„Selig sind, die Verfolgung ausüben“ |
Wenn Glaube über Leichen geht |
„Selig sind, die Verfolgung ausüben.“ Nein, das ist nicht O-Ton Bergpredigt, auch keine gewollt blasphemische Verfremdung. Formuliert hat das im 11. Jahrhundert der Bischof Bonizo von Sutri, ein Parteigänger und Vordenker von Papst Gregor VII. Das Zitat steht für eine in diese Zeit fallende tiefgreifende Veränderung der kirchlichen Lehre zur Anwendung von Gewalt. Zwar ist seit langem das Faktum bekannt, dass die mittelalterliche Kirche in den Kreuzzügen und bei der Bekämpfung von Ketzern vor Gewalt nicht zurückgescheut ist. Kaum untersucht wurde hingegen die theologisch-ideologische Legitimierung dieser Gewalt. Diese Forschungslücke versucht der Münsteraner Historiker Gerd Althoff wenigstens ansatzweise zu schließen.
Erkenntnisleitend ist dabei die Frage, unter welchen Bedingungen und mit welchen Argumenten die Päpste seit dem 11. Jahrhundert die Anwendung von Gewalt im Dienste und im Auftrag der Kirche als legitim deklarierten. Und mit welchen Autoritäten sie diese Sicht begründeten.“ (S.12). Dazu untersucht Althoff die gegenüber dem Gewohnheitsrecht neuen Machtansprüche Gregors und ihre Begründung vor allem im Rückbezug aufs Alte Testament. Demgegenüber berufen sich die kirchenpolitischen Gegner Gregors vor allem auf die Friedens- und Liebesbotschaft des Neuen Testaments – freilich auch sie nicht ganz uneigennützig, sondern in politischer Stoßrichtung gegen die päpstliche Partei. Im Fortgang beschreibt Althoff die Weiterwirkung vor allem der militanten Theologie Gregors in den Aufrufen seiner Nachfolger zu den Kreuzzügen sowie in den kirchenrechtlichen Bestimmungen des Decretum Gratiani. Das Schlusskapitel liefert eine prägnante Zusammenfassung der Ergebnisse und eröffnet weitere Fragehorizonte im Blick auf die Fortwirkung der vorher gründlich dargestellten geistlichen Gewalt-Ideologie.
Althoffs durch viele mittelalterliche Quellenschriften plausibel begründeter Befund verblüfft. Denn er verweist auf völlig andere Denk-Kategorien als die später von Francisco de Vitoria ausformulierte „Lehre vom gerechten Krieg“, welche die notwendigen Rahmenbedingungen gerechtfertigter Verteidigungsgewalt zu präzisieren suchte und dabei der Legitimation von Gewalt sehr enge Grenzen setzte. Die im Umfeld des von 1073 bis 1085 regierenden wohl radikalsten Machtpolitikers auf dem Papstthron, eben Gregors VII., entwickelte Theorie bemüht sich dagegen gar nicht erst um einen defensiven Anstrich. Vielmehr geht es um die offensive Durchsetzung päpstlicher Gehorsams-Ansprüche. Dafür zieht Gregor zwei biblische Belege heran. Aus dem Neuen Testament zitiert er die von Christus dem Petrus übertragene Binde- und Lösegewalt (Mt 16,18 ff). „Gregor leitete aus der von Christus, der Wahrheit, übertragenen Binde- und Lösegewalt ab, dass der Inhaber dieser Gewalt Gehorsam erwarten durfte, wenn er diese Wahrheit in Gebote auf den unterschiedlichsten Feldern umsetzte.