Theo Mechtenberg
Der beschwerliche Weg polnisch-ukrainischer Versöhnung


Der 11. Juni 1943 war ein Sonntag. An diesem Tag überfielen Einheiten der ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) in Wolhynien an die hundert Ortschaften, ermordeten die dort lebenden Polen, brannten ihre Häuser nieder und zerstörten ihre Kirchen. Und sie verschonten auch jene Ukrainer nicht, die ihren verfolgten polnischen Nachbarn Schutz gewährt hatten. Auch ihrer sollte man gedenken, zumal schätzungsweise 2500 Polen durch ihren mutigen Einsatz gerettet wurden und weit über tausend dieser ukrainischen „Gerechten“ dafür mit ihrem Leben bezahlten[1].

Dieser „Blutige Sonntag“ war der Höhepunkt einer im Herbst 1942 beginnenden und bis in das Jahr 1943 andauernden ethnischen Säuberung, der in Wolhynien und Ostgalizien schätzungsweise 120 000 Polen, zumeist Alte, Frauen und Kinder, im Namen eines Kampfes um eine unabhängige, ethnisch reine Ukraine zum Opfer fielen. Damit endete eine über ein halbes Jahrhundert währende friedliche Nachbarschaft zwischen römisch-katholischen Polen und orthodoxen Ukrainern.

Heute, 70 Jahre nach diesen schrecklichen Ereignissen, gibt es nur noch wenige Überlebende dieser Massaker. Und diese Zeitzeugen fühlen sich weitgehend vergessen, bedauern, dass dieser „Völkermord“ nicht den ihm gebührenden Platz im polnischen Nationalbewusstsein gefunden hat, dass ihre Bemühungen, in der Ukraine durch Gedenksteine das Gedächtnis der Opfer wach zu halten, keine staatliche Unterstützung finden und dass, wie sie meinen, ihr Anliegen von ihren eigenen Politikern als ein Hindernis guter Beziehungen zur Ukraine angesehen werde. Sie beklagen zudem, dass in der Ukraine die Verbrechen der UPA und der Organisation Ukrainischer Nationalisten OUN kaum wahrgenommen oder verdrängt werden, dass dort ihre rot-schwarze Fahnen öffentlich gezeigt und ihre Anführer als nationale Helden verehrt werden.

Gedenkveranstaltungen zum 70. Jahrestag

Erstmals fanden in der polnischen Nachkriegsgeschichte die 70 Jahre zurückliegenden Massaker ein breites öffentliches Interesse. In den Jahren kommunistischer Herrschaft waren sie politisch tabu. Erst mit dem aus dem Sieg der Solidarnosc hervorgegangenen freien Polen, dem Ende der Sowjetunion und der Entstehung einer unabhängigen Ukraine war es grundsätzlich möglich, jener schrecklichen Ereignisse öffentlich zu gedenken. Doch die polnische Staatsräson gebot, dieses Gedächtnis einer Ostpolitik unterzuordnen, deren Ziel es war, die Ukraine in ihrer Selbständigkeit gegenüber russischen Hegemoniebestrebungen zu stabilisieren und für eine westeuropäische Option zu gewinnen. Dabei spielte die Hoffnung eine Rolle, die Ukraine könne im Gegenzug ihre belastete Vergangenheit aufarbeiten und sich der Wahrheit über die in Wolhynien und Ostgalizien verübten Morde stellen. Da dies bis heute nicht geschehen ist, scheint sich in Polen die Einsicht durchzusetzen, dass die bislang geübte Zurückhaltung letztendlich einer polnisch-ukrainischen Verständigung mehr schaden als nützen werde. Schließlich kann Verständigung zwischen Völkern, und erst recht Versöhnung, nicht auf Verdrängung historischer Wahrheit basieren. Andererseits liegt es im Interesse polnischer Ukrainepolitik, dass die historische Erinnerung nicht zum Anlass neuerlicher Feindschaft wird, sondern dem Ziel binationaler Versöhnung dient.

