Selber glauben, selbständig handeln! |
Ehe alles zu spät ist |
Zwischen Glaubenseifer und Machtpolitik |
Seit wir Katholiken einen Papst haben, der sich den Namen Franziskus gegeben hat, weil er den Platz der Kirche an der Seite der Armen sieht, wurde bei vielen die Hoffnung geweckt, dass der Jesus der Evangelien mit seiner Parteinahme für die Benachteiligten endlich wieder zur bestimmenden Mitte unseres Glaubens werden könnte. Viele, die heute die Kirche verlassen, machen ihr zum Vorwurf, Jesus dort nicht mehr begegnet zu sein. Dazu gehört auch die Klage, die Priester seien zu wenig bemüht, in ihren Predigten den Gläubigen zu helfen, einen heute verantwortbaren Glauben zu entwickeln. Selbst als sie noch Seelsorger für eine einzige Gemeinde waren, hätten sie bloß überkommene Glaubenslehren gefestigt statt sich zu bemühen, die Erkenntnisse der modernen Bibelforschung wie die der Human- und Naturwissenschaften in ihre Auslegung einzubeziehen. Oder wollte man die Gottesdienstteilnehmer bewusst nur zu gehorsamen Gläubigen machen, fragen sich nicht wenige. Wer aber von einem Prediger Impulse zu einem vertieften Nachdenken über den Glauben und das Leben erwartet, geht nun lieber ins Museum. Denn „man setzt sich dort mit Fragen auseinander, die jenseits des Alltags liegen, und man trifft dabei auf Menschen, die dies gleichfalls tun.“ Das stellte vor kurzem ein Museumsdirektor selbst im gut katholischen Krakau fest, und verwies dabei auf die immer leerer werdenden Kirchen.
Eine Neuausrichtung des christlichen Glaubensverständnisses
Die Rückbesinnung auf Jesus und seine befreiende Botschaft wird Unruhe in die Kirche bringen und die Notwendigkeit nach grundsätzlicher Veränderung erkennen lassen, das weiß auch der Papst. Und er scheut vor Provokationen nicht zurück. Seine Begegnung in Brasilien mit den Linkspolitikern und seine herzliche Umarmung von Evo Morales aus Bolivien war gewiss eine starke Provokation, soll sie doch zeigen, wie er heute Christsein versteht „Um Christ zu sein, muss man Revolutionär sein“, soll der Papst gesagt haben. Mag dieser Satz (wirklich gesprochen oder ihm in den Mund gelegt, vgl. SZ v. 5. Sept. 2013) zunächst auf den Kampf um eine gerechtere Verteilung der Güter bezogen sein, so enthält er doch zusammen mit dem Bild „Pontifex umarmt Linkspopulist“ ein gehöriges Befreiungspotential, gar eine Neuausrichtung des christlichen Glaubensverständnisses.
Der an der Universität Koblenz – Landau lehrende Theologe Wolfgang Pauly hat ein Buch geschrieben, das jetzt gebraucht wird, um zu verstehen, welche Konsequenzen es hat, wenn wir uns von einem Lehrsatzglauben verabschieden und unsern Glauben mit unserm heutigen Wissen ganz auf Jesus den Christus ausrichten, wie ihn die Evangelien bezeugen. Der Titel „Der befreite Jesus. Unterwegs zum erwachsenen Christusglauben“ lässt auf ein Ratgeberbuch schließen, das Glaubende zu einem reifen Christsein führen will. Seine inhaltliche Gliederung in einen sehr kurzen ersten Teil „Was können wir wissen?“, in einen sehr umfangreichen zweiten Teil „Was dürfen wir glauben?“ und einen abschließenden dritten Teil „Was sollen wir tun?“ lässt die Erwartung aufkommen, W. Pauly könne uns klare Antworten geben, die unserm bisherigen Glauben die gehörigen Wachstumsimpulse verschafften. Doch das Buch will etwas anderes. Es will, dass wir eine Kehrtwende in unserm Glaubensverständnis vollziehen. Damit trifft es zusammen mit einer in der kürzlich erschienenen Enzyklika Lumen Fidei gemachten erstaunlichen Aussage (in dem von Papst Franziskus bestimmten Schlussabschnitt), das Bekenntnis des Glaubens bedeute „keine Zustimmung zu einer Gesamtheit von abstrakten Wahrheiten“. (Vgl. Artikel von L. Boff auf Seite 228) Hier leuchtet ein Neuansatz auf, der in dem Buch schon weitergedacht ist. Glauben bedeutet für W. Pauly nicht mehr, an den faktischen Wahrheitsgehalt von Dogmen und Lehren zu glauben, es heißt vielmehr sein gesamtes Leben in Beziehung bringen zur Umkehrforderung Jesu. Daraus entwickelt er eine „relationale Christologie“, deren Bedeutung er uns in seinem Buch nahe bringen will.