“ (S.45f). Für Gregor bedeutete das vor allem die Anerkennung unbegrenzter päpstlicher Autorität in seinem innerkirchlichen Reformkurs (Kampf für Zölibat und gegen Simonie) sowie seiner Suprematie gegenüber weltlichen Herrschern einschließlich des Kaisers. Durchsetzen sollte dies eine militia sancti Petri, „die aus Kriegern verschiedener europäischer Länder gebildet und mittels Lehnseiden auf den Papst verpflichtet werden sollte“ (S. 16). Dass der dem Papst geschuldete Gehorsam mehr war als eine reine Disziplinar-Angelegenheit, wurde wiederum durch Analogien aus dem Alten Testament begründet. Zentral ist die Geschichte der von Gott angeordneten Vernichtung der Amalekiter (1 Sam 15), bei der König Saul eigenmächtig Ausnahmen machte und deshalb vom Propheten Samuel hart gerügt wurde. Der Ungehorsam Sauls wird bei Gregor gedeutet als Abfall von Gott und damit als das Verbrechen schlechthin. „Ungehorsam gegen seine Befehle, auch wenn es Vernichtungsbefehle waren, wertete Gott als Götzendienst. Dies schuf die Möglichkeit (…), Ungehorsame als Häretiker zu stigmatisieren und mit ihnen zu verfahren, wie es schon wichtige Kirchenväter für Häretiker vorgesehen hatten.“ (S. 52)
Der – Gottes Befehl zugeschriebene – Kampf gegen Ungläubige und Ungehorsame konnte im Dienst innerkirchlicher „Reform von oben“ stehen oder aber im Dienst der Vertreibung und Vernichtung der Ungläubigen außerhalb der Kirche und ihres Einflussbereichs. Dies erläutert Althoff beispielhaft an den Kreuzzügen. Deren weithin bezeugte außerordentliche Grausamkeit (etwa bei der Eroberung Jerusalems 1099, bei der die Eroberer im Blut der erschlagenen Feinde wateten) resultierte demnach nicht aus der ‚Hitze des Gefechts‘, sondern war theologisch-ideologisch begründet und gewollt. „Der Papst (hier Urban I., L.L.) hat mithilfe alttestamentlicher Textstellen und Vorstellungen ein Modell entwickelt, das die gewaltsame Befreiung der heiligen Stätten aus der Hand der Ungläubigen dadurch legitimiert, dass deren Riten die heiligen Stätten verunreinigt hätten und dies eine Beleidigung Gottes bedeutete, die Gott erzürnt habe. Um diesen Zorn Gottes zu beschwichtigen, war es nach Psalm 79 und anderen Stellen des Alten Testaments folgerichtig, dass diejenigen mit ihrem Blute büßten, die diese Verunreinigung verursacht hatten. Wer als Werkzeug Gottes diese Sühne durch Blut ins Werk setzte, handelte Gott wohlgefällig und verdiente sich himmlischen Lohn.“ (S. 140)
Diese steilen Gewalt-Theorien wurden freilich in späteren Zeiten nicht aufrechterhalten; sie gehören in die Epoche vom 11.-13. Jahrhundert, in der das mittelalterliche Papsttum seine Machtansprüche formulierte wie nie davor und danach. Nicht zuletzt fehlten die realpolitischen und militärischen Mittel, sie so wie proklamiert auch dauerhaft durchzusetzen. Althoff lehnt es daher auch ab, aus seinen Forschungen eine dauerhafte Affinität der christlichen Kirchen zur Gewalt abzuleiten; aber er beklagt die mangelnde Aufarbeitung dieses Stücks Theologiegeschichte und sieht durchaus noch Bedarf, den Spuren dieser hierokratischen Theorie bis in die Gegenwart nachzugehen. Aus Sicht des Rezensenten ist weiter zu bemerken, dass einzelne Epochen der Kirchengeschichte eine Theologie entwickelten, die dem „Djihadismus“ eines militanten Islam überraschend ähnlich sehen. Es scheint so, als sei ein Gewaltpotential von Religionen immer dann abrufbar, wenn ihre menschlichen Repräsentanten sich zum irdischen „Schild und Schwert“ des ewigen Gottes stilisieren. Wer freilich heute – gerade in Abgrenzung zum Islam – die vermeintlich wesenhafte Friedlichkeit des Christentums beschwört, sollte sich der selbstkritischen ‚re-lecture‘ der Kirchengeschichte aussetzen, wie sie Althoff in seiner vorzüglich geschriebenen und gegliederten Abhandlung beispielhaft vorgeführt hat.
