint), auf den Papst trinken, wenn’s so genehm ist; doch nein, auf’s Gewissen zuerst und nachher auf den Papst.“[24]
Rudolf Uertz, 1985–1991 Lehrbeauftragter für Christliche Sozialethik an der Universität Siegen; Professor für Politikwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
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