Glaube als Beziehungsgeschehen
Dieses Modell der Beziehungs-Christologie geht ganz vom relationalen Wesen des Menschen aus wie M. Buber ihn sieht, angewiesen auf Dialog und Beziehung. Jesus habe nun „durch die Wiederherstellung guter Beziehungen unter den Menschen (den) Boden und die Bedingung der Möglichkeit himmlisch guter Erfahrungen geschaffen“ (208). Sein Verhalten zu den Menschen lasse sich als Umsetzung dessen verstehen, was wir in seinen Gleichnissen ausgesprochen finden: eine Veränderung der Perspektive mit praktischen Folgen für ein beziehungsreiches Leben. Jesus stelle traditionelle Maßstäbe der Bewertung von Menschen infrage und lasse sich in seinem Heilshandeln ganz auf den konkreten einmaligen Menschen ein. Indem wir uns zu seinem Lebensmodell in Beziehung setzen, wird unser Glaube zur „Lebenspraxis nach neuen Lebenskoordinaten.“
Das Reich Gottes im eigenen Handeln erfahren
Indem Menschen sich auf diese von Jesus vorgelebten liebevollen Beziehungen zueinander einlassen, geschieht spürbar und erlebbar „Reich Gottes“. Statt unter dem Einfluss der griechischen Philosophie Gott als eine an sich seiende Realität zu verstehen, zu der Menschen nur durch einen Vermittler in Beziehung treten können, sieht W. Pauly in Jesu Rede vom „Reich Gottes“ eine neue Art der Gottesbegegnung gegeben. Das in den biblischen Gleichnissen „zur Sprache kommende ,Reich Gottes’ (ist) eben nicht eine bereits an sich vorhandene Wirklichkeit, mit der man sich dann sekundär in Beziehung setzen könnte. ,Reich Gottes’ ist vielmehr Prädikat, deutendes Attribut einer konkreten, liebevollen Beziehung der Menschen zu einander.“(114) So bedürfe es keines Vermittlers. Wo z. B. Menschen wie im Gleichnis vom barmherzigen Vater lebten, seien sie „homoousios“, „wesenseins“ mit dem Gottesreich (114), demnach „wesentlich in und bei Gott“ (116). So spielt der Begriff der Relationalität in der Christologie des Autors gleich eine mehrfache Rolle. Wichtig für den Glaubenden wird Jesu vorgelebte neue Beziehung zu den Menschen. Indem er sich zu diesem beziehungsreich lebenden Jesus in Beziehung bringt, verändert sich sein Verhältnis zu den Mitmenschen und er verwirklicht auf neue, kreative Weise „himmlisch gute“ Beziehungen. Auf solche Weise geschieht für ihn „Christopraxie“ und damit auch „Christogenese“ in unserer Zeit.
Im Laufe der Kirchengeschichte habe sich aber der Glaube als „Beziehungsgeschehen“ mit einer „personellen Erfahrungswirklichkeit“ zu einem Glauben an objektiv begründbare Tatsachen und Wahrheiten verändert. Schon die frühchristlichen Kirchenväter und die Konzilien hätten aus den biblischen Hoheitstiteln, die als Deutungsaussagen der ersten Christen für ihr eigenes Beziehungsverhältnis zu Jesus als dem Christus zu verstehen sind, zu abstrakten Wesensaussagen gemacht, die als Glaubenswahrheiten von der Kirche für jeden Gläubigen verpflichtend gemacht wurden. Ansonsten „anathema sit“, sei er ausgeschlossen und verurteilt.
Die Rolle der tradierten Glaubensdokumente für den Beziehungsglauben
Ausgehend von seiner Beziehungschristologie nimmt der Autor den Leser mit auf sein spannendes Unternehmen, die ntl. Bibeltexte sowie die christologischen Dogmen mit dem daraus hervorgegangenen apostolischen Glaubensbekenntnis als Bekenntnisliteratur und somit als „relationale“ Texte zu deuten. Jede Verobjektivierung ablehnend und sich dabei unter anderem auf Arbeiten der Saarbrücker Theologen Karl-Heinz Ohlig und Gotthold Hasenhüttl stützend fragt er in einzelnen Exkursen nach „Reichweite und Grenzen“ der Konzilsentscheidungen, auch nach „Sinn und Unsinn“ oder der „Unangemessenheit“ einzelner Lehren. Sympathisch ist dabei sein Eintreten für die verurteilten „Irrlehrer“ indem er fragt, wieweit auch sie das „Befreiungspotential“ der Reich-Gottes-Botschaft entdeckt oder verkannt haben. Dass diese gerade durch die „rechtgläubigen“ Theologen ins Gegenteil verkehrt wurde, weil sie ohne Erfahrungsbezug ihre unter den politischen Rahmenbedingungen ihrer Zeit gemachten theologischen Aussagen zu absoluten Wahrheiten verobjektiviert haben, zeigt ein erschreckend antijüdisches Zitat des Hl. Ambrosius, damals Bischof von Mailand. (118) Er bezeichnet die Synagoge als „Ort des Unglaubens, Stätte der Gottlosigkeit, Schlupfwinkel des Wahnsinns, den Gott selbst verdammt hat“. Schließlich war es das anmaßende kirchliche Glaubensverständnis, im Besitz ewiger Wahrheiten zu sein, das zu den Verbrechen christlicher Judenfeindlichkeit und zu den Grausamkeiten bei der Zwangsmissionierung geführt hat.