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Lutz Lemhöfer
Crime Time: Wenn Glaube über Leichen geht
Zu Wiley Cash: „Fürchtet Euch“
Dieses Buch ist zugleich mehr und weniger als ein Kriminalroman. Es ist ein Beziehungsroman, der das komplizierte und manchmal tragische Beziehungsgeflecht zwischen unterschiedlichen Personen sorgsam entschlüsselt. Es ist ein Heimatroman, wie der englische Originaltitel nahelegt: „No land more kind than home“: Ein stimmungsvolles Porträt des ländlichen North Carolina, in dem der Tabakanbau einen bescheidenen Lebensunterhalt bietet und die Menschen eher arm und einfach leben – die Heimat der Hillbilly-Songs. Aber hinter der Idylle lauern Dramen fast wie in einer antiken Tragödie: jeder sieht sie kommen, keiner kann sie verhindern. Diese Umgebung ist, fast kann man sich’s denken, auch nicht städtisch-säkular, sondern ländlich-christlich imprägniert, aber auch das auf eine nahezu archaische Art. Zitat: „Die Menschen hier in der Gegend können sich an Religion wie an eine Droge klammern, von der sie nicht mehr lassen wollen, wenn sie erst einmal mit ihr in Berührung gekommen sind. Religion ist wie Nahrung für sie, und um satt zu werden, neigen sie dazu, alles zu tun, was diese kleinen hinterwäldlerischen Kirchen ihnen befehlen. Und im selben Atemzug können sie sich gegenseitig wegen ihres Glaubens umbringen, können ihre Kinder aus dem Haus werfen, ihre Ehemänner und –frauen betrügen, Familien zerstören.“ (S. 116)
In dieser besonderen Landschaft (und Seelenlandschaft!) hat Wiley Cash seinen ersten Kriminalroman angesiedelt. Es ist ein genre-untypischer Krimi: Im Zentrum steht zwar ein Verbrechen bzw. mehrere Verbrechen, aber die Aufklärung dieser Verbrechen birgt kaum Rätsel. Niemand muss fragen - auch die Leserinnen und Leser nicht -, wer’s denn nun gewesen ist. Spannung erzeugt vielmehr die Frage: Kann man den oder die Täter überführen? Das ist vor allem die Perspektive des Sheriffs, aus der das Buch teilweise erzählt ist. Hinzu kommen im Wechsel noch zwei andere Erzählperspektiven. Zum einen die eines von den Ereignissen betroffenen Kindes, des neunjährigen Jess Hall, der vieles beobachtet, Zusammenhänge aber mehr ahnt als versteht und leider manchmal an falscher Stelle oder zum falschen Zeitpunkt davon erzählt. Und schließlich die Perspektive der alten Hebamme Lyle Adelaide, die Land und Leute kennt wie kein anderer und einen klaren unbestechlichen Blick hat, auch auf die neu gegründete Freikirche vor Ort, die „Church of Signs Following“. Dieser Name bezieht sich auf die beiden vorletzten Verse des Markus-Evangeliums: Denen aber, die zum Glauben kommen, werden diese Zeichen folgen: In meinem Namen werden sie Dämonen austreiben, in neuen Sprachen werden sie reden. Schlangen werden sie mit bloßen Händen aufheben, und tödliches Gift, das sie trinken, wird ihnen nicht schaden. Kranke, denen sie die Hände auflegen, werden gesund werden.(Mk 16, 17 f) Der neue Pastor, Carson Chambliss, versucht diese alte Prophezeiung aktuell in die Tat umzusetzen.
