I.
Wer ein halbes Jahrhundert katholischer Kirchengeschichte miterlebt hat, muss ernüchtert feststellen, dass das zu dessen Beginn von Papst Johannes XXIII. (1958-1963) auf dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-1965)[1] freigesetzte Potential der Reform und des Dialogs letztlich schwächer ist als es die Kräfte der autoritären Zusammenfassung und der Abschottung nach außen sind[2]. Ihr Kirchenbild ist das des 1. Vatikanischen Konzils (1870), auf dem Pius IX. (1846-1878) gegen die Einsprüche einer ca. 20-prozentigen Minderheit der Bischöfe (!) das Dogma der Unfehlbarkeit und des Universalepiskopats des Papstes durchgesetzt hat. Erst seitdem wird die Kirche absolutistisch regiert. Die modernen Freiheitspostulate wurden negiert, die Kompetenzen des Papstes und seiner Kurie systematisch weiter ausgedehnt, u.a. im Codex iuris canonici von 1917. Um den Kern des christlichen Glaubens wurde ein rigoroses System von Geboten und Verboten errichtet und mit pseudohistorischen Konstruktionen unterlegt.
Seit 1870 konnten Reformen, welche von Theologen, Seelsorgern und Laien nicht selten (wie z.B. im Modernismus-Streit um 1900) angeregt wurden, nur "von oben" initiiert werden; aber das hat von den seitherigen elf Päpsten[3] vor Franziskus im vollen Sinne nur Johannes XXIII. getan. Immerhin gab es unter Benedikt XV. (1915-1922) mit Milderung des Antimodernismus und Friedenspolitik schon einige Ansätze dazu; und Johannes' Nachfolger Paul VI. (1963-1978) suchte Kompromisse zwischen Primat und Reformismus[4]. Auch von Johannes Paul I. (Sommer 1978) ist anzunehmen, dass er auf der Linie des Konzils bleiben wollte. Aber nachdem diese auch zu Unruhe und Unsicherheiten geführt hatten, setzten sich im Herbst 1978 in der vatikanischen Kirchenführung die Gegner des konziliaren Prozesses wieder durch. Ihre Protagonisten wurden Johannes Paul II. (hinter dem eine internationale Rechtsfront stand) und Joseph Ratzinger / Benedikt XVI.[5] Intellektuelle Unterstützung kam zunächst vom Opus Dei, doch der Theologe Ratzinger brauchte sie weniger als sein Vorgänger. Die Jesuiten, welche sich mehrheitlich zum Konzil bekannten, verloren erheblich an Einfluss. Immerhin wurden nach außen konziliäre Initiativen wie der Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit fortgesetzt, an die Franziskus anknüpft.
Doch der Zentralismus wurde erneut verfestigt und fortan noch bürokratischer praktiziert als unter den Pius-Päpsten vor dem Konzil. Die Zahl und der Rigorismus der Gebote und Verbote wurden noch verstärkt, so wegen Zölibat und Frauen-Ordination sowie generell in der Sexualmoral und der Bio-Ethik. Rigide Personalpolitik schloss freier denkende Geistliche von höheren Ämtern aus, und in Deutschland z.B. wissen die meisten der unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. ernannten Bischöfe mit dem Reformkurs des neuen Papstes wenig anzufangen.
Aber ein System wie das Joseph Ratzingers schafft Sicherheit mehr in kleineren, sich elitär gebenden Kreisen als in der Mitte der Gesellschaft, welche sich unter Berufung auf legitime Freiheits- und Partizipationspostulate eher abwendet.
"Die Kirche erscheint den Menschen vielleicht als zu weit entfernt von ihren Nöten, als zu kalt und selbstbezogen, gefangen von ihren eigenen harten Redeweisen." Das sagte kein Kritiker von außen oder von unten, sondern Papst Franziskus am 27. Juli 2013 beim Weltjugendtag in Rio de Janeiro; er steht damit u.a. in der Tradition seines Freundes und Ordensbruders Carlo M. Martini, der 2005 Antagonist Ratzingers im Kardinalkollegium gewesen war. Und zuletzt am 4. Oktober hat der Papst in Assisi, wo er noch vor der Basilika ein Pflegeheim unheilbar kranker Kinder besuchte, seinen Willen zu radikaler Vermenschlichung der kirchlichen Mentalität und zum Verzicht auf weltliches Auftreten, zur Solidarität mit der Schöpfung und mit den Armen unter Berufung auf den "poverello" bekräftigt. Und ebenso klar war seine erneute Absage an die "wilde Welt" des Geldes und des Kapitalismus, der Konflikte und der Kriege, konkret um Syrien und Palästina. Zur Vermeidung des Krieges um Syrien hatte er einige Wochen zuvor mehr getan, als unsere kirchenfremd gewordene öffentliche Meinung wahrgenommen hat. Die weltweite Präsenz der vatikanischen Diplomatie, welche sein Vorgänger eher vernachlässigt hatte, wird dabei gut genutzt.