Befreiter Glaube
Wenn in dem von Papst Franziskus stammendem Schlussteil der neuen Glaubensenzyklika Lumen Fidei eine Wende im Glaubensverständnis angesprochen ist, dann liefert uns das Buch von W. Pauly dazu eine an der neueren Jesusliteratur orientierte und konsequent durchdachte Einführung in ein Glaubenskonzept ohne Fixierung auf endgültige Wahrheiten. Irritierend ist für mich allerdings der Titel. Geht es doch in dem pädagogisch geschickt aufgebauten Buch um einen von Dogmen „befreiten Glauben“. Die Formulierung „der befreite Jesus“ erweckt die Illusion, wir könnten je zu einem historisch echten Jesusbild gelangen. Aber wir haben immer „nur“ die zeitgebundene personale Bekenntnisliteratur seiner Jünger in Händen. Und die führt uns auf die Spur der Reich-Gottes-Verwirklichung. Wer sich mit Papst Franziskus auf den Weg zu diesem Herzensanliegen Jesu begibt, den alten fremdgesteuerten Wahrheitsglauben aufgibt, der weiß noch nicht, wohin er gelangen wird. So könnte es möglich werden, dass der Papst merkt, der Zulauf der Armen zu evangelikalen Pfingstkirchen lässt sich nur durch eine intensive seelsorgerische Zuwendung stoppen. Aber die können die wenigen Priester nicht mehr leisten. Möglich wäre es mit Hilfe der Frauen. Auch dafür tritt dieses Buch ein. Es ist ein wichtiges Buch für die jungen Menschen, die einmal in den Schulen die Kinder zu einem humanen Beziehungsglauben hinführen möchten. Für alle kirchlichen Amtsträger wie für ältere Gläubige ist es ein Schulungsbuch zu einem befreiten Glauben, also zum Umdenken und Infragestellen überkommener Glaubensgewohnheiten, die einen schon lange mit Unbehagen belastet haben. Das Vorgängerbuch Wolfgang Paulys „Abschied vom Kinderglauben. Ein Kursbuch für aufgeklärtes Christsein“ von 2008 ist bereits in der dritten Auflage erschienen.
Wolfgang Pauly, Der befreite Jesus. Unterwegs zum erwachsenen Christusglauben, Publik-Forum Edition, März 2013, 247 Seiten
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Werner Müller
Erwin Teufel, Ehe alles zu spät ist
Kirchliche Verzagtheit und christliche Sprengkraft,
Freiburg: Herder 2013 (175 S. , 14,99 €)
Dass ein gestandener Politiker nach dem Ende seiner langen und erfolgreichen politischen Karriere ein theologisches, kirchenkritisches Buch schreibt, ist für sich schon bemerkenswert. Es verdient aber nicht nur wegen seines Verfassers, sondern hauptsächlich seines Themas wegen Beachtung: die Dringlichkeit einer umfassenden Reform der katholischen Kirche. Er schreibt selbst in aller wünschenswerten Klarheit, worum es ihm geht: „Ich habe mich ein Leben lang und bis zum heutigen Tag in dieser Kirche engagiert. Gerade deshalb bin ich so betroffen, dass in unserer Kirche überfällige Reformen jahrzehntelang nicht auf den Weg gebracht werden. Die Themen sind alle von Theologen längst aufgearbeitet und biblisch fundiert. Konkrete Reformen werden von den aktiven Christen ungeduldig erwartet. Nicht irgendwann, sondern jetzt.“
Der von Jugend an engagierte, selbstbewusste Katholik Erwin Teufel profitiert dabei von seiner lebenslangen Erfahrung als Politiker, was sich in der klaren Analyse der ungelösten Probleme und der Dringlichkeit niederschlägt, mit der er ihre Lösung einfordert – „ehe alles zu spät ist“. Seit dem Konzil, das ja nur einen Anfang von Reformen in Gang gesetzt hat, die bekanntlich nachkonziliar zu großen Teilen auch wieder zurückgedreht wurden, und obwohl seitdem viele neue, ungelöste Fragen hinzu kamen, werden die immer gleichen Fragen, statt sie zu entscheiden, immer nochmals zur gründlichen theologischen Bearbeitung – als ob diese nicht schon längst geschehen wäre - ins innerkirchliche ,Gespräch‘, in auf Jahre angesetzte ,Dialoge‘ oder auf als ,geistliche Prozesse‘ weichgespülte Synoden u.ä. zurückgespielt. Anhand der Würzburger Synode (1971 – 75), an der der Autor selbst teilgenommen hat, wird diese Vertagung der Entscheidungen auf den Sankt-Nimmerleinstag besonders deutlich:
Inzwischen sind 40 Jahre vergangen seit der Würzburger Synode, und wir sind keinen Schritt weiter. - Man muss sich einmal 40 Jahre bildlich vorstellen: 40 Jahre wanderten die Israeliten in der Wüste von Ägypten nach Kanaan. 40 Jahre, das ist die ganze Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von der Staatsgründung bis zum Fall der Mauer und zur Wiedervereinigung. 40 Jahre, das ist das ganze Berufsleben eines Menschen nach seiner Ausbildung bis zur Rente. Und wie sehr hat sich die religiöse Landschaft in den letzten 40 Jahren in Deutschland verändert!