Das Gedenken der in Wolhynien und Ostgalizien verübten Bluttaten war denn auch von der Absicht bestimmt, die ukrainische Seite nicht durch überscharfe Formulierungen zu provozieren. So verabschiedete der polnische Sejm eine Erklärung, in welcher der von „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) beantragte Terminus „Völkermord“ nach lebhafter Debatte durch die Formulierung „ethnische Säuberung mit Merkmalen eines Völkermords“ abgemildert wurde. Zuvor hatte Außenminister Radoslaw Sikorski eindringlich vor einer Demütigung der Ukraine gewarnt. Staatspräsident Bronislaw Komorowski enthüllte in Warschau ein den Opfern jener ethnischen Säuberung gewidmetes Denkmal. Anschließend begab er sich in die ukrainische Stadt Lusk, wo er in der katholischen Kathedrale an einem Gedenkgottesdienst teilnahm. Er mahnte Polen und Ukrainer zur Versöhnung und verwies – ohne Moskau beim Namen zu nennen – darauf, dass aus polnisch-ukrainischen Konflikten immer ein Dritter Nutzen gezogen habe. Auch fand erstmals in Warschau ein am 11. Juli von verschiedenen Gruppierungen, darunter auch PiS, organisierter Marsch zu Ehren der Opfer statt, bei dem allerdings auf manchen Transparenten die in Wolhynien und Ostgalizien verübten Verbrechen, wie von PiS gefordert, ohne Wenn und Aber als „Völkermord“ bezeichnet wurden. Auch wurden auf Transparenten und in Äußerungen Staatspräsident Komorowski und die von Donald Tusk geführte Regierung beschuldigt, die nationalen Interessen gegenüber der Ukraine nicht ausreichend zu wahren. Schließlich gab es eine reichlich besuchte, vom Institut für das Nationale Gedenken (IPN) erarbeitete Ausstellung „Wolhynien 1943“.

Eine Versöhnungsbotschaft der Kirchen

Von besonderer Bedeutung ist jener Akt, der am 28. Juni 2013 in Warschau vollzogen wurde. An diesem Tag riefen Erzbischof Swiatoslaw Szewczuk im Namen der griechisch-orthodoxen Kirche der Ukraine sowie der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, Erzbischof Józef Michalik, in einer gemeinsamen Erklärung Polen und Ukrainer zu wechselseitiger Versöhnung auf. Im Text heißt es: „Zigtausende unschuldiger Personen, darunter Frauen, Kinder und Alte, vor allem Polen, wurden Opfer von Verbrechen und ethnischen Säuberungen. […] Der 70. Jahrestag dieser tragischen Ereignisse bildet eine erneute Gelegenheit, mit einem Appell Polen und Ukrainer zu weiteren Schritten brüderlicher Annäherung aufzurufen, die ohne eine aufrechte Versöhnung unmöglich ist.“[2]

Die Hierarchen verweisen weiterhin darauf, dass Versöhnung die Kenntnis und Anerkenntnis der historischen Fakten bedarf. Sie wenden sich gegen eine Politik des Vertuschens und Vergessens, von der man irrtümlich glaube, dadurch den guten polnisch-ukrainischen Beziehungen zu dienen. Doch das Gedenken allein genüge nicht. Es komme darauf an, was mit einem solchen Gedenken geschieht, ob es bei aller Unterschiedlichkeit der Erinnerung Polen und Ukrainer eine oder sie weiterhin spalte. Mit aller Entschiedenheit verurteilen sie zudem einen radikalen Nationalismus und Chauvinismus als die eigentlichen Quellen jener und ähnlicher Massenmorde.

Unterzeichnet wurde diese Deklaration auch von dem für die in der Ukraine lebenden römisch-katholischen, fast ausschließlich polnischen Christen zuständigen Lemberger Metropoliten Erzbischof Mieczyslaw Mokrzycki. Doch er setzte seinen Namen erst nach langem Zögern unter das Papier. In einem der polnischen katholischen Nachrichtenagentur im Juni erteilten Interview beklagte er, dass im ukrainischen Geschichtsbewusstsein bis heute der von der UPA verübte Massenmord in Wolhynien und Ostgalizien kaum präsent sei oder als kriegerische Auseinandersetzung zwischen Polen und Ukrainern umgedeutet werde. Erst mit der Aufnahme des Begriffs der „ethnischen Säuberung“ in das gemeinsame Dokument war er zur Unterschrift bereit. Anzumerken ist zudem, dass das Oberhaupt der sich vom Moskauer Patriarchat losgesagten, unabhängigen Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats, Metropolit Filaret, die Erklärung ausdrücklich begrüßt hat, was angesichts der orthodoxen Mehrheit in der Ukraine von besonderer Bedeutung ist.