II.
Ein gutes halbes Jahr nach seiner Wahl am 13. März 2013 lässt sich jedenfalls mit großer Erleichterung sagen, dass Papst Franziskus seinen sogleich bekundeten Willen zur (Neu)-Orientierung am zweiten vatikanischen Konzil[6] und darum zur Reform von römischer Kurie und katholischer Kirche und zur Solidarität nicht nur oft und klar ausspricht, sondern Schritt für Schritt verwirklicht. Seine Worte und Gesten kommen denen Johannes XXIII., an den er auch öffentlich erinnert, sehr nahe. Erster Höhepunkt war das große Interview des Papstes für die schon oft Richtung weisend gewesene Zeitschrift der römischen Jesuiten "La Civiltà Cattolica" (19. September 2013)[7] Ebenso hervorzuheben sind seine bewegenden Appelle zur Solidarität mit den Armen in Lampedusa und beim Weltjugendtag, und sein die Autonomie des Gewissens bekräftigender Briefwechsel mit dem laizistischen Publizisten Eugenio Scalfari (Anfang September).
Jedenfalls bedeutet schon Franziskus' bisheriges Handeln eine historische Zäsur: den Abschied von einer ca. 40-jährigen Epoche autoritärer Defensive und die Hinwendung zu einer neuartigen, nicht mehr mit der Verteidigung eigener Positionen belasteten Weltverantwortung der Kirche. Infolge evidenter römischer Fehlleistungen des letzten Jahrzehnts, so des Dauerkonflikts zwischen dem päpstlichen Staatssekretariat und der italienischen Bischofskonferenz, zudem finanzpolitischer Skandale, hatte offenbar im Februar/März 2013, nach dem Rücktritt Benedikts XVI., die Mehrheit der Kardinäle eine solche Zäsur gefordert; in den erstmals zugestandenen "Generalkongregationen" vor dem Konklave wurde sie vorbereitet und besonders intensiv von außereuropäischen Kardinälen, darunter Bergoglio, angemahnt. Dabei spricht dieser, auch in seinem kürzlichen Interview, keineswegs, wie manche Journalisten heraushörten, "revolutionäre Worte" aus. Er steht vielmehr, auch wegen Reizthemen wie Abtreibung, Ehescheidung und Homosexualität, durchaus zur traditionellen Lehre seiner Kirche, als deren Sohn er sich vorbehaltlos bezeichnet. Aber wie Kardinal Martini will Franziskus die Fixierung des römischen Lehramts auf diese Fragen hinter sich lassen, die Lehre vielmehr auf das Wesentliche des christlichen Glaubens zurückführen und die Probleme, welche viele Menschen mit ihr haben, ebenso ernst nehmen wie die Lehre selbst; unter anderem das hatte Martini von Ratzingers Kirche gefordert!
Franziskus will darum das verstehende Gespräch mit Geschiedenen, Homosexuellen und auch mit Frauen, die abgetrieben haben. Fest überzeugt von der Barmherzigkeit Gottes, verurteilt er niemanden und lehnt "geistliche Einmischungen in das persönliche Leben" ab (Corriere della Sera 20. September 2013). Denn insgesamt nimmt er, wie er soeben gegenüber Scalfari betonte, die menschliche Freiheit viel ernster als seine beiden Vorgänger, zudem ist er der Realist, welcher der Theologe Joseph Ratzinger nie geworden war.