Lyle berichtet: „Ich hatte gesehen, wie Menschen, die ich fast mein ganzes Leben gekannt hatte, Schlangen in die Hand nahmen und Gift tranken, sich Feuer ans Gesicht hielten, bloß um zu sehen, ob sie verbrennen würden. Noch dazu fromme Menschen. Gottesfürchtige Leute, die sich noch nie im Leben so verhalten hatten. Aber Chambliss redete ihnen ein, es wäre ungefährlich, den Willen Gottes herauszufordern. Und so gut wie alle sagten: Hier bin ich, Herr. Komm und hole mich, wenn Dir der Sinn danach steht. Ich bin bereit.“ (S.11) Solche Gemeinden sind übrigens kein blankes Phantasieprodukt, es gibt sie real in den USA, und trotz des behördlichen Verbots wird „snake handling“ immer wieder praktiziert. Hier trifft es eine gute Bekannte der Hebamme, die 79jährige Witwe Molly Jameson. Ermuntert durch den Pastor nimmt sie im Gottesdienst eine Klapperschlange in die Hand. „Sie hielt das Tier über sich, als wollte sie sichergehen, dass Gott es sah. Sie hatte die Augen fest geschlossen und trippelte auf der Stelle und bewegte den zuckenden Mund in einem Gebet, das sie wahrscheinlich noch nie zuvor in ihrem Leben gesprochen hatte. Es passierte, als sie die Mokassinschlange wieder herunternahm. Der erste Biss erwischte sie direkt unter dem linken Auge, genau auf dem Wangenknochen. Und als Molly sich das Viech vom Gesicht reißen wollte, biss es sie in die rechte Hand, zwischen Daumen und Zeigefinger, und ließ nicht mehr los.“ (S. 13) Bemerkenswert ist die Reaktion sowohl des Pastors als auch der Gemeinde. Der Pastor betet: „Gott hat seine Engel entsandt‘, flüsterte er. ,Ich höre das Schlagen ihrer Schwingen, Molly. Gott hat seine Engel entsandt, damit sie an diesem Morgen bei Dir sind, und wir wissen nicht, ob sie hier sind, um über dich zu wachen und dich hier bei uns zu lassen, oder ob sie geschickt wurden, um dich in die Herrlichkeit seines Reiches zu tragen. Aber wir fühlen ihre Nähe, nicht wahr, und wir spüren, wie die Liebe Jesu uns in diesem Augenblick umhüllt‘ Er hob den Kopf und sah die Gemeinde an. ,Und alles Volk Gottes sprach: Amen.‘ - ,Amen‘, erwiderte die Gemeinde lautstark im Chor. Chambliss stand auf und blickte uns an, und dann blickte er auf Molly hinunter, die da lag, umgeben von all diesen Menschen, die wie wild über ihr beteten. (…) ,Und ich sage euch‘, fuhr Chambliss fort, ,es ist ein guter Tag, wenn eine von uns heimgeht. Es ist ein herrlicher Sonntagmorgen, wenn einer von uns zu Jesus gerufen wird. Halleluja!‘ . (…) Ein paar Diakone hoben Molly hoch und trugen sie durch den Mittelgang aus der Kirche, direkt an allen vorbei, aber nicht einer schien Notiz davon zu nehmen.“ (S. 15-17) Am Tag darauf wird die Witwe tot in ihrem Garten aufgefunden; sie sei, so hieß es, bei der Gartenarbeit von einer Schlange gebissen worden. Es gibt Gerüchte, aber keine polizeilichen Ermittlungen. Die fromme Hebamme Lyle freilich verlässt die Gemeinde und veranstaltet ab sofort für die Kinder einen eigenen Gottesdienst außerhalb. Der Prediger hasst sie dafür, aber er kann sie nicht hindern, ihm mindestens die Kinder zu entziehen.
Etwa 10 Jahre nach diesem Vorfall kommt es dann doch dazu, dass ein Kind die Kirche dieses Predigers betritt. Das Tabakfarmer-Ehepaar Hall hat zwei Söhne, den 13jährigen Christopher, der von Geburt an stumm ist, und den 9jährigen Jess; Jess ist derjenige, der auch als Ich-Erzähler im Buch zu Wort kommt. Die Kinder besuchen den Kindergottesdienst der Hebamme, die fromme Mutter geht in die Schlangenkirche, der Vater nicht. Doch eines Tages redet der Pastor der Mutter ein, sie solle Christopher (Spitzname ,Stump‘) mit in die Kirche bringen; der Herr könne ein Wunder wirken und ihn zum Sprechen bringen.