Wer kann es verantworten, dass 40 Jahre vergehen, ohne dass diese Voten einer Synode, die von Rom genehmigt wurde, beantwortet und beschieden und genehmigt werden? Die Synode war kein bloß beratendes Gremium. An ihr haben alle deutschen Bischöfe teilgenommen und die gewählten Vertreter der Laien aus allen Diözesen. Und alle Beschlüsse wurden mit mehr als Zweidrittelmehrheit gefasst (69 f) - und die Kirchenleitung in Rom hat von den 20 eingereichten Voten nur einem einzigen, eher nebensächlichen zugestimmt.
Erhellend ist auch, was Teufel von einem Gespräch mit dem Papst berichtet:
Mit Johannes Paul II. habe ich unter vier Augen einmal ausführlich über den Priestermangel gesprochen. Jeder Mensch ist geprägt durch das, was er sieht. Und dieser Papst hatte natürlich Polen vor Augen. Ich selber war einmal in Krakau bei einer Fronleichnamsprozession: Priester, auch junge — soweit das Auge reichte. Und wenn der Papst bei einer Audienz in Rom ans Fenster ging: auch da sah er Priester, soweit das Auge reichte. Seine Antwort damals war: „Das ist ein europäisches Problem." Er konnte sich offensichtlich gar nicht vorstellen, was bei uns das Problem ist. Er hat sich alles angehört. Seine Reaktion war immer nur: „Wir werden sehen." - Heute sehen wir - die immer größer werdenden Probleme (40 f).
Der Verfasser lässt die – leider nur allzu bekannten – Probleme in den 19 Abschnitten des Buchs nochmals Revue passieren lassen und bringt sie jeweils kurz auf den Punkt. Dabei kann er naturgemäß nichts grundlegend Neues anführen – vielleicht mit zwei Ausnahmen: einer scharfen, strukturellen Kritik des Päpstlichen Gesandtschaftswesens (Nuntiaturen) und der – auch von unserer Zeitschrift immer wieder kritisierten – inflationären Vergabe von Ehrentiteln.
Schon Kardinal Suenens von Mecheln/ Brüssel sprach von „De-Nuntiaturen“, Teufel hält sie für einen Affront gegen die nationalen Bischofskonferenzen und die Ortsbischöfe und stellt in Frage, ob die Kirche – als Vatikanstaat bzw. „Heiliger Stuhl“ – überhaupt Beziehungen zu Staaten unterhalten müsse. In diesem Zusammenhang fordert er „mehr Kompetenzen und mehr Mut(!)“ für die Bischöfe bzw. von ihnen: Sie könnten „mutiger sein und durchaus auch Konfliktbereitschaft zeigen. Konflikte können klärend wirken und die Gemeinschaft voranbringen, sie können neue Entwicklungen fördern. Bischöfe haben ein hohes Amt. Sie sind selbständig und nicht Filialleiter Roms. Sie sind Nachfolger der Apostel. Ihre Autorität kommt also nicht aus der Ernennung durch den Papst, sondern durch die Weihe zum Bischof. Niemand will die Bischöfe in einen Gegensatz zum Papst drängen. Aber gegenüber der Kurie sind sie auf gleicher Ebene und brauchen nicht willfährig sein und schon gar nicht vorauseilenden Gehorsam üben, um Ruhe zu haben. Wo ist das offene Wort der Bischöfe in Fragen der Grundüberzeugung und Grundsatztreue?“ (80 f.).
Die Missachtung des Bischofsamtes von Seiten der römischen Zentrale zeigt sich auch darin, „dass ein Mitarbeiter der Kurie ab einer bestimmten Verantwortungsstufe automatisch zum Bischof oder Erzbischof ernannt wird. Man muss sich das einmal bildlich vorstellen, indem man eine vergleichbare Verwaltung eines Ministerpräsidenten oder Ministers betrachtet. Mittlerer Dienst: Priester. Gehobener Dienst: Prälat. Dann gibt es in der staatlichen Verwaltung auf der Karriereleiter noch die Stellen einer Referatsleitung oder die Abteilungsleiterstelle: In der Verwaltung der Kurie wird der Betreffende … Bischof — und zum Bischof geweiht. Wie geht man da in der Kirche mit dem Bischofsamt um, wenn es ab einer bestimmten Stelle zum Beförderungsamt in der päpstlichen Verwaltung wird?“ (91) – Wie aktuell diese Forderung nach einer Reform des Nuntiaturwesens und der Verleihung des Bischofsamts ist, zeigt eine Zeitungsmeldung von heute: Der Vatikan hat seinen Botschafter aus der Dominikanischen Republik abberufen. Der polnische (!) Erzbischof (!) Josef Wesolowski soll für Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen bezahlt haben, hieß es in einem Fernsehbericht (Saarbrücker Zeitung 6.9.2013). Wieso eigentlich schickt der Vatikan einen polnischen Diplomaten, als Erzbischof, in die Karibik?