Der daraus schnell gewachsene Konsens aller reformistischen Christen und der Applaus aller, die im Interesse der pluralen Gesellschaft eine darin präsente Kirche wünschen, sollen freilich nicht darüber hinweg täuschen, dass auch Franziskus im Rahmen des päpstlichen Regierungssystems handelt. Denn anders als Johannes XXIII. hat Franziskus kein Konzil angekündigt, welches die originäre Mitwirkung der Bischöfe an der Kirchenregierung wieder anerkennen würde, vielmehr ernannte er "von oben" die Mitglieder der neuen Kommissionen, von denen die erste die Reform der römischen Kurie, die zweite die des vatikanischen Finanzwesens vorbereiten sollte. Die erste präsentierte dem Papst Anfang Oktober erste Vorschläge, in der Vatikan-Bank (IOR)[8] und in der Vermögensverwaltung (APSA) wurde bereits vieles für Transparenz und für die Verhinderung von Geldwäsche etc. erreicht. Der soeben von ihm zum Staatssekretär ernannte Nuntius Pietro Parolin betonte aber sogleich, dass "der Papst in der Kirche das Amt der Einheit ausübe"; jedoch in einem Interview, welches immerhin die Weite des praktisch Möglichen andeutete. Es erweckte nämlich in der Presse Aufsehen, weil Parolin die Geschichtlichkeit des Zölibats zugab und darum dessen von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. tabuisierte Diskussion akzeptierte! Auch Parolins Ernennung war als solche für den neuen Gesamtkurs signifikant. Denn mit ihm tritt ein erfahrener Kirchendiplomat[9] , der auch Seelsorger war, an die Stelle des dogmatisch verhärteten Tarcisio Bertone, der lange engster Mitarbeiter Joseph Ratzingers in der Glaubenskongregation gewesen war und dessen Ernennung zum Staatssekretär die (insgesamt durchaus nicht schlechte) vatikanische Diplomatie unnötig vor den Kopf gestoßen hatte. Dass Bertone dann eine eigensüchtige Personalpolitik geführt, einseitig mit der Regierung Berlusconis kooperiert und viele der vatikanischen Skandale zumindest mitverschuldet hat, aber trotzdem von Benedikt XVI. bis zuletzt gestützt worden ist, ist bekannt.[10]
Und was die nun oft gestellte Frage "bloß" praktischer und pastoraler oder aber struktureller Reformen angeht, so ist vor allem an das Bekenntnis des Papstes zum Konzil zu erinnern. Auch hat er mehrmals erklärt, dass zwischen Kollegialität und Primat kein Gegensatz bestehen müsse. Die bischöfliche Kollegialität will er einstweilen durch Stärkung nationaler und regionaler Bischofskonferenzen fördern. Der italienischen Bischofskonferenz gewährt er endlich die Freiheit, ihren bisher vom Vatikan ernannten Präsidenten zu wählen. Zudem soll ihr statisch autoritärer Charakter durch effektive Mitsprache ihrer Mitglieder verändert werden. (Corriere della Sera 29. September 2013).
Franziskus ist aber vor allem, und das seit Jahrzehnten, ein zutiefst engagierter, dabei besonders den armen und einfachsten Leuten verbundener Seelsorger. Er bezieht sich direkt auf die Evangelien und deren Barmherzigkeitspostulat, vorbei an lehramtlichen Zuspitzungen. Und indem er sich von solchen Zuspitzungen ausdrücklich distanziert, korrigiert er auch die derzeitige Lehre der amtlichen Kirche! Dazu sagte sein Interviewpartner, dass der Papst bewusst unvollständig spräche; er wolle Prozesse anregen, und ziele zunächst mehr auf Änderungen der Mentalität als der Strukturen!
Damit sind wir erneut bei den Perspektiven der von Papst Franziskus heraufgeführten Wende. Wird er sie zu voller konziliärer Kollegialität zurückführen oder weiterhin im Rahmen des päpstlichen Absolutismus handeln und diesen nur mildern? Immerhin will er vor weiteren Entscheidungen den Rat der von ihm damit beauftragten Kardinäle abwarten.
Aber wegen der von ihm als vordringlich betrachteten Weltverantwortung – mit der Sorge um die Einsamkeit der alten und die Arbeitslosigkeit der jungen Menschen als genuiner kirchlicher Aufgabe – weiß der Papst, was er will; und er setzt es durch, zumindest grundsätzlich[11]. Wer so regiert, braucht nur wenige Berater; und vatikanische Gegner, die es offenbar vor allem in den mittleren Rängen gibt, verbreiten, dass dies nur einige Jesuiten seien. Aber das dürfte nicht stimmen. Denn seine Wähler werden hinter ihm stehen, vor allem die aus Amerika, die gemeinsam mit ihm Reformen gefordert haben, und ebenso kuriale Prälaten, die vom Kurs Benedikts XVI. und Bertones zunehmend enttäuscht waren. Und das waren offenbar nicht wenige!
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