Denn der Pastor wittert einen bösen Geist, der Christopher habe verstummen lassen; den, so versichert er, könne er durch seine und der Gemeinde Gebete zum Ausfahren zwingen. Die Mutter, die dem Pastor gehorsam ist bis zur Hörigkeit, fügt sich und nimmt den Jungen mit in den Sonntagsgottesdienst. Wie der Zufall es will, ist Jess, der kleine Bruder von ,Stump‘, gerade an diesem Sonntag vom Kindergottesdienst ausgebüxt und kann durch einen Fensterspalt den Heilungsversuch teilweise beobachten. „Pastor Chambliss, der die Bibel in seiner schlimmen Hand hielt, trat vor, schob sich zwischen Mama und Stump und legte die andere Hand auf Stumps Kopf. Mama griff an Pastor Chambliss vorbei und berührte Stump an der Schulter, und es sah aus, als würden sie alle beten. Aber nachdem sie einen Moment so dagestanden hatten, fing Stump an, rumzuzappeln, also wollte er weg von ihnen. Pastor Chambliss stellte sich hinter ihn, die Bibel noch immer in der schlimmen Hand, und schlang diesen hässlichen Arm um Stumps Schulter, als wollte er ihn ganz fest drücken. Er hob den linken Arm, um Mama von Stump wegzuschieben, und sie nahm ihre Hand von Stumps Schulter und wich zurück, bis ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich konnte nicht mit ansehen, wie Pastor Chambliss seinen Arm um Stump gelegt hatte, und irgendwie war ich wütend auf Mama, weil sie das zuließ.“ (S. 62 f) Schließlich drücken mehrere Männer den sich heftig wehrenden Stump so fest auf den Boden, dass es der Mutter zu viel wird. „Mama brüllte so laut, dass ich es über das Klavier, über das Klimagerät und über die vielen singenden Leute hinweg hören konnte. Einen kurzen Moment vergaß ich, wo ich war, und ich schrie: ,Mama!‘, und in dem Moment riss sie eine Hand hoch über den Kopf und erwischte Mr. Thompson genau am Mund. Er ließ sie los und fasste sich mit einer Hand an die Lippe, um zu testen, ob sie blutete. Mama fiel auf die Knie und fing an, die ganzen Leute von Stump runterzuziehen, und er setzte sich blitzartig auf, und sie zog ihn an sich und wiegte ihn hin und her, und die Männer saßen auf dem Boden und glotzten Mama und Stump an, als wüssten sie nicht, was sie davon halten sollten.“ (S. 65 f) Das Verhängnis spitzt sich zu. Dieser Schrei „Mama!“ des kleinen Jess wird dem stummen Bruder zugeschrieben und als Beginn des Wunders gedeutet. Um es zu vollenden, muss Stump am Abend noch einmal in die Kirche kommen. Er will nicht, aber die Mutter setzt sich durch – oder besser: der Pastor setzt sich mit seinem Einfluss auf die Mutter durch. Beide gehen noch am gleichen Abend wieder in die Kirche; Jess will mit, darf aber nicht mit rein und muss im Auto warten. Jetzt kann er nichts beobachten. Aber am Ende ist Stump nicht geheilt, sondern tot.