Es macht nicht zuletzt das Besondere dieses Buchs von Erwin Teufel aus, dass er für alle Probleme einen Lösungsansatz anzubieten hat, das Subsidiaritätsprinzip, sozusagen das kirchlich-theologische Äquivalent zu gelebter Demokratie. „Das Subsidiaritätsprinzip ist eine ,Erfindung‘ der Katholischen Soziallehre. … Auch in der Kirche muss das Subsidiaritätsprinzip gelten. Manche in unserer Kirche betrachten das Subsidiaritätsprinzip als Exportartikel und stellen es mit guten Argumenten in Denkschriften dar. Aber es ist unzweifelhaft auch für die Kirche geltend. Ja, das Subsidiaritätsprinzip ist die Lösung für fast alle Probleme, die wir derzeit in unserer Kirche haben (72 f.). Wenn man es auf allen Ebenen durchdekliniert und umsetzt, kommt man zu einer Kirche, die nicht mehr zentralistisch von oben nach unten, sondern umgekehrt von unten nach oben strukturiert ist. „Dies müssen sich alle sagen lassen, die beim Begriff Kirche zuerst an oben denken. Wenn sie mit „oben" Christus meinen, Gott Vater, und den Heiligen Geist, dann stimme ich ihnen zu. Wenn sie aber die Kirche meinen, in der wir zu Hause sind, muss das Denken von oben nach unten umstellen auf von unten nach oben! (73). Damit setzt sich der Verfasser natürlich dem Vorwurf aus, er verwechsle die Kirche mit Demokratie. Es ist interessant, wie kühl ein erfahrener demokratischer Politiker mit diesem Vorwurf umgeht:
Wenn das Stichwort „Wahl" oder gar „Demokratie" fällt, so gibt es für viele in der Kirche, ob unten oder oben, den nicht hinterfragten Satz: „Die Kirche ist keine Demokratie". Aber in der Kirche gibt es zu Recht Wahlen. Das allerwichtigste und fast alles bestimmende Amt in der Kirche, das Amt des Papstes wird durch Wahl vergeben. Warum können dann nicht auch andere Ämter in der Kirche durch Wahl vergeben werden?
Ein zweiter, nicht hinterfragter Satz, dem fast alle in der Kirche aufs erste zustimmen, lautet: „Über die Wahrheit kann man nicht abstimmen." Aber genau über die wichtigsten „Wahrheiten" in der Kirche, über die es unterschiedliche Auffassungen gab, hat man auf Konzilien abgestimmt. Von den großen Konzilien der ersten Jahrhunderte bis zum Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzil hat man über zentrale Fragen und Dogmen abgestimmt.
Warum können bewährte Modelle der Beteiligung und der Wahl und der Entscheidungen von Streitfragen auf höchster Ebene nicht auch breiter genutzt werden? (78 f.).
Wenn ein im guten Sinne konservativer Politiker und katholischer Christ, unter Berufung auf den Mainstream moderner Theologen – von Karl Rahner, dem jungen Ratzinger, Hans Küng bis zu Eugen Biser und anderen, allesamt keine radikalen Außenseiter – sozusagen aus dem inneren Kern der Kirche heraus, solche Forderungen mit solcher Dringlichkeit erhebt, dann ist es allerhöchste Zeit für umfassende Reformen. In der Frauenfrage ist es eigentlich schon zu spät. „Ich fürchte, sie (= katholische Kirche) hat bereits weite Teile der jüngeren Frauen verloren. Damit verliert sie die Kinder“ (38). So wie im 19. Jahrhundert die Arbeiterschaft, so im 20. und 21. die Frauen und damit die nächsten Generationen.
Der Verfasser setzt aber (noch) große Hoffnungen auf Papst Franziskus. Doch auch der scheint nicht mehr viel Zeit für wirkliche Reformen zu haben.
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Lutz Lemhöfer
Crime time: Zwischen Glaubenseifer und Machtpolitik
Zu Christopher Sansoms Historien-Krimi: Pforte der
Verdammnis
Dieser Historien-Krimi bietet einen guten Kontrapunkt zur anschwellenden Jubiläumsliteratur in Sachen Reformation.
Vor gut 30 Jahren landete der italienische Philosoph Umberto Eco einen überraschenden Welterfolg mit seinem Mittelalter-Krimi „Der Name der Rose“. Wie so oft in historischen Krimis reizte die Parallelgesellschaft des Klosters das Publikum, dem Wirken des Bösen gerade an einem Ort proklamierter Frömmigkeit nachzuspüren. Ein solches Szenario garantiert immer eine steile moralische Fallhöhe und damit neben dem erwartbaren Nervenkitzel ein bisschen wohlige Genugtuung für Leserinnen und Leser: Auch die per definitionem Guten sind nicht immer gut.
Ähnlich ist es bei dem heute vorgestellten Buch, dem ersten einer Reihe
historischer Krimis des britischen Historikers und Juristen Christopher Sansom.
Auch er spielt in einer klösterlichen Welt, allerdings in einer, die von
Umbruch und Auflösung bedroht ist und um so heftiger um ihr Überleben
kämpft. Denn wir befinden uns im England des Jahres 1537. König Heinrich
der Achte, berühmt-berüchtigter Machtmensch und Frauenheld, hat gerade
seine dritte Ehefrau begraben und sich zum
Oberhaupt der britischen Kirche ernannt (der Anglikaner, wie wir heute sagen).