Schwierige Konsensfindung polnischer und ukrainischer Historiker

Für die intendierte polnisch-ukrainische Versöhnung ist – wie die Bischöfe ausdrücklich betonen – die Feststellung der historischen Wahrheit unabdingbar. Doch die kann von den Kirchen selbst nicht geleistet werden, sondern ist Aufgabe der Historiker. So traf es sich gut, dass zeitgleich in Warschau eine vom polnischen Institut für das Nationale Gedächtnis organisierte Konferenz[3] zu den 70 Jahre zurückliegenden Verbrechen stattfand, an der auch ukrainische Geschichtswissenschaftler teilnahmen und für die Staatspräsident Bronislaw Komorowski die Schirmherrschaft übernommen hatte. Dass ihr Beitrag zur Versöhnung allerdings eher bescheiden ausfällt, sollte sich auf dieser Konferenz zeigen. So nannte es Professor Adam Daniel Rotfeld auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen als Ko-Vorsitzender der polnisch-russischen Arbeitsgruppe „Schwierige Fragen“ eine Illusion, dass es bezüglich jener tragischen Geschehnisse ein gemeinsames polnisch-ukrainisches Gedächtnis geben könne: „Das Gedächtnis der Nationen ist unterschiedlich. Wir können uns über Fakten einigen, die Vorkommnisse aufklären, aber wir haben das Recht – jeder einzelne, jede Familie – auf Bewahrung des eigenen Gedächtnisses. Es ist zwar wichtig, im Falle des Gedächtnisses von Polen und Ukrainern einen Katalog der Fakten und Ereignisse zu erstellen. Aber wir haben nicht das Recht zu erwarten, dass die Nachkommen der Täter wie die der Opfer zu all dem ein gemeinsames Gedächtnis haben werden.“

Man wird nicht sagen können, dass sich polnische und ukrainische Historiker nicht um eine geneinsame Gedächtniskultur bemüht hätten. Ganz im Gegenteil. Eine derartige Zusammenarbeit gibt es seit vielen Jahren, und die Ergebnisse liegen in mehreren Bänden vor. Und die beinhalten nicht nur Übereinstimmungen in der Erhebung der Fakten, sondern vermerken auch abweichende Standpunkte bei ihrer Interpretation. Die verübten Verbrechen, die der Ukrainer wie die der Polen, werden zwar aufgelistet, doch bei den Erklärungen mangelt es nicht an Rechtfertigungen und Schuldzuweisungen. So erinnern die ukrainischen Historiker in Entgegnung auf den Vorwurf der von der UPA verübten Massenmorde an „Racheaktionen“ der polnischen Heimatarmee. Darauf reagieren ihre polnischen Kollegen mit der Feststellung, dass zwar auch die Heimatarmee ukrainische Zivilisten getötet hätten, doch den über 100 000 polnischen Opfern stünden lediglich 10 000 ermordete Ukrainer gegenüber. Und auch um die Höhe der Zahlen wird gestritten. Da diese ohnehin auf Schätzungen beruhen, sind die Historiker bemüht, die Angaben zu den Verbrechen der eigenen Seite möglichst niedrig, die der Gegenseite dagegen möglichst hoch anzusetzen. Zudem bringen ukrainische Wissenschaftler immer wieder die unter der polnischen kommunistischen Führung 1947 unter dem Code „Wisla“ durchgeführte Umsiedlungen der im östlichen Grenzgebiet beheimateten Ukrainer ins Spiel, die aber – wie die polnische Seite entgegnet – zu den ethnischen Säuberungen in keinem Vergleich stünden. Bohdan Skaradzinski, Publizist und Ukrainekenner, zieht in einer Besprechung der vorliegenden Bände eine kritische Bilanz: „So setzen Polen und Ukrainer zum eigenen Schaden gemeinsam die bösen Geister frei, als hätten uns deutscher Hitlerismus und russischer Kommunismus – Arm in Arm – noch zu wenig Unheil beschert. Unsere Nachgeborenen werden daraus keine Lehre ziehen, wenn Polen und Ukrainer, wie gehabt, an die Brust schlagen – die Polen an die ukrainische, die Ukrainer an die polnische.“[4]

Reinigung des Gedächtnisses und nationale Identität

Besonders schwer mit einer Reinigung des Gedächtnisses tut sich die ukrainische Seite. Dafür ist einer der Hauptgründe die Problematik ihrer nationalen Identität. Dies betonte auf der Warschauer Konferenz Professor Tomasz Nalec, Berater des polnischen Staatspräsidenten: „Wir Polen müssen vor allem darum bemüht sein, die Bedingtheit des ukrainischen Gedächtnisses zu verstehen.“ Zur Begründung seiner These verwies er auf die dramatische Geschichte der Ukrainer im 20. Jahrhundert, „die – im Gegensatz zu den Polen – in der ersten Jahrhunderthälfte in keinem unabhängigen Staat lebten. Für einen Historiker ist es nur allzu verständlich, dass das geschichtliche Gedächtnis ein unerhört wichtiges Element des Nationalbewusstseins bildet, insbesondere für ein frisch gewonnenes. […] In diesem Fall wird die Geschichte häufig idealisiert als eine Geschichte eigener Verdienste und fremder Vergehen.“ Dies bedeute, „dass man beim Aufbau partnerschaftlicher Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine die sich aus eben dieser Idealisierung ergebenden Gefahren berücksichtigen müsse.“