Dieser Tod ruft, anders als im Fall der zehn Jahre zuvor am Schlangenbiss gestorbenen Molly Jameson, auch den ohnehin misstrauischen Sheriff auf den Plan. Er sucht den Pastor in dessen Scheune auf und besteht auf Klärung; er konfrontiert den Pastor mit der Todesart des Jungen. „Er ist an gebrochenen Rippen gestorben – drei, um genau zu sein. Eine seltsame Todesart, finden Sie nicht?‘ – ,Sollte man meinen‘, sagte Chambliss. - ,Nun ja, die gebrochenen Rippen waren nicht die eigentliche Todesursache. Laut Obduktionsbericht ist er gestorben, weil sich eine von den gebrochenen Rippen in einen Lungenflügel gebohrt hat. Das bedeutet, er ist erstickt, Pastor. Also ich weiß nicht, was ihr da in der Kirche treibt, wodurch so etwas passieren konnte, aber ich garantiere Ihnen: Es kommt am Ende alles raus. Und ich sage Ihnen, je früher es rauskommt, desto besser für alle. Wenn das Gericht und Vorladungen und Gefängnis nötig sind, um euch zum Reden zu bringen, dann sei’s drum. Aber da ist eine Familie mit einem toten Jungen, und die möchte Antworten.‘ – ,Drohen Sie mir, Sheriff?‘ – ,Ich bin am Frieden interessiert‘, sagte ich, ,und deshalb bin ich hier. Eins kann ich Ihnen versprechen, Sie werden keinen Frieden mehr haben, solange die Sache nicht geklärt ist. Aber etwas anderes kann ich Ihnen nicht versprechen, nämlich dass der Daddy von dem Jungen nicht herkommen wird, um genau wie ich nach Antworten zu suchen. Der einzige Unterschied zwischen ihm und mir ist der, dass ich verpflichtet bin, mich an die Gesetze zu halten. Ihm dagegen wird das vollkommen egal sein.“(S. 279 – 281)
Damit ist schon angedeutet, dass der Fall sich sehr unplanmäßig
entwickeln kann und wird; der Ausgang lässt wieder an eine antike Tragödie
denken. Die Einzelheiten werde ich nicht verraten, wohl aber auf eines hinweisen:
Mit „antike Tragödie“ meine ich nicht einfach, dass es blutig
zugeht, sondern dass die vorher entfalteten Beziehungsmuster das Resultat fast
unausweichlich erscheinen lassen. Die Charakterisierung der Personen nimmt in
diesem Buch viel Raum ein; zwischen den dramatischen Zuspitzungen ist das Erzähltempo
immer wieder gedrosselt, es gibt lange und ruhige Passagen der Beschreibung
von Personen und Situationen. Und bei aller Tragik in der Hauptsache gibt es
auf Nebengeleisen immer wieder überraschende Neuanfänge positiver
Beziehungen. Zum Beispiel zwischen dem kleinen Jess und seinem zuvor lange verschwundenen
Großvater. So schließt das Buch mit einem überraschend hoffnungsvollen
Ausblick der lebensklugen Hebamme Lyle:
„Es ist schön zu sehen, dass Menschen, die einmal gebrochen waren,
heilen können, dass sie sich verändern und etwas anderes werden können,
als sie waren. Das gilt auch für Kirchen. Die lebendige Kirche besteht
aus Menschen, und sie kann krank werden und zerbrechen, genau wie Menschen das
können, und manchmal können Kirchen auch sterben, wie Menschen das
können. Meine Kirche starb, aber sie starb nicht mit Carson Chambliss;
sie war schon lange vorher tot. Aber ich kann Ihnen sagen, dass sie wieder zum
Leben erwachte, sobald er nicht mehr da war. Eine Kirche kann geheilt werden,
und sie kann erlöst werden, wie Menschen erlöst werden können.
Und so ist es uns ergangen.“ (S. 343)
So endet eine Geschichte versöhnlich, die eines der bizarrsten Beispiele für christlichen Extremismus als Folie hat und zugleich deutlich macht, dass Frömmigkeit nicht nur diese Fratze trägt, sondern auch andere Gesichter hat.
Wiley Cash: Fürchtet Euch. Fischer-TB 2013. Wer mehr über „snake-handling“ erfahren will, kann den entsprechenden Wikipedia-Artikel zum Ausgangspunkt nehmen; ein weiterer Kriminalroman mit diesem Hintergrund (Ronald Levitsky, Die Klugheit der Schlangen, Rowohlt 1995) ist nur noch in Bibliotheken oder antiquarisch zu bekommen.
Zurück zur Auswahl© imprimatur Dezember 2013
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