Sein Eifer in der Durchsetzung der reformatorischen Wahrheit treibt ihn dazu,
insbesondere den Horten des Katholizismus, den Klöstern, auf die Finger
zu schauen und auf die Füße zu treten. Wenn ein Kloster wegen politischer
Unbotmäßigkeit oder sittlicher Verfehlungen geschlossen wird, fällt
nebenbei der reiche Grundbesitz dieses Klosters an die Krone; der König
kann den Hofschatz auffüllen oder den örtlichen weltlichen Adel damit
beglücken und zugleich von sich abhängig machen. So schicken der fromme
König und sein machtbewusster Generalvikar (so etwas wie kirchlicher Verwaltungschef)
Thomas Cromwell königliche Kommissare in die Klöster, um nach dem
Rechten zu sehen und für die Betroffenen glimpfliche Übernahme-Angebote
zu unterbreiten.
Da passiert es, dass einer dieser Kommissare während seiner Dienstreise im südenglischen Benediktiner-Kloster Scarnsea brutal ermordet, genauer: mit einem einzigen Schwertstreich enthauptet wird. Zur Aufklärung dieses Verbrechens und zur Fortsetzung der Kloster-Recherche schickt Cromwell seinen Günstling, den gelehrten Rechtsanwalt Matthew Shardlake, nach Scarnsea, begleitet vom Schreiber Mark Pears. Shardlake ist überzeugter Anhänger der Reformation und gewissenhafter Jurist, zugleich ein Moralist und kein Zyniker der Macht. Ungebrochenes Machtgehabe ist ihm auch aufgrund eines körperlichen Gebrechens verwehrt: er hat einen Buckel, der ihn bei wilden Verfolgungsjagden ebenso behindert wie bei körperlichen Kämpfen, auch beim scheuen Werben um eine Frau. Dennoch befindet er, der frühere Landjunge und Klosterschüler, sich zum Zeitpunkt des Romans in den inneren Höfen der Macht. Er selbst beschreibt als Ich-Erzähler den Weg dahin so: „1518, ein Jahr, nachdem Martin Luther seine herausfordernden Thesen an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt hatte, begab ich mich nach London. Ich weiß noch, wie schwer es mir zunächst fiel, mich an den Lärm, die vielen Menschen und vor allem an den allgegenwärtigen Gestank in der Hauptstadt zu gewöhnen. Doch in meinen Seminaren und Unterkünften fand ich bald angenehme Gesellschaft. Damals war die Kontroverse bereits im Gange, wehrten sich die weltlichen Anwälte gegen die zunehmende Vereinnahmung der Rechtsprechung durch die kirchliche Gerichtsbarkeit. Ich war wie viele der Meinung, dass damit die königlichen Gerichte um ihr Vorrecht gebracht würden – denn was hat es einen Erzdiakon zu interessieren, wenn sich zwei um die Einhaltung eines Vertrags streiten oder sich gegenseitig in üble Nachrede bringen? Es war nicht nur die schnöde Gier nach Gewinn; die Kirche hatte sich inzwischen zum riesigen Kraken ausgewachsen, der mit seinen Tentakeln jeden Bereich des weltlichen Lebens an sich brachte, und das aus purer Raffsucht und ohne Absegnung durch die Heilige Schrift. Ich las Erasmus und sah meinen unreifen Kniefall vor der Kirche meiner Jugend alsbald in neuem Licht. Meine Verbitterung, vor allem gegen die Mönche, hatte persönliche Gründe, die ich nun berechtigt fand.
Ich brachte mein Studium zu Ende und bemühte mich anschließend um Kontakte und Klienten. Mein überraschendes Talent zum gerichtlichen Disput verschaffte mir bei den rechtschaffenen unter den Richtern gewisse Vorteile. Und als gegen Ende der zwanziger Jahre die Auseinandersetzung des Königs mit dem Papst um die Annullierung seiner Ehe mit Katharina von Aragon die Gemüter erhitzte, wurde ich Thomas Cromwell vorgestellt, einem Anwaltskollegen, dem unter Kardinal Wolsey der Aufstieg gelungen war. Ich lernte ihn bei einer unserer Gesprächsrunden kennen, die wir regelmäßig in einer Londoner Wirtsstube abhielten – im Geheimen, denn viele der Bücher, die wir lasen, waren verboten. Cromwell ließ mir bald Arbeit aus verschiedenen Abteilungen zukommen. Auf diese Weise machte ich meinen Weg im Schlepptau Lord Cromwells, der bald schon Wolsey ablösen, zum Sekretär des Königs, zum Lordkanzler und zum Generalvikar aufsteigen sollte, ohne dem Herrscher das Ausmaß seines religiösen Eifers zu offenbaren.“ (S. 32 f)
Das Kloster ist, wie bei Umberto Eco, ein durchaus bizarrer Mikrokosmos mit vielen schrägen Typen und spiegelt die weltliche Klassengesellschaft. Shardlakes Schreiber bringt es auf den Punkt:
„Mir dünkt alles voller Widersprüche. Einerseits leben die Mönche in Abkehr von der Welt, tragen schwarze Kutten und gehen ständig zum Gebet in die Kirche. Bruder Gabriel sagte, man habe hier der sündigen Welt den Rücken gekehrt. Und trotzdem, habt Ihr gesehen, wie er mich wieder ansah, der Hund? Außerdem lässt sich’s wohl sein hier: Warme Feuer, weiche Teppiche, die besten Speisen, die ich jemals gekostet. Und sie spielen Karten wie im Wirtshaus.“ – Ja. Der heilige Benedikt wäre nicht minder entsetzt über ihr Wohlleben als Lord Cromwell. Abt Fabian hält Hof wie ein Lord – und ist natürlich auch einer, er sitzt wie die meisten Äbte im Oberhaus.“ – „Ich glaube, dass der Prior ihn nicht leiden mag.“ – „ Prior Mortimus gibt sich eher reformatorisch, ist dem behaglichen Leben abgeneigt, wie’s scheint. Doch fest steht nur, dass er gern nach unten tritt. Und es genießt, will ich meinen.“ (S. 126 f)
Sympathisch sind im Kloster eigentlich nur zwei Außenseiter: Der Krankenwärter Bruder Guy von Malton, ein maurischer Flüchtling aus Spanien und gelehrter Arzt, sowie seine patente Gehilfin Alice. Für Shardlake sind sie die einzigen Vertrauenspersonen, obwohl sie seinen reformatorischen Eifer nicht teilen und bei einer Auflösung des Klosters auf der Straße stünden. Doch von solchen Rücksichten und Zweifeln lässt sich Shardlake nicht anfechten. In einer nächtlichen Diskussion mit dem Schreiber verteidigt er seinen Auftrag und die Auftraggeber: „Mir bereitet im Augenblick so mancherlei Verdruss, vielleicht mehr als Dir. Doch bin ich der Meinung, dass der Zweck die Mittel heiligt. Und unser Zweck ist ein neues, geläutertes England.‘ Ich stand auf und trat mit weit ausgebreiteten Armen vor ihn hin. ,Nimm zum Beispiel die Klösterlichen Besitztümer. Du siehst es doch selbst, wie es hier zugeht, diese feisten Mönche frönen jeder Ketzerei, die der Papst ersonnen, leben zu Lasten der Stadt, katzbuckeln und kriechen vor ihren Götzenbildern, dieweil sie, wenn sie nur könnten, wie sie wollten, ihren verderbten Trieben gehorchten. Damit soll Schluss sein. Es ist schandbar.“ – „Nicht alle sind schlecht. Bruder Guy…“ „Die Einrichtung an sich ist verdorben. Hör mich an: Sollte Cromwell diese Besitzungen dem König in die Hände spielen, wird ein gewisser Anteil davon in der Tat seinen Günstlingen zufallen. Dies liegt in der Natur der Sache, so funktioniert die Gesellschaft, es lässt sich nicht vermeiden. Doch fällt bei diesen gewaltigen Summen so viel Geld an den König, dass er des Parlaments nicht mehr bedarf. Du hast doch Mitleid mit dem Elend der Armen, oder nicht?“ – „Ja, Sir. Es ist schändlich. Menschen wie Alice werden aus ihren Häusern vertrieben, und Arbeitslose stehen bettelnd in den Gassen…“. – „Ja, schändlich in der Tat. Lord Cromwell legte dem Parlament im vorigen Jahr eine Bulle vor, die den Bedürftigen hätte helfen sollen; er wollte Armenhäuser errichten für all jene, die keiner Arbeit mehr nachgehen können, und den vielen Beschäftigungslosen im öffentlichen Bereich Arbeit verschaffen, sie beim Bau von Straßen und Kanälen einsetzen. Die Bulle wurde abgelehnt, weil der Landadel keine Steuern zahlen wollte, um derlei Maßnahmen zu finanzieren. Doch füllt erst einmal der Reichtum der Klöster die Schatztruhen des Königs, bedarf er der Zustimmung des Parlaments nicht mehr. Er kann Schulen errichten lassen und dafür sorgen, dass jede Kirche ihre eigene englische Bibel erhält. Stell dir das vor, Arbeit und Gottes Wort für alle. (…) Die Lage wird sich entspannen.“ – Meint Ihr, Sir?“ – „Sie muss. Sie muss einfach! Du musst nachdenken, Mark, beten. Ich kann Zweifel nicht ertragen, nicht jetzt. Zu viel steht auf dem Spiel.“ (S. 259 f)
Allerdings bleibt Shardlake zunächst erfolglos, was die Aufklärung des Mordes an seinem Vorgänger-Kommissar angeht. Stattdessen muss er zwei weitere Morde registrieren: Ein schwerkranker Novize stirbt nur scheinbar am Fieber, tatsächlich an einer Vergiftung. Und der Fund des Schwertes, das zum Mord an Kommissar Singleton genutzt worden war, führt zum Fund einer weiteren Leiche; nämlich der früheren, als vermisst geltenden Krankenwärterin Orphan, Vorgängerin der aktuellen Gehilfin Alice. Zugleich drängt der große Cromwell in London, der Auftraggeber, auf schnelle Erfolge, sowohl in Sachen Aufklärung als auch in Sachen Kloster-Enteignung. Das erfährt Shardlake bei einem zwischenzeitlichen Besuch in London; eine Recherche im Tower-Gefängnis macht ihm zudem deutlich, wie brutal sein Vorgesetzter Cromwell selbst in höfische Intrigen verwickelt ist und selbst vor Folter und Justizmord nicht zurückschreckt, wenn’s dem König zu dienen scheint. Noch im Kloster Scarnsea hatte Shardlake entsprechende Vorwürfe des dort nur ungern als Gast gelittenen Kartäusermönchs Jerome empört zurückgewiesen. Dabei hatte Jerome selbst unter der Folter