Doch es ist nicht nur die verspätete Staatswerdung, die ein „gereinigtes“ Nationalbewusstsein so erschwert. Als die Ukraine am 24. August 1991 ihre Unabhängigkeit erlangte, war dies ja nicht das Ergebnis eines Unabhängigkeitskampfes. Es gab zwar mit „Ruch“ eine ukrainische Unabhängigkeitsbewegung, doch nicht ihr, sondern dem Zerfall der Sowjetunion verdankt die Ukraine ihre Selbständigkeit. Entsprechend versank denn auch „Ruch“ bald in die politische Bedeutungslosigkeit. Die politische wie auch die ökonomische Macht im neu erstandenen Staatswesen übernahm die alte sowjetische, nunmehr national gewendete Nomenklatura. Der Unabhängigkeit der Ukraine ging somit kein innerer Demokratisierungsprozess mit der Herausbildung einer Zivilgesellschaft voraus und folgte ihr bis heute in einem eher äußerst bescheidenen Maß. An einer Reinigung des Gedächtnisses bestand und besteht unter diesen Umständen kaum ein Interesse, und es fehlen dazu auch die zivilgesellschaftlichen Kräfte.

Zu diesem Defizit kommt noch ein weiteres Faktum hinzu – der Mangel an nationaler Einheit. Haben OUN und UPA ihre ethnischen Säuberungen politisch-ideologisch mit dem Kampf um eine unabhängige, ethnisch reine Ukraine begründet, so haben wir es heute – Ironie der Geschichte – mit einer Ukraine zu tun, deren Bevölkerung schätzungsweise zu einem Drittel aus Ukrainern russischer Herkunft besteht. Doch nicht nur das: Die Ukraine leidet zudem unter den Folgen einer Jahrhunderte währenden Russifizierung aus der Zarenzeit und der Sowjetunion. So ist der Gebrauch der ukrainischen Sprache keineswegs selbstverständlich. Ganz im Gegenteil: unter dem Offizierskorps, im Fernsehen, ja selbst im Staatsapparat herrscht Russisch vor, dazu eine Sprache, die durch die Jahrzehnte sowjetischer Ideologisierung beschädigt ist. Und weil die Westukraine weniger, die Ostukraine dafür umso mehr von der Russifizierung betroffen ist, erschwert dieser Umstand zusätzlich die nationale Einheit und damit auch eine mögliche Reinigung des nationalen Gedächtnisses.

Fragt man angesichts dieser historischen Vorgaben, worauf sich das ukrainische Nationalbewusstsein stützen kann und faktisch stützt, dann ergibt sich ein widersprüchliches Bild. Ein unbestrittenes Element nationalen Bewusstseins ist der von Stalin inszenierte Völkermord der Großen Hungersnot der Jahre 1932-1933, durch die schätzungsweise drei Millionen Ukrainer starben. Ein weiteres Element bildet der Vaterländische Krieg der Jahre 1941 – 1944, an dem Millionen Ukrainer als Rotarmisten teilnahmen. Die Ukraine erlitt in diesen Kriegsjahren gewaltige menschliche und materielle Verluste. Schätzungsweise kamen sieben Millionen Ukrainer in jenen Jahren ums Leben; sie fielen an der Front oder wurden in der Heimat ermordet. Schließlich als drittes Element der gegen Polen und Russen gerichtete Freiheitkampf von OUN und UPA mit ihren Helden und ihrem Martyrologium. Diese drei Elemente stehen zu einander in einer deutlichen Spannung, vor allem die ukrainischen Nationalisten zu den Veteranen des Vaterländischen Krieges.

Das nationale Gedächtnis der Ukrainer ist damit vor allem durch ihre Leidensgeschichte geprägt. Und wer sich als Opfer versteht, ständig von mächtigen Nachbarn bedroht, der relativiert nur zu leicht das eigene Tätersein, wenn es ihm nicht gar gänzlich aus dem Blick gerät. Für eine Reinigung des nationalen Gedächtnisses bleibt da kein Platz. Für diese Problematik sollte man allerdings angesichts mancher Parallelen in Polen Verständnis haben. Zu erinnern ist etwa an die Diskussion, die in Polen durch das im Jahr 2000 veröffentlichte Buch „Nachbarn“ von J. Tomasz Gross ausgelöst wurde, das die grausamen Morde an den Juden im ostpolnischen Städtchen Jedwabne behandelt, die im Juli 1941 von ihren polnischen Mitbewohnern verübt wurden. Damals gab es in der Öffentlichkeit manche Stimmen, die sich einer Reinigung des Gedächtnisses verweigerten und alle möglichen Ausflüchte und Erklärungen fanden, um diese Untaten nicht als Teil des nationalen Gedächtnisses akzeptieren zu müssen. Auch an diesem Beispiel zeigt sich, dass ein in einer an Unterdrückung und Verfolgung reichen Geschichte ausgeprägtes nationales Selbstbild die eigene Opferrolle kultiviert und den eigenen Heroismus betont. Und dass damit die Verdrängung geschichtlicher Inhalte einhergeht, die in dieses Bild nicht hineinpassen oder es gar in Frage stellen.

Aufforderung zu weiteren Schritten

Die Teilnehmer der Warschauer Historikerkonferenz dämpften die Hoffnung, mit der Erklärung der Kirchenführer könne in kurzer Zeit eine gesamtgesellschaftliche Versöhnung erreicht werden. So unterstrich Professor Rotfeld: „Versöhnung, Annäherung der Völker, sind niemals das Ergebnis einmaliger großer Akte.“ Er erinnerte in diesem Zusammenhang an den deutsch-polnischen Dialog, der in der kommunistischen Volksrepublik begonnen wurde und erst nach Jahrzehnten Früchte getragen habe. So steht denn auch die Erklärung vom 28. Juni 2013 in der Tradition des Briefwechsels polnischer und deutscher Bischöfe vom November 1965. Er war – im Rückblick betrachtet – ein erster Durchbruch zu einem langjährigen beiderseitigen Versöhnungsprozess. Er löste in beiden Gesellschaften kontroverse Diskussionen aus, ehe er auf der politischen Ebene zu einer schrittweisen Annäherung und Verständigung führte. Getragen wurde dieser Prozess von einer Fülle von Basisinitiativen, gleichsam als Fundament der amtskirchlichen und politischen Bemühungen, ohne die diese wohl ins Leere gelaufen wären. In diesem Sinne äußerte sich Professor Nalec, indem er darauf verwies, dass man nicht im polnisch-ukrainischen Verständigungsprozess die ganze Verantwortung allein den Kirchen anlasten dürfe: „Jeder von uns – gesellschaftliche Gruppen und staatliche Institutionen, Wissenschaftler, Journalisten, Politiker und Diplomaten – haben ihren Teil zu dieser gemeinsamen Arbeit beizutragen.“

Entsprechende Ansätze gibt es bereits. Es finden sich auf ukrainischer Seite Partner, die zu Versöhnungszeichen bereit sind. Gemeinsam werden an Erinnerungsorten Kreuze und Gedenksteine errichtet sowie Gedenkgottesdienste gefeiert; Freundschaften entstehen, ein Jugendaustausch bringt die Jugend beider Völker einander näher. Ein weiterer Schritt wäre es, mit ukrainischer Mithilfe die zahlreichen Massengräber zu identifizieren und den Opfern eine würdige letzte Ruhestätte zu bereiten. Derlei Initiativen wären nicht nur ein Zeichen der Versöhnung, sie könnten auch dazu beitragen, dass sich die Ukraine der dunklen Seite ihrer 70 Jahre zurückliegenden Geschichte stärker bewusst wird.


© imprimatur November 2013
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[1]Diese Zahlen ermittelt Romuald Niedzielsko in seinem Buch „Kresowa ksiega sprawiedliych 1939-1945. O Ukraincach ratujacych Polaków poddanych eksterminacji przez OUN i UPA“ (Grenzlandbuch der Gerechten. Über Ukrainer, die Polen vor der Vernichtung durch OUN und UPA gerettet haben), IPN 2007.
[2]Odwaga ludzi kosciola (Ein mutiger Schritt kirchlicher Amtsträger), Tygodnik Powszechny 27/17, Juni 2013, S. 24.
[3]http://wiadomosci.onet.pl/kraj/konferencja-o-zbrodni-wolynskie-prawda-jest-jedna. (15. 07. 2013)
[4]B. Skaradzinski, Uwaga na Wschód: Stare dzieje i zle demony (Vorsicht Osten: Alte Geschichte und böse Dämonen), Wiez 4/2007, S. 124.