gelitten, bis er sich dem König unterwarf. Jetzt macht eigene Recherche dem korrekten Juristen klar: Alles, was er bisher für böswillige Gerüchte hielt, ist wahr. Und es ist noch viel schlimmer. Für ihn bricht eine Welt zusammen. „Plötzlich hatte ich das ungute Gefühl, dass unsere Reformation nichts verändern würde als die Namen hungriger Kinder; künftig würde man sie nicht mehr nach Heiligen benennen, sondern Fürchtegott und Bleibtreu taufen. Ich dachte an Cromwells beiläufige Erwähnung, dass er mittels falscher Beweise Unschuldige in den Tod getrieben hatte, und an Marks Beschreibung der Günstlinge Cromwells, die nach klösterlichen Ländereien gierten. Diese neue Welt war kein christliches Gemeinwesen und würde nie eines sein. Im Gegenteil, sie war keinen Deut besser als die alte, nicht minder von Machthunger und Eitelkeit regiert. Ich entsann mich der farbenfrohen, fluglahmen Vögel, die sich ohne Vernunft Worte zuriefen, und sie dünkten mir ein Gleichnis für den Königshof, an dem Papisten und Reformatoren im Kampf um Macht und Einfluss eitle Schmeicheleien plapperten. Und ich hatte in meiner Verblendung nicht sehen wollen, was mir eigentlich hätte ins Auge springen müssen. ,Wie sehr sich die Menschen vor der Wirrnis der Welt fürchten, dachte ich, und vor der gähnenden Ewigkeit. Also schaffen wir uns Raster, die uns ihre grausamen Geheimnisse erklären, und sehen zu, dass wir hienieden wie im Himmel sicher sind.“ (S. 416 f)
Gegenüber diesem Prozess der persönlichen Desillusionierung kommt die Aufklärung des ursprünglichen Mordes dann fast beiläufig zum Ziel; immerhin bildet sie eine Überraschung und soll deshalb hier nicht verraten werden. Erwartbarer und im Verlauf dramatisch-spektakulärer werden dann auch die zwei anderen Morde aufgeklärt. Ein Kloster, das solchen und weiteren Untaten Raum geboten hat, wird aufgelöst, das liegt auf der Hand. Insofern hat Shardlake am Ende seine Aufträge erfüllt, erntet aber keinen Dank: zu langsam, zu gründlich, zu skrupulös. Für den Anwalt setzt sich der Prozess persönlicher Enttäuschung fort, was seinen Glaubenseifer angeht; seine Zweifel wachsen ins Prinzipielle: „Alice hat recht, dieser Tage ist niemand mehr sicher, nichts ist mehr gewiss. (…) Vielleicht hat uns ja alle ein wenig der Wahnsinn gepackt. In der Bibel steht geschrieben, dass Gott uns nach seinem Ebenbild erschuf; doch scheint es mir fast, als würden wir uns Ihn zurechtzimmern ganz nach Belieben. Ich frage mich, ob er das weiß, ob es ihn kümmert.“ (S. 477)
Damit endet dieses Buch; weitere Romane um den sympathischen Ermittler Shardlake folgen: ähnlich opulente Zeitporträts, ähnlich sorgfältig und mit immer mehr Distanz zur staatlichen und kirchlichen Autorität. Wer also hier neugierig geworden ist, findet weiteren Lesestoff.
Zwei nicht-literarische Anmerkungen seien noch erlaubt: Zum einen: Das Geschehen dieses Buches liegt fast fünfhundert Jahre zurück. Der zugrundeliegende Wertekonflikt ist aber aktueller als wir vielleicht denken. Im nahen und mittleren Osten sowie in Nordafrika sehen wir heute eine vergleichbare Gemengelage von Religion und Macht. Politische Aufbruchsbewegungen werden von religiösem Feuer gespeist, dienen aber auch als Trittbrett religiös begründeter Unterdrückung. Freiheitsbewegungen von Muslimen gegen säkulare Diktaturen (Ägypten, Syrien, früher Iran) enden manchmal in Fanatismus und Unfreiheit im Namen eines machtpolitischen Islamismus.
Außenstehende etwa in Europa sind ratlos in der Einordnung und Bewertung dieser Bewegungen. Mir scheint, die Reformationsgeschichte in Europa vor 500 Jahren trug ähnliche Züge.
Zum zweiten: Dieser Roman ist ein Lob des Zweifels und der skeptischen Vernunft. Das ist ein zutiefst theologischer Gedanke, wie etwa Fulbert Steffensky immer wieder schreibt: „Wir sollten unserem Glauben seine hinkende Schwester, die Vernunft, lassen, diese schöne, kühle Gefährtin. Es ist nicht ihre Aufgabe, alles zu legitimieren, was der Glaube sagt. Sie steht oft schweigend und staunend vor seiner Kühnheit und Leidenschaft. Aber es ist ihre Aufgabe, diesen Glauben vor den größten Fehltritten zu bewahren und seine Bedenkenlosigkeit zu Fall zu bringen.“ (Gewagter Glaube, S. 155) Und ihn sozusagen vor der „Pforte der Verdammnis“ zu bewahren.
Christopher J. Sansom, Pforte der Verdammnis. Historischer Kriminalroman. Fischer-TB 2011 (8. Auflage). 480 S., 8,95 €.
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© imprimatur November 2013
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